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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §55Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des A G in P, vertreten durch Dr. Christian Supper, Rechtsanwalt in 7210 Mattersburg, Brunnenplatz 5b, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 2020, W209 2180328-1/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes A) III. und insoweit dem Revisionswerber damit der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ erteilt wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 24. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 29. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des Bescheides als unbegründet ab (Spruchpunkte A.I. und A.II.). Hinsichtlich Spruchpunkt III. des Bescheides gab das BVwG der Beschwerde insoweit statt, als es feststellte, „dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist“, und dem Revisionswerber „[g]emäß § 54 Abs. 1 Z 2 und Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 [...] der Aufenthaltstitel ‚Aufenthaltsberechtigung‘ in der Dauer von zwölf Monaten“ erteilt wurde (Spruchpunkt A.III.).
Das BVwG sprach unter einem aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
4 Begründend hielt das BVwG - soweit im gegenständlichen Revisionsverfahren von Relevanz - fest, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber einen unverhältnismäßigen Eingriff in dessen Recht auf Privatleben gemäß Art. 8 EMRK darstellen würde. Der Revisionswerber habe intensive Integrationsbemühungen vorweisen können. Er verfüge unter anderem über einen Pflichtschulabschluss. Er habe jedoch „keinen Nachweis zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung erbracht [und] insbesondere kein Zeugnis über die Absolvierung der Integrationsprüfung [vorgelegt]“. Somit sei dem Revisionswerber „eine ‚Aufenthaltsberechtigung‘ gemäß § 55 Abs. 1 iVm Abs. 2 AsylG 2005“ zu erteilen gewesen.
5 Mit der vorliegenden außerordentlichen Revision wird Spruchpunkt A.III. dieses Erkenntnisses dahingehend angefochten, dass dem Revisionswerber „lediglich der Aufenthaltstitel ‚Aufenthaltsberechtigung‘ für die Dauer von 12 Monaten erteilt wurde.“
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber - nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit vorgebracht, es sei im vorliegenden Fall zu Unrecht der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 erteilt worden. Das BVwG habe die Rechtslage insofern verkannt, als es davon ausgegangen sei, dass der Revisionswerber keinen Nachweis zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG) erbracht habe. Nach dieser Bestimmung beinhalte die Erfüllung des Moduls 2 gemäß § 10 Abs. 2 Z 5 IntG nämlich das Modul 1. Der Revisionswerber erfülle die Voraussetzungen des Moduls 2, indem er im November 2018 den österreichischen Pflichtschulabschluss erlangt habe. Dies sei vom BVwG - in Folge entsprechender Zeugnisvorlage - auch festgestellt worden.
Gemäß § 55 AsylG 2005 hätte dem Revisionswerber bei Erfüllung der Voraussetzungen des Moduls 1 und - im angefochtenen Erkenntnis vorgenommener - „positive[r] Prüfung gemäß Art. 8 EMRK“ der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt werden müssen.
8 Die Revision erweist sich aus diesem Grund als zulässig und auch als berechtigt.
9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 - sei es als „Aufenthaltsberechtigung“ oder als „Aufenthaltsberechtigung plus“ - jedenfalls voraus, dass dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens des im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist (vgl. VwGH 17.4.2020, Ra 2019/21/0251 bis 0253, mwN).
Davon ist in Hinblick auf die Feststellungen des BVwG nach § 9 Abs. 3 BFA-VG im vorliegenden Fall auszugehen (wobei derartige Feststellungen bei Stattgebung eines Antrags nach § 55 AsylG 2005 im Gesetz gar nicht vorgesehen sind, siehe erneut VwGH Ra 2019/21/0251 bis 0253).
