TE OGH 2021/12/14 2Ob83/21a

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Veröffentlicht am 14.12.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* Z*, vertreten durch Mag. Robert Stadler, Rechtsanwalt in Gallneukirchen, gegen die beklagte Partei F* H*, vertreten durch Kammler & Koll Rechtsanwälte OG in Freistadt, wegen 472.157,71 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 11. Februar 2021, GZ 1 R 5/21t-45, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Linz vom 6. November 2020, GZ 5 Cg 38/19m-41, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.141,36 EUR (darin 523,56 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]            Der Kläger ist der Sohn, der Beklagte ist der Bruder des am 14. 3. 2018 verstorbenen J* H*. Mit Testament vom 23. 9. 2016 hatte der Verstorbene den Beklagten zum Alleinerben bestimmt und den Kläger auf den halben Pflichtteil verwiesen. Außerdem hatte er dem Beklagten mit Übergabs- und Schenkungsvertrag vom 6. 9. 2017 ua seine landwirtschaftlich genutzte Liegenschaft übertragen. Diese Liegenschaft ist „für sich alleine gesehen“ kein Erbhof im Sinne des Anerbengesetzes. Mit Pachtvertrag vom 28. 10. 2010 hatte die Ehefrau des Beklagten die Liegenschaft des Erblassers gepachtet, die in der Nähe einer im Miteigentum des Beklagten und seiner Ehefrau stehenden Liegenschaft gelegen ist. Beide Liegenschaften zusammen würden die Voraussetzungen eines Erbhofs erfüllen. Am 5. 6. 2018 wurde die Verlassenschaft dem Beklagten eingeantwortet.

[2]            Der Kläger entstammt einer etwa einjährigen Beziehung seines Vaters mit seiner Mutter. Er war als Kind oft bei seinem Vater und verbrachte die Hälfte seiner Ferien bei ihm. Auch während des Zivildienstes nach der Matura im Jahr 2003 besuchte er seinen Vater wiederholt. Als er dann zu arbeiten begann und seine spätere Ehefrau kennenlernte, hatte er nur mehr sporadisch mit dem Vater Kontakt, vorwiegend im Sommer, wo er auch in dessen Landwirtschaft aushalf. Im Jahr 2005 oder 2006 heiratete der Kläger, der Vater nahm an der Hochzeit teil. Danach verringerten sich die Kontakte. Der Kläger zog in der Folge nach Linz, wohin er den Vater zweimal einlud. Danach gab es nur noch maximal fünf Mal im Jahr telefonische Kontakte. Schließlich zog der Kläger berufsbedingt nach Wien. Ab dem Jahr 2008 brach der Kontakt zum Vater völlig ab, der Kläger gab ihm weder eine Telefonnummer noch seine neue Adresse bekannt und unterrichtete ihn auch nicht von der Geburt seiner drei Kinder. Der Grund für den Kontaktabbruch lag nicht in einem Streit, sondern einerseits in der „familiären Seite der Ehefrau des Klägers“ und andererseits in der Persönlichkeit des Vaters, der seit Jahren an depressiven Zuständen und Wahnvorstellungen litt, deshalb in psychiatrischer Behandlung war und letztlich einen Sachwalter bestellt bekam. Der Kläger war mit der psychischen Erkrankung seines Vaters überfordert und initiierte daher keine weiteren Kontakte, worüber sich der Vater seinen Geschwistern gegenüber beklagte. Der Kläger war der Begünstigte einer Ablebensversicherung des Vaters.

