TE OGH 2021/11/25 3Ob113/21w

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.11.2021
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Pensionsversicherungsanstalt Landesstelle Tirol, 6020 Innsbruck, Ing. Etzel-Straße 13, vertreten durch Dr. Berndt Schön, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei S*, vertreten durch das VertretungsNetz Erwachsenenvertretung, D*, diese vertreten durch Dr. Gerhard Ebner, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Einwendungen gegen den Anspruch (§ 35 EO), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 9. April 2021, GZ 3 R 8/21d-13, womit das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 17. November 2020, GZ 20 C 396/20y-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Klagebegehren des Inhalts, der Anspruch der beklagten Partei, zu dessen Hereinbringung dieser gegen die klagende Partei mit Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 8. September 2020, AZ 21 E 3101/20f, im Umfang von 8.704,52 EUR sA die Exekution bewilligt wurde, sei erloschen, abgewiesen wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.666,01 EUR (hierin enthalten 277,67 EUR USt) bestimmten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens, die mit 1.356,96 EUR (hierin enthalten 202,16 EUR USt und 144 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 1.047,88 EUR (hierin enthalten 138,98 EUR USt und 214 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]       Die Klägerin hat dem Beklagten mit Bescheid vom 11. Jänner 2017 eine Invaliditätspension und mit Bescheid vom 28. Februar 2017 eine Ausgleichszulage zur Invaliditätspension jeweils ab 1. Jänner 2015 zuerkannt. Die Leistungen hieraus (abzüglich Krankenversicherungsbeitrag) betrugen im Jahr 2019 insgesamt 885,47 EUR monatlich und im Jahr 2020 insgesamt 917,35 EUR monatlich.

[2]       Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 1. August 2016 wurde der Beklagte in den Vollzug der Maßnahme gemäß § 21 Abs 1 StGB eingewiesen. Mit Beschluss vom 13. August 2019 wurde er am 20. August 2019 aus dem Vollzug dieser Maßnahme gemäß § 47 StGB bedingt entlassen. Gleichzeitig wurden ihm zahlreiche Weisungen erteilt; eine davon war die Wohnsitznahme in einer näher bezeichneten sozialtherapeutischen Wohneinrichtung (im Folgenden: Wohneinrichtung), wobei im Beschluss ausgesprochen wurde, dass gemäß § 179a Abs 2 StVG der Bund die Kosten dieser Wohnsitznahme sowie der Teilnahme an medizinischen und psychotherapeutischen Maßnahmen übernimmt.

[3]       Mit Schreiben vom 22. August 2019 informierte die Wohneinrichtung die Klägerin über den Anspruchsübergang gemäß § 324 ASVG im dort genannten Umfang und über die Kosten für die Unterbringung des Beklagten, und forderte sie zur Auszahlung der auf sie übergegangenen Forderung auf. In der Folge teilte sie mit, dass der Anteil für Unterbringung des Beklagten am monatlichen Gesamtaufwand 19 % (von 2.188,80 EUR für August 2019, sowie von jeweils mehr als 4.600 EUR monatlich ab September 2019 und von jeweils mehr als 5.000 EUR ab Dezember 2019) betrage.

[4]       Die Klägerin überwies daraufhin 80 % der von ihr zu erbringenden Leistungen gemäß § 324 Abs 3 iVm Abs 4 ASVG an die Wohneinrichtung als Forderungsberechtigte und lediglich die verbleibenden 20 % an den Beklagten. Insgesamt flossen vom bescheidmäßigen Leistungsanspruch des Beklagten im Zeitraum September 2019 bis einschließlich August 2020 8.704,52 EUR nicht an ihn, sondern an die Wohneinrichtung.

[5]       Der Kläger wird in der Wohneinrichtung betreut und wohnversorgt. Selbst zu bestreiten hat er jedoch die allgemeinen Lebenshaltungskosten, also insbesondere die Kosten für Lebensmittel, Hygienartikel und Gesundheitskosten.

[6]       Mit Beschluss des Erstgerichts vom 8. September 2020 wurde dem Beklagten zur Hereinbringung seines titulierten (restlichen) Anspruchs von 8.704,52 EUR sA die Fahrnisexekution gegen die Klägerin bewilligt.

[7]       Mit ihrer Oppositionsklage macht die Klägerin geltend, der betriebene Anspruch sei nach Entstehung des Titels infolge Legalzession gemäß § 324 Abs 3 und 4 ASVG erloschen.

[8]       Der Beklagte wendete im Wesentlichen ein, die Klägerin behalte die ihm zustehenden Beträge zu Unrecht ein, weil kein Fall einer Legalzession nach § 324 Abs 4 ASVG vorliege. Er sei nämlich ohne Vollversorgung untergebracht, müsse also die Kosten insbesondere für sämtliche Lebensmittel, Hygieneartikel und Medikamente selbst bestreiten.

