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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
BFA-VG 2014 §21 Abs7Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des C J, vertreten durch Weh Rechtsanwalt GmbH in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. Mai 2021, I403 2242448-1/3E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der 1986 geborene Revisionswerber, ein deutscher Staatsangehöriger, weist seit August 2013 eine Hauptwohnsitzmeldung im Bundesgebiet auf. Im Mai 2014 wurde ihm eine Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmer erteilt. Bis zum Haftantritt im Juli 2018 lebte er mit seiner Lebensgefährtin, einer österreichischen Staatsbürgerin, in ihrer Wohnung.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 13. November 2017 wurde der Revisionswerber wegen mehrerer Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB, mehrerer Verbrechen der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 2 StGB, mehrerer Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs. 1 StGB sowie mehrerer Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs. 1 und 2 vierter Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Jahren verurteilt. Dem Schuldspruch lag zusammengefasst zugrunde, der Revisionswerber habe im Zeitraum von Ende 2013 bis Dezember 2016 zwei näher genannte Personen, ein deutsches Paar, durch gefährliche Drohung via elektronischer Kommunikationsmittel mit einer Verletzung ihres höchstpersönlichen Lebensbereichs zu näher beschriebenen geschlechtlichen und kompromittierenden Handlungen und zur Anfertigung von Lichtbildern und Videos davon sowie zu deren Übermittlung an ihn genötigt, indem er ankündigte, andernfalls ihre (davor an ihn zunächst einverständlich und dann zwangsweise übermittelten) Nacktbilder bzw. Fotos von geschlechtlichen Handlungen und vergleichbaren kompromittierenden Darstellungen anderen zugänglich zu machen und zu veröffentlichen, wobei der Revisionswerber eines der beiden Opfer (die betroffene Frau) zumindest ab Beginn 2016 durch die erwähnten gefährlichen Drohungen längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt habe und diese Person durch einzelne näher bezeichnete Handlungen in besonderer Weise erniedrigt worden sei.
3 Im Hinblick darauf erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 31. März 2021 gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von sechseinhalb Jahren befristetes Aufenthaltsverbot, erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub und erkannte einer allfälligen Beschwerde gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab.
4 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 31. Mai 2021 als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 In seiner Begründung stellte das BVwG die laufende Erwerbstätigkeit des Revisionswerbers bis zu seiner Inhaftnahme sowie die seit August 2012 bestehende und nach wie vor aufrechte Beziehung zu seiner Lebensgefährtin fest. Seine Eltern, zwei jüngere Geschwister sowie zwei Großmütter würden in Deutschland leben, wo der Revisionswerber im Zeitraum von Dezember 2009 bis Oktober 2013 insgesamt viermal (wegen näher beschriebener Taten) strafgerichtlich jeweils zu Geldstrafen verurteilt worden sei, davon einmal wegen eines im Mai 2010 begangenen (versuchten) Körperverletzungsdeliktes. Beim Revisionswerber sei nach den Kriterien der ISD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation) die Diagnose „sexueller Sadismus (F65.5)“ erstellt worden.
6 Rechtlich ging das BVwG - anders als das BFA - davon aus, dass der Revisionswerber aufgrund des „bereits im dritten Jahr seines Aufenthalts“ gesetzten strafrechtlichen Fehlverhaltens ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 53a NAG nicht erworben habe. Deshalb sei auf ihn nicht der vom BFA herangezogene Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG, sondern der im abgestuften System der Gefährdungsmaßstäbe darunterliegende Maßstab nach § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG anzuwenden. Aufgrund der Verwirklichung mehrerer, teils gravierender Vergehen und Verbrechen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung von zwei Personen mit überaus hohem Gesinnungsunwert über einen langen Tatzeitraum stelle das Verhalten des Revisionswerbers angesichts einer hohen Rückfallwahrscheinlichkeit bei Sexualdelikten allerdings nicht nur eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft gemäß § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG berühre, sondern es erfülle - so das BVwG „der Vollständigkeit halber“ - darüber hinaus auch den höheren Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG. Der in Strafhaft befindliche Revisionswerber habe zwar seit Mai 2017 freiwillig und regelmäßig sowohl vor als auch während der Haft psychotherapeutische Behandlungen in Anspruch genommen, doch sei der Wegfall der Gefährlichkeit erst durch einen längeren Zeitraum des Wohlverhaltens in Freiheit unter Beweis zu stellen. Den mit der Verhängung des Aufenthaltsverbotes verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers erachtete das BVwG als verhältnismäßig und ging dabei im Wesentlichen davon aus, dass die Trennung von seiner Lebensgefährtin und Schwierigkeiten bei der künftigen Gestaltung der Lebensverhältnisse im öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit, insbesondere des hohen Interesses am Schutz der körperlichen und der sexuellen Integrität anderer Personen, in Kauf zu nehmen seien.
7 Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, dass der maßgebliche Sachverhalt vom BFA abschließend ermittelt worden sei und auch ein positiver persönlicher Eindruck vom Revisionswerber in einer mündlichen Verhandlung zu keinem anderen Ergebnis geführt hätte, weshalb kein klärungsbedürftiger Sachverhalt vorgelegen habe.
8 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 27. September 2021, E 2650/2021, ablehnte und unter einem die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
9 Die in der Folge ausgeführte außerordentliche Revision erweist sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig.