[3]            Der Kläger akzeptierte seine testamentarische Verweisung auf den halben Pflichtteil nicht und machte seinen vollen Pflichtteil beim Beklagten schriftlich geltend, der ihm 79.372,29 EUR bezahlte. In der Folge klagte er den seiner Ansicht nach weiter offenen Pflichtteil in einem Vorverfahren ein und stellte ein auf Feststellung dieses Pflichtteils gerichtetes Eventualbegehren. Das damalige Erstgericht wies das gesamte Klagebegehren mit der Begründung ab, dass § 765 Abs 2 ABGB nF eine Klagssperre für die Dauer eines Jahres ab dem Tod des Erblassers bewirke. Der Kläger ließ die Abweisung des auf Zahlung gerichteten Hauptbegehrens in Rechtskraft erwachsen und bekämpfte lediglich die Abweisung des Eventualbegehrens, die vom Berufungsgericht bestätigt wurde. Der dagegen erhobenen Revision wurde vom Obersten Gerichtshof zu 2 Ob 49/19y nicht Folge gegeben.

[4]            Mit seiner nunmehrigen Klage machte der Kläger – nach Verstreichen der Jahresfrist des § 765 Abs 2 ABGB – erneut seinen Pflichtteilsanspruch geltend, den er unter Hinzurechnung (ua) des Verkehrswerts der dem Beklagten geschenkten Liegenschaft und Berücksichtigung der an ihn bereits erfolgten Zahlung mit 472.157,71 EUR bezifferte. Es stehe ihm der volle Pflichtteil zu.

[5]            Der Beklagte wandte res iudicata ein. In der Sache bestritt er insbesondere die der Berechnung des Pflichtteils zugrundeliegenden Wertannahmen des Klägers, vor allem deshalb, weil die übergebene Liegenschaft nicht mit dem Verkehrswert, sondern als Erbhof mit dem Übernahmspreis zu bewerten sei. Weiters berief er sich auf die angesichts des Kontaktabbruchs durch den Kläger berechtigte Pflichtteilsminderung sowie die bereits erfolgte vollständige Befriedigung des Pflichtteilsanspruchs des Klägers auf Basis der tatsächlichen Werte.

[6]            Das Erstgericht verneinte in den Entscheidungsgründen das Vorliegen von res iudicata, weil die Abweisung im Vorprozess lediglich aus formalen Gründen erfolgt sei. Im Übrigen gab es dem Klagebegehren mit 416.533,52 EUR sA statt und wies das Mehrbegehren von 55.624,19 EUR sA ab. Damit sprach es dem Kläger den sich aus den festgestellten Werten des Nachlasses und der Vorempfänge des Beklagten ergebenden vollen Pflichtteil zu. Ein „längerer Zeitraum“ des fehlenden Naheverhältnisses iSd § 776 Abs 1 ABGB liege hier nicht vor. Die übergebene Liegenschaft sei für sich alleine kein Erbhof, sondern nur zusammen mit der auf einer im Miteigentum des Beklagten und seiner Ehefrau stehenden Liegenschaft betriebenen Landwirtschaft. Sie sei daher mit ihrem Verkehrswert zu bewerten. Die bezogene Lebensversicherung sei der Verlassenschaft nicht hinzuzuzählen und daher bei der Pflichtteilsberechnung nicht zu berücksichtigen.

[7]            Das nur vom Beklagten angerufene Berufungsgericht verneinte in den Entscheidungsgründen wie bereits das Erstgericht das Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Sache. Im Übrigen änderte es mit Teilurteil die erstinstanzliche Entscheidung dahingehend ab, dass es den Zuspruch an den Kläger auf 408.222,74 EUR sA verringerte. Im Umfang eines Teilbegehrens von 8.310,78 EUR sA hob es die Entscheidung zur Verfahrensergänzung auf. Es sprach aus, dass (nur) die ordentliche Revision zulässig sei.

[8]            Das Berufungsgericht teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts betreffend das Nichtvorliegen eines ausreichend lange fehlenden Naheverhältnisses für eine Pflichtteilsminderung nach § 776 ABGB. Zu Recht habe das Erstgericht auch den Verkehrswert der geschenkten Liegenschaft und nicht bloß den Übernahmspreis berücksichtigt. Lediglich zur Beurteilung der vom Beklagten begehrten Hinzu- und Anrechnung der Lebensversicherungssumme fehlten noch Feststellungen, weshalb das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben sei.

