Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B*****gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Dr. Johannes Olischar, MBA, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. Ing. G***** R*****, 2. DI G***** B*****, 3. S***** GmbH & Co KG, *****, 4. Z***** GmbH, *****, wegen 2.428.455,27 EUR sA und Feststellung (10.000 EUR), über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 9. August 2021, GZ 11 R 116/21s-7, mit dem der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 24. Juni 2021, GZ 12 Cg 40/21x-2, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die Einleitung des gesetzlichen Verfahrens über die Klage gegen den Zweitbeklagten, die Drittbeklagte und die Viertbeklagte unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Die Kosten des Rekurs- und des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
[1] Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin, die vier Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von 2.312.478,99 EUR sA und den Erstbeklagten, den Zweitbeklagten und die Drittbeklagte zur ungeteilten Hand zur Zahlung weiterer 115.976,28 EUR zu verpflichten. Zudem begehrte sie die Feststellung, dass die vier Beklagten der Klägerin für alle weiteren Schäden aus der schuldhaften mangelhaften Erfüllung ihrer jeweiligen Aufträge zur ungeteilten Hand haften.
[2] Die Klägerin habe in den Jahren 2010/2011 ein Schulgebäude durch eine Aufstockung und einen Zubau erweitern lassen. Sie habe die Erstbeklagte mit der örtlichen Bauaufsicht, den Zweitbeklagten mit der Erbringung von Generalplanerleistungen, die Drittbeklagte mit der Erbringung von Schwarzdeckerarbeiten und die Viertbeklagte mit der Erbringung von Holzbauarbeiten beauftragt. Die Beklagten hätten ihre jeweiligen vertraglichen Verpflichtungen sorgfaltswidrig verletzt und/oder die maßgeblichen technischen Normen missachtet. Konkret wirft die Klägerin dem Zweitbeklagten Planungsfehler und der Dritt- und der Viertbeklagten Ausführungsfehler und Warnpflichtverletzungen vor. Dem Erstbeklagten wirft sie vor, dass ihm diese Planungs- und Ausführungsfehler nicht aufgefallen seien. Die schuldhaft grob mangelhaft erbrachte Leistung eines jeden Beklagten sei ursächlich für aufgetretene Gebäudeschäden gewesen; die Anteile der einzelnen Beklagten ließen sich nicht bestimmen. Die Beklagten hafteten daher solidarisch, sie bilden eine materielle Streitgenossenschaft im Sinn des § 11 ZPO. Das angerufene Erstgericht sei daher gemäß § 93 Abs 1 JN zur Entscheidung über die Klage gegen alle Beklagten berufen.
[3] Das Erstgericht wies die gegen den Zweitbeklagten, die Drittbeklagte und die Viertbeklagte gerichtete Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit zurück. Die Beklagten seien bloß formelle Streitgenossen, der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gemäß § 93 Abs 1 JN finde aber nur auf materielle Streitgenossen im Sinn des § 11 Z 1 ZPO Anwendung.
[4] Das Rekursgericht gab dem mit einem Überweisungsantrag verbundenen Rekurs der Klägerin nicht Folge.
[5] Nur das Bestehen einer materiellen Streitgenossenschaft im Sinn des § 11 Z 1 ZPO begründe den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft. Nach § 11 Z 1 ZPO könnten mehrere Personen gemeinschaftlich klagen oder geklagt werden, wenn sie in Ansehung des Streitgegenstands in Rechtsgemeinschaft stünden oder aus dem selben tatsächlichen Grund oder solidarisch berechtigt oder verpflichtet seien. Zur Begründung der materiellen Streitgenossenschaft aufgrund Solidarität reiche zwar grundsätzlich jede Solidarverpflichtung aus. Bei der Zufügung eines Schadens durch mehrere Schädiger nehme die Rechtsprechung aber trotz solidarischer Haftung keine materielle Streitgenossenschaft an. Lediglich mehrere vorsätzlich handelnde gemeinschaftliche Schädiger seien materielle Streitgenossen. Die Klägerin werfe aber jedem der Streitgenossen die Verletzung eines eigenen Vertrags und ein gesondertes Fehlverhalten vor. Nach herrschender Ansicht liege bei Inanspruchnahme mehrerer Schädiger wegen Zufügung desselben Schadens, jedoch aus verschiedenen tatsächlichen und rechtlichen Gründen selbst bei Solidarhaftung (wenn es sich nicht um Mittäter handle) bloß formelle Streitgenossenschaft vor.