10 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
12 Unter diesem Gesichtspunkt macht der Revisionswerber zunächst geltend, dass das BVwG zu Unrecht von der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung abgesehen habe.
13 § 21 Abs. 7 BFA-VG erlaubt jedoch das Unterbleiben einer Verhandlung trotz deren ausdrücklicher Beantragung, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Aus dieser Regelung ergibt sich, dass die Unterlassung einer Verhandlung nur dann einen relevanten, zur Aufhebung führenden Verfahrensmangel begründet, wenn ein entscheidungswesentlicher Sachverhalt klärungsbedürftig ist; dieser ist in der Revision darzutun. Richtig ist, dass der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang auch wiederholt darauf hingewiesen hat, bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen komme der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. In eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann allerdings eine Verhandlung unterbleiben (vgl. etwa VwGH 8.6.2021, Ra 2020/21/0211, Rn. 19, mwN).
14 Von einem derartigen eindeutigen Fall durfte das BVwG - entgegen der Meinung in der Revision - in Anbetracht der dargestellten Umstände vertretbar ausgehen. Im Hinblick darauf, dass der Revisionswerber schon nach kurzer Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet eine vom BVwG aufgrund des langen Tatzeitraumes und der hohen Sozialschädlichkeit zu Recht als gravierend gewürdigte Straftat begangen hat, ist nämlich sowohl die Annahme, dass das Verhalten des Revisionswerbers eine Gefahr iSd § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG, aber auch iSd § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG darstelle, als auch die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG nicht zu beanstanden.
15 Soweit der Revisionswerber in diesem Zusammenhang auf seine positive persönliche Entwicklung durch Resozialisierungsbemühungen und die Inanspruchnahme einer Psychotherapie während des gesamten Strafvollzuges verweist, ist für ihn daraus nichts zu gewinnen. Wie bereits das BVwG dargelegt hat, ist nämlich nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Annahme eines Wegfalls der sich durch das bisherige Fehlverhalten manifestierten Gefährlichkeit eines Fremden - auch nach Absolvierung einer Therapie - in erster Linie das gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich (vgl. etwa VwGH 7.10.2021, Ra 2021/21/0289, Rn. 12, mwN). Entgegen der Meinung in der Revision war das BVwG deshalb auch nicht zur Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens verpflichtet, weil selbst ein so festgestellter Gesinnungswandel, der nicht seine Entsprechung in einem - einen relevanten Zeitraum umfassenden - Wohlverhalten gefunden hat, für die Annahme des Wegfalls der Gefährdung nicht ausreicht (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung zuletzt VwGH 5.8.2021, Ra 2021/21/0213, Rn. 20, mwN). Daher vermag auch der in der Revision hervorgehobene Umstand, dass der Revisionswerber - wie aber auch schon während des ihm angelasteten Tatzeitraums - über einen festen Wohnsitz, eine Lebensgefährtin sowie über einen fixen Arbeitsplatz für die Zeit nach der Haftentlassung verfüge, an der aktuell negativen Zukunftsprognose nichts zu ändern.
16 Was die in diesem Zusammenhang auch geltend gemachte vorzeitige bedingte Haftentlassung des Revisionswerbers nach Verbüßung von zwei Drittel der Strafe mit 19. November 2021 anbelangt, handelt es sich zunächst um eine im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof unzulässige und somit unbeachtliche Neuerung. Außerdem ist dieses Vorbringen schon deshalb nicht zielführend, weil nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Fehlverhalten eines Fremden und die daraus abzuleitende Gefährlichkeit ausschließlich aus dem Blickwinkel des Fremdenrechts, also unabhängig von gerichtlichen Erwägungen über bedingte Strafnachsichten oder eine bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug, zu beurteilen ist (vgl. etwa VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0305, Rn. 9, mwN).
17 Schließlich wendet sich die Revision gegen die Heranziehung des Gefährdungsmaßstabes nach § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG, lässt aber unbeachtet, dass das BVwG nicht nur diesen Maßstab, sondern im Wege einer Eventualbegründung auch den im abgestuften System der Gefährdungsprognosen darüber liegenden Maßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG im vorliegenden Fall - zu Recht (siehe schon oben in Rn. 14) - als erfüllt angesehen hat (zum „Stufenbau“ der Gefährdungsprognosen betreffend aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen EWR-Bürger siehe etwa VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0511, Rn. 12, mwN). Daher bedurfte die Frage, welcher der genannten Gefährdungsmaßstäbe heranzuziehen ist, entgegen dem Revisionsvorbringen jedenfalls auch keiner Erörterung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung.
18 Schließlich bieten die Revisionsausführungen auch keinen genügenden Anlass, dass der Verwaltungsgerichtshof von seiner ständigen Judikatur zur (jedenfalls gegenüber dem Verurteilten bestehenden) Bindungswirkung von Strafurteilen abgeht (vgl. dazu im gegebenen Zusammenhang etwa VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0138, Rn. 10, u.a. mit dem Hinweis auf VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0288, Rn. 9, mwN).
19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Sie war daher ohne weiteres Verfahren gemäß § 34 Abs. 1 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.
20 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 21. Dezember 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210333.L00Im RIS seit
14.02.2022Zuletzt aktualisiert am
24.02.2022