[9]            Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision gegen das Teilurteil zu, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, was unter einem „längeren Zeitraum“ iSd § 776 Abs 1 ABGB zu verstehen sei.

[10]           Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten mit dem Antrag, das Klagebegehren wegen entschiedener Sache „ab/zurückzuweisen“ und hilfsweise, ihm in mehreren näher dargestellten, auf unterschiedlichen Berechnungen beruhenden geringeren Umfängen stattzugeben. Er meint, dass die übergebene Liegenschaft auch dann als Erbhof zu qualifizieren sei, wenn sie diese Eigenschaft erst zusammen mit der Liegenschaft des Beklagten und seiner Ehefrau erreiche. In der Frage der Pflichtteilsminderung sei jeweils auf den Einzelfall abzustellen. Im Falle des Klägers sei der Kontaktabbruch kurz nach Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 2003 anzunehmen, seit damals habe es keinen Kontakt zum Verstorbenen gegeben, der dem üblichen Verhältnis zwischen Vater und Sohn entsprochen hätte. Selbst wenn man nur von einem zehnjährigen Kontaktabbruch seit dem Jahr 2008 ausginge, sei die Pflichteilsminderung gerechtfertigt.

[11]           Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12]           Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

[13]           1. Mit seinem Vorbringen zum Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Streitsache übersieht der Beklagte, dass beide Vorinstanzen sich mit dieser Einrede ausdrücklich auseinandergesetzt und in den Entscheidungsgründen ihrer Urteile das Vorliegen des Prozesshindernisses übereinstimmend verneint haben.

[14]           1.1. Nach ständiger Rechtsprechung können Prozesshindernisse in höherer Instanz nicht mehr wahrgenommen werden, wenn dem eine noch bindende Entscheidung entgegensteht. Diese in § 42 Abs 3 JN insbesondere für die Unzulässigkeit des Rechtswegs normierte Rechtsfolge gilt nach Lehre und Rechtsprechung für alle Prozesshindernisse (RS0046234; zur Einrede der entschiedenen Sache RS0114196 [T3 und T6], zuletzt 3 Ob 4/18m).

[15]           1.2. Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung ist für eine bindende Entscheidung über eine Prozessvoraussetzung iSd § 42 Abs 3 JN nicht erforderlich, dass das Gericht über ihr Vorliegen ausdrücklich und spruchmäßig entschieden hat (2 Ob 131/19g; RS0114196; aA noch RS0039857; RS0039811). Zwar wird eine bloß implizite Bejahung der Prozessvoraussetzung durch meritorische Behandlung als nicht ausreichend erachtet, sehr wohl aber eine bindende Entscheidung dann angenommen, wenn das Gericht sich mit dem Vorliegen der Prozessvoraussetzung in den Entscheidungsgründen auseinandergesetzt hat. Deshalb liegt auch im vorliegenden Fall bereits eine den Obersten Gerichtshof gemäß § 42 Abs 3 JN iVm § 528 Abs 2 Z 2 ZPO bindende Entscheidung vor, sodass das neuerliche Aufrollen dieser Frage ausgeschlossen ist (vgl RS0046249 [T1]).

2. Zum „längeren Zeitraum“ iSd § 776 Abs 1 ABGB idF ErbRÄG 2015:

[16]           2.1. Gemäß § 776 Abs 1 ABGB kann der Verfügende den Pflichtteil letztwillig auf die Hälfte mindern, wenn er und der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit oder zumindest über einen längeren Zeitraum vor dem Tod des Verfügenden nicht in einem Naheverhältnis standen, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht.