[6] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu. Es habe im Sinn der herrschenden Lehre und ständigen Rechtsprechung entschieden.
[7] Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin. Das Revisionsrekursverfahren ist einseitig (RIS-Justiz RS0039200 [T45]).
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.
[9] 1.1. Der Revisionsrekurs ist nicht jedenfalls unzulässig. Auch bestätigende Beschlüsse sind gemäß § 528 Abs 2 Z 2 ZPO anfechtbar, wenn die Klage – wie im vorliegenden Fall – ohne Sachentscheidungen aus formellen Gründen zurückgewiesen wurde und damit im Ergebnis eine Sachentscheidung über das Rechtsschutzbegehren endgültig verweigert wird (RS0044536 [T8]; RS0044487 [T15]).
[10] 1.2. Der Zulässigkeit des Revisionsrekurses steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin in ihrem Rekurs hilfsweise einen Überweisungsantrag nach § 230a ZPO gestellt hat (RS0099922 [T2, T4]; RS0039108). Von der früheren Rechtsansicht, dass der Revisionsrekurs unzulässig sei, wenn gleichzeitig ein Rekurs und ein Überweisungsantrag nach § 230a ZPO gestellt werden, ist der Oberste Gerichtshof mittlerweile abgegangen (RS0099922 [T3]).
[11] 2.1. Der Kläger, der einen anderen als den allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten in Anspruch nimmt, muss bereits in der Klage ausdrücklich und konkret jene Tatsachen behaupten, die den besonderen Gerichtsstand begründen (RS0115860 [T1]; RS0046236 [T4]; RS0046204 [T1]; RS0039812 [T1]). Der Kläger ist zwar nicht gehalten, Zuständigkeitstatbestände in ihrer rechtlichen Konfiguration zu benennen, muss aber das dafür erforderliche Tatsachensubstrat vorbringen (RS0046236 [T3]; RS0046204 [T2, T4]; vgl RS0130471).
[12] 2.2. Für die Beurteilung der Zuständigkeit sind gemäß § 41 Abs 2 JN grundsätzlich die (auf ihre Schlüssigkeit zu prüfenden) Klageangaben maßgebend (RS0046236; RS0050455). Das gilt auch für die Beurteilung der Voraussetzungen des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nach § 93 Abs 1 JN (RS0035340; RS0117035; RS0107711).
[13] 3.1. Voraussetzung für den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ist das Bestehen einer materiellen Streitgenossenschaft im Sinn des § 11 Z 1 ZPO (RS0035411 [T1]; RS0113344).
[14] 3.2. Die Stammfassung des § 11 Z 1 ZPO (RGBl 1985/113) erfasste als materielle Streitgenossen Personen, die in Ansehung des Streitgegenstands in Rechtsgemeinschaft stehen oder aus demselben tatsächlichen und rechtlichen Grund berechtigt oder verpflichtet sind. Seit der Zivilverfahrensnovelle 1983 (BGBl 1983/135) liegt eine materielle Streitgenossenschaft nach § 11 Z 1 ZPO auch dann vor, wenn mehrere Personen in Ansehung des Streitgegenstands solidarisch berechtigt oder verpflichtet sind (RS0035528 [T7]).
[15] Vor der Änderung des § 11 Z 1 ZPO durch die Zivilverfahrensnovelle 1983 war die Rechtsprechung zur Frage, ob jede Solidarverpflichtung ausreicht, um eine materielle Streitgenossenschaft zu begründen, nicht einheitlich. Gegenteilig zur Entscheidung 6 Ob 151/74 vertrat der Oberste Gerichtshof zu 7 Ob 774/78 die Auffassung, dass keine materielle Streitgenossenschaft vorliege, wenn der Kläger jedem Beklagten die Verletzung eines eigenen Vertrags und ein besonderes deliktisches Verhalten vorwerfe. Die Inanspruchnahme mehrerer Schädiger wegen Zufügung desselben Schadens, jedoch aus verschiedenen tatsächlichen und rechtlichen Gründen, begründe selbst bei Solidarhaftung, wenn es sich nicht um Mittäter handle, bloß formelle Streitgenossenschaft. Materielle Streitgenossenschaft liege bei Inanspruchnahme mehrerer Schädiger wegen Zufügung desselben Schadens, jedoch aus verschiedenen tatsächlichen und rechtlichen Gründen nur bei Mittäterschaft vor (vgl RS0035440, RS0035426, RS0035443). Auch zu 7 Ob 701/81 sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass eine deliktische Solidarhaftung im Sinn des § 1302 ABGB noch keine Rechtsgemeinschaft im Sinn des § 11 Z 1 ZPO zu begründen vermag (vgl RS0026728).
