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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Dr. Eisner und die Hofrätin Mag. Bayer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Mai 2021, I407 2171454-1/102E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (Mitbeteiligter: W M in W), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit damit dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, ihm eine bis 5. März 2022 gültige Aufenthaltsberechtigung erteilt und die Spruchpunkte III. und IV. des Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 18. August 2017 behoben wurden, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der aus dem Irak stammende Mitbeteiligte stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 12. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 18. August 2017 ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.), und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
3 Der Mitbeteiligte wurde in Österreich straffällig und für von ihm begangene Straftaten auch rechtskräftig verurteilt.
4 Das Bundesverwaltungsgericht wies nach Durchführung einer Verhandlung (mit mehreren Tagsatzungen) die gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde, soweit sie sich gegen den Spruchpunkt I., womit dem Mitbeteiligten die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten versagt blieb, richtete, als unbegründet ab. Jedoch gab es im Übrigen der Beschwerde statt und sprach aus, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine bis zum 5. März 2022 gültige Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigtem erteilt und die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides (ersatzlos) behoben werden.
5 Das Bundesverwaltungsgericht führte im Rahmen seiner Feststellungen - unter anderem und soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - Folgendes aus:
„Der Beschwerdeführer leidet an einer protrahierten Anpassungsstörung mit wiederkehrenden depressiven Einbrüchen, Angst vor einer Abschiebung in den Irak, schwankender Stimmung und überdauernder Misstrauenshaltung.
Er hat mehrfach Suizidversuche begangen. Diese Suizidversuche können auch für die Zukunft nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden.
Das vorliegende Leiden ist aufgrund der ursächlichen exogenen Faktoren mit den zur Verfügung stehenden psychiatrisch-psychopharmakologischen und psychotherapeutischen Maßnahmen nur eingeschränkt behandelbar, wenngleich eine stimmungsstabilisierende Medikation und eine psychotherapeutische Stützung zur Beschwerdelinderung als indiziert erachtet werden.
Der Beschwerdeführer wird gegenwärtig in Österreich mit Pregabalin (stimmungsstabilisierende Medikation) und Sertralin (Antidepressivum) behandelt. Er wird regelmäßig psychotherapeutisch behandelt. Pregabalin ist grundsätzlich im Irak erhältlich. Es kann nicht festgestellt werden, dass die notwendige Medikation und die notwendige psychotherapeutische Behandlung für den Beschwerdeführer auch tatsächlich im Irak erhältlich und leistbar ist.
Im Falle einer Rückführung des Beschwerdeführers in seinen Heimatstaat Irak ist mit einer Verschlechterung seines psychischen Zustandes zu rechnen.“
6 In der rechtlichen Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es sich beim Mitbeteiligten um eine „psychisch kranke, also besonders vulnerable Person i.S. des Art. 21 der Aufnahmerichtlinie“ handle. Im Weiteren enthält das angefochtene Erkenntnis folgende Erwägungen:
„So war festzustellen, dass es nicht mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen ist, dass der Beschwerdeführer in Zukunft weitere Selbstmordversuche begeht.
Im Ansehen der beim Beschwerdeführer festgestellten protrahierten Anpassungsstörung mit wiederkehrenden depressiven Einbrüchen, seiner ebenfalls festgestellten Angst vor Abschiebung in den Irak, der Tatsache, dass er von seiner Familie im Irak nicht unterstützt wird und der in den Länderfeststellungen dargestellten prekären psychiatrisch-medizinischen Versorgungslage im Herkunftsstaat liegen im beschwerdegegenständlichen Einzelfall exzeptionelle Umstände im Sinne der Rechtsprechung des VwGH und des EGMR vor.
Eine Rückführung des Beschwerdeführers würde diesen daher in seinen Rechten nach Art. 3 EMRK verletzen.“
7 Soweit es die Prüfung nach § 8 Abs. 3a AsylG 2005 betrifft, führte das Bundesverwaltungsgericht aus, von einer „Gefahr für die Allgemeinheit“ im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 könne „bei Vorliegen von nicht als besonders qualifizierten strafrechtlichen Verstoßes zu beurteilenden Straftaten“, wie sie der Mitbeteiligte begangen habe, nicht gesprochen werden. Auch die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 seien nicht erfüllt. Der Mitbeteiligte sei nämlich nicht wegen eines Verbrechens im Sinn des § 17 StGB verurteilt worden. Somit sei eine auf § 8 Abs. 3a AsylG 2005 gestützte Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz betreffend das Begehren auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht vorzunehmen.
8 Die Erhebung einer Revision sei nach Art. 133 Abs. 4 B-VG - so das Verwaltungsgericht abschließend - nicht zulässig, weil seine Entscheidung auf den darin genannten Judikaten des Verwaltungsgerichtshofes basiere.