[17]           2.2. Die Materialien (ErläutRV 668 BlgNR 25. GP 30 f) führen dazu aus, nach der bisher bestehenden Regelung des § 773a ABGB sei Voraussetzung für die Pflichtteilsminderung gewesen, dass zwischen dem Verstorbenen und dem Pflichtteilsberechtigten niemals ein „Naheverhältnis“ bestanden habe, wie es zwischen solchen Verwandten üblich wäre. Diese mit dem ErbRÄG 1989 eingeführte Reduktionsmöglichkeit erscheine heute zu restriktiv. Sie solle Vorschlägen aus der Lehre folgend auch dann eingeräumt werden, wenn das gemeinsame Familienleben bereits seit längerer Zeit vor dem Tod des Verstorbenen geendet habe. Im Allgemeinen werde eine solche nachhaltige die Pflichtteilsminderung rechtfertigende Entfremdung gegeben sein, wenn zwischen dem Verstorbenen und dem Pflichtteilsberechtigten seit wenigstens zwei Jahrzehnten kein Kontakt mehr bestanden habe, wie er zwischen solchen Angehörigen üblich sei. Für den Ausschluss eines „Naheverhältnisses“ zwischen den beiden sei weiterhin darauf abzustellen, ob sie ein Mindestmaß an menschlichem Kontakt gehabt hätten. Es solle objektiv auf das Verhältnis zwischen dem Verstorbenen und dem Pflichtteilsberechtigten während des längeren Zeitraums (zumindest zwanzig Jahre) vor dem Tod des Verstorbenen ankommen. Den etwa von Welser (Reform des Erbrechts 114 f) geäußerten Bedenken, wonach das Pflichtteilsrecht hauptsächlich auf Familie und Verwandtschaft beruhe und nicht so sehr auf dem Vorliegen einer „Verantwortungsgemeinschaft“, solle ausreichend dadurch Rechnung getragen werden, dass der Pflichtteil bei bloßem Fehlen eines Naheverhältnisses nicht zur Gänze entzogen, sondern nur um die Hälfte gemindert werden könne.

2.3. In der Lehre werden unterschiedlichste Meinungen verteten:

[18]           2.3.1. Ein Teil folgt der in den Erläuterungen vertretenen Auffassung, wonach ein Zeitraum von zwanzig Jahren als dieser „längere Zeitraum“ anzusehen sei (Barth/Dokalik/Potyka, ABGB [MTK]26 Anm zu § 776 ABGB; Kathrein, Das neue Erbrecht, EF-Z 2016/2, 4 [13 f]; Barth, Das neue Pflichtteilsrecht – Die Änderungen durch das ErbRÄG 2015 im Überblick, iFamZ 2015, 237 [240]; ders in Barth/Pesendorfer, Praxishandbuch des neuen Erbrechts 189).

[19]           Auch Pesendorfer (in Barth/Pesendorfer, Praxishandbuch des neuen Erbrechts 27) hält einen Zeitraum von zwanzig Jahren als Voraussetzung für eine Pflichtteilsminderung für erforderlich und meint, dass deshalb ein noch längerer Zeitraum für Erbunwürdigkeit anzusetzen sei. Dem folgen etwa auch Apathy/Neumayr (in KBB6 §§ 539–541 Rz 8).

[20]           2.3.2. Einem anderen Teil der Lehre erscheint der genannte Zeitraum zu lang.

[21]           Verweijen (Zur Pflichtteilsminderung nach § 776 ABGB nF, EF-Z 2017/46, 112 [113]) möchte mit Berufung auf den Ministerialentwurf (100/ME 25. GP 28 f) bereits zehn Jahre bzw zwischen Ehegatten auch eine kürzere Entfremdungszeit ausreichen lassen. Auch § 541 Z 3 ABGB stütze diese Wertung.

[22]           Rabl (Erbrechtsreform 2015 – Pflichtteilsrecht neu, NZ 2015/107, 321 [329 f]) lässt – ohne nähere Spezifizierung – „wenige Jahre“ ausreichen, weil eine lange Frist einen Normenwiderspruch zu § 770 Z 5 ABGB provoziere, der die gröbliche Vernachlässigung der familienrechtlichen Pflichten gegenüber dem Erblasser als Enterbungstatbestand und damit als Grund für die Entziehung des gesamten Pflichtteils normiere.

