TE Vwgh Beschluss 2022/1/19 Ra 2021/20/0155

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Veröffentlicht am 19.01.2022
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
E3L E19103010
E6J
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z23
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §68 Abs1
AVG §69
B-VG Art133 Abs4
EURallg
VwGVG 2014 §32
32011L0095 Status-RL
32013L0032 IntSchutz-RL Art33 Abs2 litd
32013L0032 IntSchutz-RL Art40
32013L0032 IntSchutz-RL Art40 Abs2
32013L0032 IntSchutz-RL Art40 Abs3
32013L0032 IntSchutz-RL Art40 Abs4
32013L0032 IntSchutz-RL Art40 Abs5
62020CJ0018 Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Dr. Eisner und die Hofrätin Mag. Bayer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, in der Rechtssache der Revision des A A, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. März 2021, I416 2165178-1/20E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der im Jahr 1994 geborene und aus dem Irak stammende Revisionswerber stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 3. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2        Der Revisionswerber brachte vor, von Milizen unter Druck gesetzt worden zu sein. Ein schiitischer Religionsführer habe eine „Fatwa“ herausgegeben, nach der alle am Kampf gegen den Islamischen Staat teilnehmen sollten. Bewaffnete Gruppen seien auch in die Schule gekommen und hätten alle über Achtzehnjährigen aufgefordert, die Schule abzubrechen, um in den Krieg zu ziehen. Der Revisionswerber habe ab dieser Zeit aufgehört, in die Schule zu gehen, weil er nicht „an so einem konfessionellen Krieg“ habe teilnehmen wollen.

3        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 29. Juni 2017 ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit dem Erkenntnis vom 11. März 2021 als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        In seiner Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - davon aus, dass dem Vorbringen des Revisionswerbers zu einer versuchten Rekrutierung durch schiitische Milizen kein Glauben zu schenken sei. Weiters ergebe sich aus seinen bloß unsubstantiiert gebliebenen Angaben, aufgrund der sunnitischen Konfession seines Vaters im Irak „Probleme“ zu haben, nicht, dass ihm im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung drohe. Einer Behandlung des erst im Lauf des Beschwerdeverfahrens erstatteten Vorbringens zu einer ihm im Heimatland drohenden Verfolgung wegen Homosexualität stehe das Neuerungsverbot des § 20 Abs. 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) entgegen.

6        Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision erweist sich als nicht zulässig.

7        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

9        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

10       Im Mittelpunkt der Begründung für die Zulässigkeit der Revision stehen die Überlegungen des Revisionswerbers, wonach sein erst im Beschwerdeverfahren erstattetes Vorbringen zu seiner Homosexualität einer inhaltlichen Behandlung hätte zugeführt werden müssen. Zum einen wendet sich der Revisionswerber gegen jene beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts, aufgrund deren es zum Schluss gekommen ist, dieses Vorbringen sei deswegen so spät erstattet worden, weil der Revisionswerber danach getrachtet habe, das Asylverfahren durch eine neuerliche Verbreiterung des Beweisthemas in missbräuchlicher Weise zu verlängern. Zum anderen macht der Revisionswerber geltend, das Neuerungsverbot des § 20 BFA-VG könnte dazu führen, dass eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK nicht in der rechtstaatlich zu fordernden Weise geltend gemacht werden könnte. In einem Folgeverfahren stünde nämlich der inhaltlichen Behandlung seines Vorbringens zu einer drohenden Verfolgung wegen Homosexualität und damit verbunden zum Vorliegen eines an sich beachtlichen Grundes für das Verbot des Refoulement das Prozesshindernis der entschiedenen Sache entgegen.

11       Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig und im Allgemeinen nicht zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Einzelfall berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtsicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Der - zur Rechtskontrolle berufene - Verwaltungsgerichtshof ist nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. etwa VwGH 20.10.2021, Ra 2021/20/0290, mwN).

12       Es gelingt dem Revisionswerber mit seinem Vorbringen in der Revision aber nicht aufzuzeigen, dass die beweiswürdigenden Überlegungen des Bundesverwaltungsgerichts - auch im Zusammenhang mit anderen Themen als dem Neuerungsverbot - mit einem vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangel behaftet wären. Dass auch ein anderer Sachverhalt begründbar wäre, ist nach dem Gesagten im Revisionsverfahren nicht weiter maßgeblich.

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat sich - nach Einholung einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. EuGH 9.9.2021, C-18/20) - mittlerweile in seinem Erkenntnis vom 19. Oktober 2021, Ro 2019/14/0006, des Näheren mit der Vereinbarkeit der asylrechtliche Folgeanträge betreffenden Rechtslage mit den unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) befasst. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

14       In diesem Erkenntnis wurde dargelegt, dass es aufgrund der unionrechtlichen Vorgaben nicht zulässig ist, einen Fremden, der die Gewährung von internationalem Schutz anstrebt und dafür in einem Folgeantrag im Sinn des Art. 40 Verfahrensrichtlinie „neue Elemente oder Erkenntnisse“, die „erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen“, dass er „nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“, vorbringt oder wenn solche zutage treten, allein deshalb, weil er Gründe, die bereits vor Abschluss des ersten Verfahrens existent waren, erst im Folgeantrag geltend macht, auf die Wiederaufnahme eines früheren Asylverfahrens nach § 69 AVG oder § 32 VwGVG zu verweisen.