[16] Nach der Erweiterung der Tatbestände des § 11 Z 1 ZPO durch die Zivilverfahrensnovelle 1983 hat der Oberste Gerichtshof allerdings wiederholt klargestellt, dass nunmehr jede Solidarverpflichtung ausreicht, um eine materielle Streitgenossenschaft zu begründen. Die Rechtsgrundlage der Solidarhaftung ist gleichgültig. Wesentlich für das Vorliegen solidarischer Haftung ist vielmehr die Erfüllungsgemeinschaft der Schuldner und das Privileg des Gläubigers, auf welchen seiner Schuldner er greifen will (3 Ob 514/94 [3 Ob 515/94], 7 Ob 148/02v, 6 Ob 174/02k, 4 Ob 116/10b, 1 Ob 105/13t, RS0107710, RS0017315 [T6]). Es ist nicht Voraussetzung, dass die gemeinschaftliche Schuld aus demselben Rechtsgrund entstanden ist. Die Solidarschuld kann auch aus jeweils verschiedenen, bei den einzelnen Verpflichteten vorliegenden Rechtsgründen entstehen (6 Ob 174/02k; RS0017315). Wesentlich ist nur das Bestehen einer Erfüllungsgemeinschaft in Ansehung desselben Schadens. Bedeutsam ist insofern somit die Identität der geschuldeten Leistung (1 Ob 221/06s; RS0017315 [T10]).
[17] 3.3. Aus der Entscheidung 6 Ob 316/02t ist – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – nicht abzuleiten, dass lediglich mehrere vorsätzlich handelnde gemeinschaftliche Schädiger materielle Streitgenossen sind. In dieser Entscheidung bejahte der Oberste Gerichtshof bei mehreren vorsätzlich handelnden gemeinschaftlichen Schädigern eine solidarische Haftung nach §§ 1301 f ABGB und das Bestehen einer materiellen Streitgenossenschaft. Er hob gleichzeitig hervor, dass jede Solidarverpflichtung ausreiche, die verpflichteten Personen als Streitgenossen nach § 93 Abs 1 JN gemeinsam zu klagen, und die Solidarschuld keineswegs voraussetze, dass die gemeinschaftliche Schuld aus demselben Rechtsgrund entstanden sei. Der Umkehrschluss, dass ausschließlich vorsätzlich handelnde gemeinschaftliche Schädiger im Sinn von Mittätern materielle Streitgenossenschaften sind und mehrere Schädiger, die unabhängig voneinander handeln, keine materielle Streitgenossenschaft bilden, kann aus dieser Entscheidung daher nicht gezogen werden.
[18] Die Entscheidung 3 Ob 223/07a, in der eine materielle Streitgenossenschaft für den Fall der deliktischen Solidarhaftung verneint wurde, beruft sich auf die noch zur Rechtslage vor der Zivilverfahrensnovelle 1983 ergangene Entscheidung 7 Ob 701/81. Diese Erwägung war für die Entscheidung letztlich auch ohne Bedeutung.