[23]           Ebenso halten Bittner/Hawel (in Klete?ka/Schauer, ABGB-ON1.05 § 776 Rz 2) zwanzig Jahre im Hinblick auf § 770 Z 5 ABGB für zu lang.

[24]           Zöchling-Jud (in Rabl/Zöchling-Jud, Erbrecht 87 f) meint, dass der Bestimmung des § 776 Abs 1 ABGB bei einer Frist von zwanzig Jahren zwischen Ehegatten und eingetragenen Partnern jeglicher Anwendungsbereich genommen werde, und hält ebenfalls die Abgrenzung zur Erbunwürdigkeit und Enterbung für problematisch. Eine systematische Auslegung führe wohl zu dem Ergebnis, dass der Erbunwürdigkeits- oder Enterbungsgrund nur bei noch längerer Kontaktablehnung erfüllt sei, womit er aber weitgehend ohne praktische Relevanz bleiben würde.

[25]           Perner/Spitzer/Kodek (Bürgerliches Recht6 619) halten zwanzig Jahre für einen „recht langen längeren Zeitraum“ und verweisen ebenfalls darauf, dass dann oft schon der Enterbungsgrund des § 770 Z 5 ABGB vorliegen werde, sodass viel dafür spreche, das Minderungsrecht schon früher eingreifen zu lassen.

[26]           2.3.3. Dagegen betont Eccher (Erbrechtsreform §§ 539–541 Rz 20) die unterschiedlichen Tatbestandsvoraussetzungen in § 770 Z 5 ABGB sowie § 541 Z 3 ABGB einerseits und § 776 ABGB andererseits. Es dürfe nicht übersehen werden, dass § 776 ABGB ein negatives Tatbestandsmerkmal beim Verstorbenen umschreibe, während in § 770 Z 5 ABGB das Verhalten des Pflichtteilsberechtigten sanktioniert werde.

[27]           Gitschthaler (Erbunwürdigkeit/Enterbung bei Vernachlässigung familienrechtlicher Pflichten, EF-Z 2018/51, 108 [113]) verneint einen Wertungswiderspruch im Wesentlichen mit der Begründung, dass einer – für die Enterbung nötigen – grundlosen Kontaktverweigerung ein Unwert innewohne, der schon einen geringeren Zeitraum ausreichen lassen könne, als er für die Pflichtteilsminderung erforderlich sei. Diese sei auch dann zulässig, wenn schlicht, und zwar auch schuldlos, kein Kontakt bestanden habe.

[28]           Binder/Giller (in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht und Vermögensnachfolge2 § 9 Rz 43 f) argumentieren dahin, dass die Materialien zur Erbunwürdigkeit auf einer Fehlvorstellung hinsichtlich des bisherigen Verständnisses dieses Erbunwürdigkeitsgrundes beruhten und das Verhältnis zu § 776 ABGB übersähen. Die grundlose Kontaktablehnung per se, ohne dass dadurch auch eine rechtliche Pflicht verletzt werde, solle daher nicht zur Begründung der Erbunwürdigkeit hinreichen.

[29]           2.3.4. Ein weiterer Teil der Lehre vertritt die Meinung, dass nicht auf eine starre Zeitspanne abgestellt werden könne, sondern die jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen seien, wobei im Rahmen eines beweglichen Systems auch auf die Intensität der Nahebeziehung Bedacht zu nehmen sei (Entleitner, Die Pflichtteilsminderung nach dem ErbRÄG 2015, Zak 2018/195, 104; ebenso Zankl, Erbrecht9 Rz 103). Je intensiver das Naheverhältnis gewesen sei, desto länger müsse es nicht mehr bestanden haben, damit die Pflichtteilsminderung zulässig sei.