15       Ein solcherart begründeter Antrag auf internationalen Schutz darf nicht allein deswegen wegen entschiedener Sache zurückgewiesen werden, weil der nunmehr vorgebrachte Sachverhalt von der Rechtskraft einer früheren Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz erfasst sei, ohne dass die Prüfung im Sinn des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 Verfahrensrichtlinie vorgenommen worden wäre, ob „neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“.

16       Kommt bei dieser Prüfung hervor, dass - allenfalls entgegen den Behauptungen eines Antragstellers - solche neuen Elemente oder Erkenntnisse nicht vorliegen oder vom Antragsteller gar nicht vorgebracht worden sind, so ist eine Zurückweisung wegen entschiedener Sache weiterhin - in einem Verfahren, in dem auch die Vorgaben des Kapitels II der Verfahrensrichtlinie zu beachten sind - statthaft. Das gilt auch dann, wenn zwar neue Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, die Änderungen aber lediglich Umstände betreffen, die von vornherein zu keiner anderen Entscheidung in Bezug auf die Frage der Zuerkennung eines Schutzstatus führen können. Der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt hat nämlich in diesen Konstellationen keine Änderung erfahren.

17       Liegen keine neuen Elemente oder Erkenntnisse vor oder sind die neuen Elemente oder Erkenntnisse nicht geeignet, erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beizutragen, dass dem Antragsteller ein Schutzstatus zuzuerkennen ist, verlangt auch Art. 40 Abs. 3 Verfahrensrichtlinie keine weitere Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz. Nach Art. 33 Abs. 2 lit. d iVm Art. 40 Abs. 5 Verfahrensrichtlinie ist es in solchen Fällen erlaubt, einen Folgeantrag als unzulässig zu betrachten.

18       Ergibt aber die Prüfung des im Folgeantrag erstatteten Vorbringens, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, ist die Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache im Hinblick auf die im österreichischen Recht nicht korrekt erfolgte Umsetzung von Unionsrecht nicht statthaft. Dies gilt im Besonderen auch dann, wenn das Vorbringen schon in einem früheren Verfahren hätte erstattet werden können und den Antragsteller ein Verschulden daran trifft, den fraglichen Sachverhalt nicht schon im früheren Verfahren geltend gemacht zu haben. Einer Berücksichtigung dieser Umstände steht nämlich entgegen, dass nach dem Urteilsspruch des EuGH zu C-18/20 (Spruchpunkt 3.) Art. 40 Abs. 4 Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat, der keine Sondernormen zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, nicht gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden (vgl. zum Ganzen VwGH Ro 2019/14/0006, Rn. 74 bis 78).

19       Somit ist der Ansicht des Revisionswerbers, der seine Argumentation auf die bisherige zu asylrechtlichen Folgeanträgen ergangene Rechtsprechung gründet, der Boden entzogen. Der Verwaltungsgerichtshof vermochte nämlich diese Rechtsprechung angesichts der - einer Klärung durch den EuGH zugeführten - unionsrechtlichen Vorgaben nicht in seinem gesamten Umfang aufrechtzuerhalten (vgl. VwGH Ro 2019/14/0006, Rn. 85).

20       Infolge der rechtlichen Sichtweise, wie sie nunmehr aus unionsrechtlichen Gründen Platz zu greifen hat, ist jenes Vorbringen, das der Revisionswerber nicht schon im hier in Rede stehenden Asylverfahren geltend machen konnte, in einem weiteren Asylverfahren nicht von vornherein der Überprüfung entzogen. Damit ist dann aber auch sichergestellt, dass in der rechtsstaatlich gebotenen Weise eine Verletzung des Refoulement-Verbots hintangehalten werden kann.

21       Entgegen dem Vorbringen in der Revision hat sich das Bundesverwaltungsgericht - ungeachtet dessen, dass sich rechtliche Überlegungen zum Teil disloziert im Rahmen der Beweiswürdigung finden - hinreichend damit befasst, ob der Revisionswerber im Fall seiner Rückkehr in sein Heimatland wegen der Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung asylrelevante Verfolgung zu befürchten hat.

22       Soweit sich der Revisionswerber gegen die im Rahmen der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA-VG vorgenommene Interessenabwägung wendet, ist er auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. VwGH 20.10.2021, Ra 2021/20/0365, mwN).

23       Dass die vom Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall vorgenommene Interessenabwägung - selbst bei der Berücksichtigung der in der Revision angesprochenen Umstände, die sich in der Behauptung des Bestehens einer Beziehung, vielen Freundschaften und Deutschkenntnissen „über dem A2-Niveau“ erschöpfen - als unvertretbar anzusehen wäre, vermag der Revisionswerber nicht darzutun.

24       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (weiterhin) grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat - zurückzuweisen.

Wien, am 19. Jänner 2022

Gerichtsentscheidung

EuGH 62020CJ0018 Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl VORAB

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021200155.L00

Im RIS seit

09.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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