[19] Auch bei der Aussage in 8 Ob 35/16d, mehrere (selbständig) fahrlässig handelnde, wenn auch solidarisch haftende Schädiger bildeten nach der Rechtsprechung nicht einmal eine materielle Streitgenossenschaft, handelt es sich um ein solches obiter dictum. In den dort zitierten Fundstellen (Fucik in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 11 Rz 2; Schneider in Fasching/Konecny³ II/1 § 11 ZPO Rz 17) verweisen die Autoren jeweils – ohne nähere Auseinandersetzung und eigene Stellungnahme – auf die vor der Zivilverfahrensnovelle 1983 ergangenen Entscheidungen 7 Ob 774/78 bzw 7 Ob 701/81. Nach der auch vom Berufungsgericht übernommenen Auffassung Schneiders (aaO) soll die Konstellation der nicht vorsätzlich gemeinsamen Zufügung eines Schadens durch mehrere Schädiger offenbar eine Ausnahme der Rechtsprechung vom allgemeinen Grundsatz bilden, dass zur Begründung der materiellen Streitgenossenschaft aufgrund Solidarität an sich jede Solidarverpflichtung ausreicht und es keine Voraussetzung ist, dass die gemeinschaftliche Schuld aus demselben Rechtsgrund entstand. Dabei wird übersehen, dass die in diesem Zusammenhang zitierten Entscheidungen zur Rechtslage vor der Zivilverfahrensnovelle 1983 ergangen und mittlerweile – wie gezeigt – überholt sind. Im Wesentlichen Gleiches gilt auch für die Kommentierung von Auer in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-Praxiskommentar § 11 Rz 15 FN 45 und Rz 19.
[20] 3.4. Unter den Begriff der solidarischen Verpflichtung iSd § 11 Z 1 ZPO fallen damit alle im ABGB vorgesehenen Fälle von Solidarhaftung (1 Ob 105/13t).
[21] 4.1. Die Klägerin begehrt die Haftung der vier Beklagten zur ungeteilten Hand aus dem Titel des Schadenersatzes. Die Beklagten hätten ihre jeweils vertraglichen Verpflichtungen sorgfaltswidrig verletzt und die schuldhaft mangelhaft erbrachte Leistung eines jeden Beklagten sei ursächlich für den geltend gemachten Schaden gewesen. Da sich die Anteile der einzelnen Beklagten nicht bestimmen ließen, hafteten diese solidarisch.
[22] 4.2. Nach diesem schlüssigen Vorbringen der Klägerin bilden die Beklagten eine materielle Streitgenossenschaft iSd § 11 Z 1 ZPO. Wenn mehrere Unternehmer im Rahmen eines Bauvorhabens tätig werden und dabei ein Schaden entsteht und nicht festgestellt werden kann, welcher konkrete Schaden durch welche konkrete mangelhafte Leistung des jeweiligen Unternehmers entstand, haften alle Unternehmen dem Bauherrn nach § 1302 ABGB grundsätzlich solidarisch (7 Ob 26/18a mwN; 10 Ob 68/17y; RS0026613; RS0026619; RS0022703). Wenn sich die Anteile der Schädiger nicht bestimmen lassen, kommt es für eine Solidarhaftung und die Bejahung materieller Streitgenossenschaft nicht darauf an, dass die Täter einverständlich handeln (1 Ob 105/13t).
[23] 4.3. Nach den Klagebehauptungen liegt damit ein ausreichendes Tatsachensubstrat vor, das – sofern es sich als richtig herausstellt – eine materielle Streitgenossenschaft nach § 11 Z 1 ZPO begründet.
[24] 5.1. Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gemäß § 93 JN wird am allgemeinen Gerichtsstand eines Streitgenossen begründet. Er setzt voraus, dass das angerufene Gericht für alle übrigen Beteiligten auch durch Vereinbarung zuständig gemacht werden könnte (§ 93 Abs 1 letzter Halbsatz JN; RS0117283) und für alle Beklagten kein gemeinsamer ausschließlicher, gewählter oder vereinbarter Gerichtsstand besteht (RS0126585; RS0117202; RS0112136 [T3, T4]). Aus den Klageangaben lässt sich weder eine unprorogable Unzuständigkeit noch ein alle Beklagten erfassender besonderer gemeinsamer Gerichtsstand ableiten.
[25] 5.2. Damit ist nach den bei einer Zuständigkeitsprüfung a limine allein ausschlaggebenden Klagebehauptungen das Erstgericht auch für die Klage gegen den Zweitbeklagten, die Drittbeklagte und die Viertbeklagte zuständig. Dem Revisionsrekurs der Klägerin war daher Folge zu geben.
Textnummer
E133552European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0050OB00170.21T.1104.000Im RIS seit
11.02.2022Zuletzt aktualisiert am
11.02.2022