[30]           2.3.5. Schließlich geben Welser (Erbrechts-Kommentar § 776 Rz 6) sowie Nemeth (in Schwimann/Neumayr, ABGB-TaKom5 § 776 Rz 4) und Likar-Peer in Ferrari/Likar-Peer (Erbrecht2 Rz 10.82) ohne eigene Stellungnahme die Lehrmeinungen wieder.

[31]           2.4. Bei der Beurteilung der Frage, wann ein „längerer Zeitraum“ iSd § 776 Abs 1 ABGB vorliegt, ist zu bedenken, dass der Gesetzgeber die davor normierte Reduktionsmöglichkeit des Pflichtteils als zu restriktiv erachtete und er sie auch dann einräumen wollte, wenn das gemeinsame Familienleben bereits seit längerer Zeit vor dem Tod des Verstorbenen geendet hatte. Diesen Zeitraum konkretisieren die Materialien ausdrücklich zweimal mit „zumindest zwanzig Jahren“ bzw „wenigstens zwei Jahrzehnten“. Angesicht der Tatsache, dass das hier zu beurteilende Eltern-Kind-Verhältnis bei typisierender Betrachtung über Jahrzehnte andauert und mit dem fehlenden Naheverhältnis über einen „längeren Zeitraum“ die gleichen Rechtsfolgen verbunden sind wie mit einem niemals bestehenden Naheverhältnis, erscheint dieser Zeitraum – verglichen zu einem kürzeren – im Regelfall systemgerechter.

[32]           2.5. Soweit insbesondere Verweijen (EF-Z 2017/46, 112 [113]) mit Berufung auf den Ministerialentwurf für eine zehnjährige Frist plädiert, ist dem entgegenzuhalten, dass gerade dieser Teil des Ministerialentwurfs weder in der Regierungsvorlage beibehalten noch Gesetz wurde.

[33]           Auch für die Anwendung eines „beweglichen Systems“, wie von einem Teil der Lehre vorgeschlagen wird, fehlen jegliche Anhaltspunkte sowohl im Gesetz als auch in den Materialien.

[34]           2.6. Die für einen kürzeren Zeitraum weiters angeführten rechtlichen Argumente beziehen sich vorwiegend auf das Verhältnis der Pflichtteilsminderung zum gänzlichen Entfall des Pflichtteils wegen Erbunwürdigkeit gemäß § 541 Z 3 ABGB sowie wegen Enterbung gemäß § 770 Z 5 ABGB. Diese Bestimmungen stellen jeweils auf eine „gröbliche Vernachlässigung“ der aus dem Eltern-Kind-Verhältnis entspringenden bzw sonstigen familienrechtlichen Pflichten gegenüber dem Verstorbenen ab.

[35]           2.7. Das hier zu beurteilende Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist ein von der Rechtsordnung anerkanntes, grundrechtlich abgesichertes Rechtsverhältnis, das auch das Streben nach persönlichem Kontakt erfasst und lebenslang andauert (zuletzt 2 Ob 180/17k; RS0047754; RS0125603). Aus den zwischen Eltern und Kindern bestehenden wechselseitigen Beistandspflichten nach § 137 Abs 2 ABGB, der auch für volljährige Kinder gilt, kann sich eine Verpflichtung zum persönlichen Kontakt ergeben (RS0009634), wobei es sich um eine lex imperfecta handelt, weil unmittelbare Sanktionen nur im Unterhaltsrecht und Pflichtteilsrecht bestehen (2 Ob 180/17k; RS0115480).

[36]           Dementsprechend enthalten die Materialien (ErläutRV 668 BlgNr 25. GP 6) als Beispiel für eine gröbliche Vernachlässigung iSd § 541 Z 3 ABGB die grundlose Ablehnung jeglichen Kontakts eines Kindes oder Elternteils über einen „sehr langen Zeitraum“, was die von Teilen der Lehre vorgenommene Unterscheidung zum „längeren Zeitraum“ des § 776 Abs 1 ABGB nach der Dauer der Kontaktlosigkeit grundsätzlich stützt.