10 Erfüllt der Drittstaatsangehörige überdies das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG oder übt er zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze nach § 5 Abs. 2 ASVG erreicht wird, so ist nach dem ersten Absatz des § 55 AsylG 2005 eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ auszustellen, andernfalls nach dem zweiten Absatz dieser Bestimmung nur eine „Aufenthaltsberechtigung“, mit der (auf beschäftigungsrechtlicher Ebene) ein geringerer Berechtigungsumfang verbunden ist (vgl. nochmals VwGH Ra 2019/21/0251 bis 0253).
11 §§ 9 und 10 Integrationsgesetz - IntG lauten (in der maßgeblichen Fassung BGBl. I. Nr. 42/2020) samt Überschriften auszugsweise wie folgt:
„Modul 1 der Integrationsvereinbarung
§ 9. (1) bis (3) [...]
(4) Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 vorlegt,
[...]
Die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10) beinhaltet das Modul 1.
(5) bis (7) [...]
Modul 2 der Integrationsvereinbarung
§ 10. (1) [...]
(2) Das Modul 2 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 12 vorlegt,
[...]
5. einen mindestens fünfjährigen Besuch einer Pflichtschule in Österreich nachweist und das Unterrichtsfach ‚Deutsch‘ positiv abgeschlossen hat oder das Unterrichtsfach ‚Deutsch‘ auf dem Niveau der 9. Schulstufe positiv abgeschlossen hat oder eine positive Beurteilung im Prüfungsgebiet ‚Deutsch - Kommunikation und Gesellschaft‘ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBl. I Nr. 72/2012 nachweist,
(3) bis (4) [...]“
12 Die §§ 3, 6 und 7 des Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetzes lauten (in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 101/2018) samt Überschriften auszugsweise wie folgt:
„Prüfungsgebiete der Pflichtschulabschluss-Prüfung
§ 3. (1) Die Pflichtschulabschluss-Prüfung umfasst thematisch und didaktisch erwachsenengerecht abgefasste Aufgabenstellungen in folgenden Prüfungsgebieten:
1. ‚Deutsch - Kommunikation und Gesellschaft‘: Eine einstündige schriftliche Klausurarbeit und eine mündliche Prüfung;
[...]
(2) bis (3) [...]
(4) Ein Prüfungsgebiet gemäß Abs. 1 Z 1 bis 4 entfällt auf Antrag, wenn der Prüfungskandidat oder die Prüfungskandidatin
1. den erfolgreichen Abschluss des Unterrichtsgegenstandes oder der Unterrichtsgegenstände nachweist, der bzw. die (allenfalls auch nur zum Teil) durch die Verordnung gemäß Abs. 3 dem jeweiligen Prüfungsgebiet zugeordnet wurde bzw. wurden, oder
2. die erfolgreiche Absolvierung von Externistenprüfungen oder Teilprüfungen von Externistenprüfungen nachweist und der oder die Vorsitzende der Prüfungskommission die Gleichwertigkeit der Prüfung feststellt.
[...]
(5) [...]
Beurteilung von Teilprüfungen sowie Gesamtbeurteilung der Pflichtschulabschluss-Prüfung
§ 6. (1) Die Beurteilung der bei den einzelnen Teilprüfungen gemäß § 3 Abs. 1 Z 1 bis 4 erbrachten Leistungen hat durch den Vorsitzenden oder die Vorsitzende nach Einholen eines Beurteilungsvorschlages des Prüfers oder der Prüferin zu erfolgen. [...]
(2) [...]
(3) Die Beurteilungsstufen für die Beurteilung der bei den Teilprüfungen gemäß § 3 Abs. 1 Z 1 bis 4 erbrachten Leistungen sind: ‚Sehr gut‘, ‚Gut‘, ‚Befriedigend‘, ‚Genügend‘ und ‚Nicht genügend‘. [...]
(4) bis (5) [...]