9 Gegen diese Entscheidung richtet sich die gegenständliche Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, soweit damit dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und darauf gegründet weitere Aussprüche getätigt wurden.
10 Das Bundesverwaltungsgericht hat die Revision samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Vom Verwaltungsgerichtshof wurde das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:
12 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl macht zur Zulässigkeit der Revision geltend, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz bei Vorliegen einer Krankheit abgewichen. Jenes Medikament, das der Mitbeteiligte benötige, sei in seinem Heimatland erhältlich. Ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren habe nicht stattgefunden, weil sich aus den Länderinformationen ergebe, dass im Irak die medizinische Versorgung allgemein und im speziellen auch die psychotherapeutische Behandlung gewährleistet sei. Dass diese für den Mitbeteiligten nicht zugänglich sei, ergebe sich aus den Feststellungen nicht. Es fehlten aber auch Feststellungen dazu, wie sich das allfällige Unterbleiben einer angemessenen Behandlung auswirke. Aus den bisher eingeholten Gutachten sei nicht abzuleiten, dass diesfalls die nach der Rechtsprechung geforderte hohe Schwelle für die drohende Verletzung des Art. 3 EMRK erreicht werde.
13 Das Bundesverwaltungsgericht habe aber auch das Vorliegen der in § 9 Abs. 2 Z 2 und Z 3 AsylG 2005 genannten Gründe nur unzureichend geprüft. Soweit es um die Beurteilung nach der Z 2 des § 9 Abs. 2 AsylG 2005 gehe, hätte das Bundesverwaltungsgericht eine Gefährdungsprognose anhand konkret zu treffender Feststellungen zum gesamten Fehlverhalten des Mitbeteiligten vornehmen müssen. Das betreffe - ungeachtet dessen, dass das Strafverfahren im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts noch nicht abgeschlossen gewesen sei - auch jenes Verhalten, weswegen der Mitbeteiligte nach § 87 StGB zur Anklage gebracht worden sei, weil er einen anderen mit einem Messer absichtlich schwer am Körper verletzt habe. Weiters sei der Mitbeteiligte, was im Besonderen für die Beurteilung nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 von Bedeutung sei, bereits (unter anderem) nach § 84 Abs. 4 StGB rechtskräftig verurteilt worden. Es liege damit - anders als das Bundesverwaltungsgericht meine - eine Verurteilung wegen eines Verbrechens im Sinn des § 17 Abs. 1 StGB vor.
14 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
15 § 8 und § 9 AsylG 2005 lauten (auszugsweise und samt Überschrift):
„Status des subsidiär Schutzberechtigten
§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. ... ,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
(3) ...
(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
(5) ...
...
Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten
§ 9. (1) ...
(2) Ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des Abs. 1 abzuerkennen, so hat eine Aberkennung auch dann zu erfolgen, wenn
1. ... ;
2. der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt oder
3. der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB, BGBl. Nr. 60/1974, entspricht.
In diesen Fällen ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(3) ...
...“
16 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der hier in Rede stehenden Beurteilung eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2020/14/0175, mwN).
17 Weiters hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist (vgl. etwa VwGH 23.2.2016, Ra 2015/20/0142; 29.6.2015, Ra 2015/18/0042; 15.10.2015, Ra 2015/20/0218 bis 0221, jeweils mwN). Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. auch dazu VwGH Ra 2020/14/0175, mwN).
18 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl macht zu Recht geltend, dass sich anhand der Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht ergibt, dass im Fall des Mitbeteiligten solche außergewöhnlichen Umstände vorlägen, nach denen die soeben genannte hohe Schwelle erreicht wäre. Wenn das Bundesverwaltungsgericht meint, es sei für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz ausreichend, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Mitbeteiligte in der Zukunft neuerlich einen Suizidversuch unternehmen könnte, verkennt es - ebenso wie der Mitbeteiligte in der Revisionsbeantwortung - den bei der hier vorzunehmenden Prüfung anzulegenden Maßstab, wonach im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohen muss, deren Bejahung auch entsprechender Feststellungen bedarf. Dass der Eintritt künftiger ungewisser Ereignisse bloß nicht ausgeschlossen werden kann, wird dem nicht gerecht.
19 Es trifft aber auch der von der revisionswerbenden Behörde erhobene Vorwurf zu, das Bundesverwaltungsgericht habe die nach § 8 Abs. 3a AsylG 2005 geforderte Prüfung der (hier in Betracht zu ziehenden) in § 9 Abs. 2 Z 2 und Z 3 AsylG 2005 genannten Gründe, bei deren Vorliegen die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten selbst im Fall des Vorliegens einer im Heimatland gegebenen Gefährdung im Sinn Art. 3 EMRK nicht erfolgen dürfe (vgl. zur Prüfreihenfolge bei der nach § 8 AsylG 2005 vorzunehmenden Entscheidung VwGH 22.10.2020, Ro 2020/20/0001, mit Hinweis auf VwGH 17.10.2019, Ro 2019/18/0005), nicht dem Gesetz entsprechend vorgenommen.