[37]           2.8. Die Normen des § 541 Z 3 ABGB und des § 770 Z 5 ABGB verpönen aber nicht jede Vernachlässigung von Rechtspflichten, sondern nur eine „gröbliche“. Das deutet darauf hin, dass diese gröbliche Vernachlässigung die Verletzung des Rechtsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern voraussetzt und nicht mit dem (bloßen) Fehlen eines Naheverhältnisses identisch ist (vgl Welser, Erbrechts-Kommentar § 541 Rz 7). Es bedarf vielmehr eines vorsätzlichen (so Welser aaO; nach Gitschthaler, EF-Z 2018, 108 [111] eines grob fahrlässigen) Verhaltens, das eine gewichtige Pflichtverletzung sein muss (vgl dazu auch Apathy/Neumayr in KBB6 §§ 539–541 Rz 8 mwN). Voraussetzung für diese Tatbestände ist daher im Sinne der oben zitierten Ausführungen von Gitschthaler (EF-Z 2018/51, 108 [113]), denen sich der Senat anschließt, dass mit der Pflichtverletzung in Form der Kontaktverweigerung ein Unwert (grundlose Ablehnung) verbunden ist, wohingegen bei der Pflichtteilsminderung nur auf das Verstreichen eines bestimmten Zeitraums abgestellt wird, sie also auch dann zulässig ist, wenn schlicht (zB auch schuldlos) kein Kontakt bestand. Entscheidendes Unterscheidungsmerkmal ist somit das Fehlen bzw das Hinzutreten eines Unwerts, der eine gänzliche Pflichtteilsentziehung rechtfertigen kann, weshalb dafür keineswegs notwendig ein noch längerer Zeitraum als zwanzig Jahre vorliegen muss, um einen Wertungswiderspruch zu vermeiden.

2.9. Zwischenergebnis:

[38]           Für die Verwirklichung eines für die Pflichtteilsminderung erforderlichen „längeren Zeitraums“ iSd § 776 Abs 1 ABGB bedarf es im Eltern-Kind-Verhältnis im Regelfall des Verstreichens eines Zeitraums von mindestens zwanzig Jahren.

[39]           Dieser Zeitraum wird hier nicht erreicht, sodass dem Kläger der volle Pflichtteil zusteht. Besondere Umstände, aufgrund derer ausnahmsweise eine kürzere Frist ausreichen könnte, sind hier nicht erkennbar.

3. Kein Erbhof:

[40]           Wohl kann im Pflichtteilsprozess in analoger Anwendung der höferechtlichen oder anerbenrechtlichen Grundsätze anstelle des Verkehrswerts des schon zu Lebzeiten übergebenen Hofes ein niedrigerer, den Hofübernehmer begünstigender Übernahmspreis festgesetzt werden (RS0017994; RS0012934). Voraussetzung hiefür ist aber die hypothetische Qualifikation des übergebenen Guts als Erbhof (4 Ob 46/05a; 6 Ob 37/02p). Dem steht hier die gegenteilige Feststellung der Vorinstanzen entgegen.

[41]           Dass die übergebene Liegenschaft gemeinsam mit der vom Übernehmer bereits besessenen Liegenschaft einen Erbhof bilden mag, ändert daran nichts, weil es im vorliegenden Kontext lediglich auf die übergebene Liegenschaft und deren Wert ankommt. War diese aber kein Erbhof (hier: iSd § 1 AnerbenG), kommen dem Beklagten auch nicht dessen bewertungsrechtliche Vorteile zu.

[42]           4. Der Revision ist daher insgesamt der Erfolg zu versagen.

[43]     5. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO (RS0035972).

Textnummer

E133818

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00083.21A.1214.000

Im RIS seit

14.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.02.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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