(6) Die Gesamtbeurteilung der Pflichtschulabschluss-Prüfung hat auf ‚Bestanden‘ zu lauten, wenn - unter Außerachtlassung allenfalls entfallener Prüfungsgebiete und gemäß § 9 Abs. 6 anerkannter Teilprüfungen
1. alle Teilprüfungen gemäß § 3 Abs. 1 Z 1 bis 4 beurteilt wurden und keine Beurteilung auf ‚Nicht genügend‘ lautet und
2. im Rahmen des Prüfungsgebietes gemäß § 3 Abs. 1 Z 5 ein Portfolio vorgelegt und präsentiert wurde.
Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung / Teilprüfungszeugnis
§ 7. (1) [...]
(2) Nach erfolgreicher Ablegung aller Teilprüfungen oder nach erfolgreicher Ablegung der Pflichtschulabschluss-Prüfung an einem Prüfungstermin ist ein Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung auszustellen. Das Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung hat die Beurteilung in den einzelnen Prüfungsgebieten gemäß § 3 Abs. 1 Z 1 bis 4, die Bewertung im Prüfungsgebiet gemäß § 3 Abs. 1 Z 5, bei Entfall von Prüfungsgebieten gemäß § 3 Abs. 4 und bei Anerkennung von Prüfungsgebieten gemäß § 9 Abs. 6 einen entsprechenden Vermerk sowie die Gesamtbeurteilung zu enthalten.
(3) [...]“
13 Das BVwG, das - gestützt auf das im Zuge der mündlichen Verhandlung vorgelegte Zeugnis - die Erlangung des Pflichtschulabschlusses durch den Revisionswerber feststellte, verkannte mit seiner rechtlichen Beurteilung, wonach der Revisionswerber keinen Nachweis zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG erbracht hätte, die oben dargelegte Rechtslage.
14 Die Feststellung des Erlangens des Pflichtschulabschlusses impliziert - mangels anderweitiger Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis (§ 3 Abs. 4 Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz) - die Feststellung der Gesamtbeurteilung der Pflichtschulabschluss-Prüfung mit „Bestanden“, was wiederum voraussetzt, dass alle Teilprüfungen gemäß § 3 Abs. 1 Z 1 bis 4 Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, sohin auch die Teilprüfung im Prüfungsgebiet „Deutsch - Kommunikation und Gesellschaft“, beurteilt wurden und keine Beurteilung auf „Nicht genügend“ lautet (§ 6 Abs. 6 Z 1 Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz).
15 Folglich lässt sich dem vom BVwG festgestellten Sachverhalt die positive Beurteilung der Leistung des Revisionswerbers im Prüfungsgebiet „Deutsch - Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz entnehmen (§ 10 Abs. 2 Z 5 IntG). Hinweise darauf, dass das BVwG trotz dieser (impliziten) Feststellung davon ausgehen konnte, der Revisionswerber hätte den gemäß § 10 Abs. 2 Z 5 IntG geforderten Nachweis der positiven Beurteilung seiner Leistung im Prüfungsgebiet „Deutsch - Kommunikation und Gesellschaft“ nicht erbracht, sind nicht ersichtlich.
16 Ausgehend von der (impliziten) Feststellung des Nachweises der positiven Beurteilung der Leistung des Revisionswerbers im Prüfungsgebiet „Deutsch - Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung liegen die Voraussetzungen für die Erfüllung des Moduls 2 der Integrationsvereinbarung, dessen Erfüllung gemäß § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG das Modul 1 der Integrationsvereinbarung beinhaltet, vor. Entgegen der Ansicht des BVwG, das sich insbesondere auf den fehlenden Nachweis eines Zeugnisses über die Absolvierung der Integrationsprüfung stützte, war somit gegenständlich auch die Voraussetzung gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 für die Erteilung des Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung plus“ (§ 55 Abs. 1 AsylG 2005) erfüllt.
17 Indem das BVwG dem Revisionswerber jedoch nicht den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“, sondern den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ erteilte, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
18 Das Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG im angefochtenen Umfang wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
19 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. Jänner 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020190447.L00Im RIS seit
09.02.2022Zuletzt aktualisiert am
10.02.2022