20 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich bei der Beurteilung, ob diese Tatbestände erfüllt sind, bloß darauf zurückgezogen, dass der Mitbeteiligte „für die Vergehen der [s]chweren Körperverletzung, des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt und der Körperverletzung verurteilt“ worden sei. Bei „Vorliegen von nicht als besonders qualifizierten strafrechtlichen Verstoßes zu beurteilenden Straftaten, wie sie der“ Mitbeteiligte „im vorliegenden Fall begangen“ habe, könne von einer Gefahr für die Allgemeinheit im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 nicht gesprochen werden.
21 Damit ist das Bundesverwaltungsgericht allerdings in maßgeblicher Weise von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Nach dieser erfordert die Beurteilung, ob der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt, eine Gefährdungsprognose, wie sie in ähnlicher Weise auch in anderen asyl- und fremdenrechtlichen Vorschriften zugrunde gelegt ist. Dabei ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die Annahme gerechtfertigt ist, der Fremde stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich dar. Strafgerichtliche Verurteilungen des Fremden sind daraufhin zu überprüfen, inwieweit sich daraus nach der Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und der Tatumstände der Schluss auf die Gefährlichkeit des Fremden für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Republik Österreich ziehen lässt (vgl. VwGH 22.10.2020, Ro 2020/20/0001, mwN). Eine solche Prüfung hat das Bundesverwaltungsgericht, das in Verkennung dieser Rechtslage keine Feststellungen getroffen hat, die eine solche Beurteilung ermöglicht hätten, gänzlich unterlassen. Angesichts der aus den in den Verfahrensakten erliegenden Urteilen ersichtlichen strafbaren Handlungen, die von der Ausübung von - zum Teil massiver - Gewalt des Mitbeteiligten gegen andere Menschen (etwa durch Kopfstöße, Schläge ins Gesicht und mehrfache Fußtritte gegen den Kopf) gekennzeichnet sind, ist die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, es sei von vornherein - und damit ohne nähere Prüfung der vom Mitbeteiligten gesetzten strafbaren Handlungen, wobei auch der ihm gegenüber erhobene Vorwurf, er habe einen anderen mit einem Messer absichtlich schwer verletzt, gänzlich unbeleuchtet blieb - auszuschließen, dass vom Mitbeteiligten eine im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 maßgebliche Gefahr ausgehen könnte, nicht zu teilen.
22 Weiters hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass der Mitbeteiligte (unter anderem) wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB verurteilt worden sei (aus den im Verfahrensakt einliegenden Abschriften von strafgerichtlichen Urteilen ergibt sich, dass zwar wegen einer Tathandlung letztlich nach einer im Rechtsmittelweg ergangenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Linz die im fortgesetzten Verfahren ergangene Verurteilung durch das Landesgericht Linz lediglich aufgrund des § 83 Abs. 1 StGB erfolgte, jedoch die Verurteilung wegen einer weiteren Straftat nach § 15 Abs. 1, § 84 Abs. 4 StGB aufrecht blieb). Weshalb aber angesichts der darin enthaltenen Strafdrohung einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis gekommen ist, es liege keine Verurteilung wegen eines Verbrechens im Sinn des § 17 Abs. 1 StGB („Verbrechen sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind.“) vor, weshalb auch die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 nicht gegeben sei, ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar [umso mehr, als auch das Urteil des Strafgerichts in seinem Spruch den Hinweis enthält, dass es sich bei der Verurteilung wegen (vollendeter und auch versuchter) schwerer Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB um eine Verurteilung wegen eines Verbrechens handle]. Gleiches gilt für die Ausführungen des Mitbeteiligten in der Revisionsbeantwortung, der entgegen der ausdrücklich in § 84 Abs. 4 StGB enthaltenen gesetzlichen Anordnung die Meinung vertritt, nach dieser Bestimmung liege „der Strafrahmen bei 6 Monaten“. Somit hat es das Bundesverwaltungsgericht ausgehend von einer rechtswidrigen Prämisse unterlassen, des Näheren zu prüfen, ob sonst die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 vorlägen (vgl. zu den bei dieser Beurteilung maßgeblichen Kriterien nochmals VwGH Ro 2020/20/0001, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des VwGH und des EuGH).
23 Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, erweist sich somit als mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes behaftet. Sie war daher aus diesem Grund - ebenso wie die vom Bundesverwaltungsgericht getätigten, rechtlich davon abhängenden Aussprüche, die ihre Grundlage verlieren - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 19. Jänner 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021200209.L00Im RIS seit
09.02.2022Zuletzt aktualisiert am
24.02.2022