[9]       Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Unterbringung des Beklagten falle unter § 324 Abs 4 ASVG. Von einer „24-Stunden-Rundumbetreuung“ als Voraussetzung der Legalzession sei im Gesetz keine Rede.

[10]     Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten nicht Folge. § 324 Abs 3 ASVG setze voraus, dass eine pensions- oder rentenbeziehende Person in einer Einrichtung „verpflegt“ werde; dafür sei Voraussetzung, dass sie in der Einrichtung ihren Unterhalt weitestgehend in natura erhalte. Der vorliegende Fall sei jedoch nach § 324 Abs 4 ASVG zu beurteilen, der vorsehe, dass Abs 3 sinngemäß (ua) auch im Fall einer Unterbringung nach § 179a StVG anzuwenden sei. Die Gesetzesmaterialien gingen davon aus, dass die untergebrachte Person in einem solchen Fall „umfassend versorgt“ werde, und dass die Kosten für einen Tag der stationären Unterbringung (zwischen 80 und 100 EUR) eine „24-Stunden-Rundumbetreuung“ deckten, in der für die Unterbringung, die Verpflegung, die Medikation sowie den ärztlichen, psychologischen, pflegerischen und sozialarbeiterischen Personalaufwand gesorgt sei. Diese Erläuternden Bemerkungen böten also ein gewisses Indiz dafür, dass der Gesetzgeber eine Legalzession nur dann beabsichtigt habe, wenn der Pensionsberechtigte auch „voll verpflegt“ werde, was etwa auch Verköstigung und sonstige Aufwendungen des täglichen Lebens umfassen würde. Allerdings teile das Berufungsgericht die Ansicht nicht, dass mit dem in den Gesetzesmaterialien genannten Stundensatz eine „24-Stunden-Rundumbetreuung“ möglich sei, zumal im vorliegenden Fall bereits die Kosten der Teilbetreuung 152 EUR netto pro Tag ausmachten. Eine sozialtherapeutische Wohneinrichtung unterscheide sich doch wesentlich von den in § 324 Abs 3 ASVG genannten Einrichtungen. Die rechtliche Grundlage für den Aufenthalt in einer solchen Einrichtung bilde § 51 Abs 2 StGB, wo nicht von einer „Vollunterbringung“ der bedingt entlassenen Person die Rede sei, sondern nur bestimmt werde, dass dem Rechtsbrecher insbesondere aufgetragen werden könne, an einem bestimmten Ort, bei einer bestimmten Familie oder in einem bestimmten Heim zu wohnen. Im Anwendungsbereich des § 324 Abs 4 ASVG reiche es aus, dass der Pensions- bzw Rentenbezieher in einer sozialtherapeutischen Einrichtung betreut werde, für die der Bund die Kosten zu tragen habe, ohne dass es auch für diese Fälle einer „24-Stunden-Rundumbetreuung“ bedürfte. Jedenfalls dann, wenn die vom Bund zu tragenden Kosten wie hier den Pensionsanspruch (bei weitem) überstiegen, sei es in solchen Fällen gerechtfertigt, eine Legalzession iSd § 324 Abs 3 ASVG anzunehmen.

[11]     Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob auch im Fall einer Unterbringung gemäß § 179a StGB eine umfassende „Vollversorgung“ (einschließlich Verköstigung) vorliegen müsse, damit die Legalzession nach § 324 Abs 3 ASVG eintrete.

Rechtliche Beurteilung

[12]     Die Revision des Beklagten ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch berechtigt.

[13]     1.1. Wird ein Renten-(Pensions-)berechtigter auf Kosten eines Trägers der Sozialhilfe oder auf Kosten eines Trägers der Jugendwohlfahrt in einem Alters-(Siechen-)heim oder Fürsorgeerziehungsheim, einer Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke, einer Trinkerheilstätte oder einer ähnlichen Einrichtung bzw außerhalb einer dieser Einrichtungen im Rahmen eines Familienverbandes oder auf einer von einem Träger der öffentlichen Wohlfahrtspflege oder von einer kirchlichen oder anderen karitativen Vereinigung geführten Pflegestelle verpflegt, so geht gemäß § 324 Abs 3 ASVG für die Zeit dieser Pflege der Anspruch auf Rente bzw Pension (einschließlich allfälliger Zulagen und Zuschläge) bis zur Höhe der Verpflegskosten, höchstens jedoch bis zu 80 %, auf den Träger der Sozialhilfe oder auf den Träger der Jugendwohlfahrt über; das Gleiche gilt in Fällen, in denen ein Renten-(Pensions-)berechtigter auf Kosten eines Landes im Rahmen der Behindertenhilfe in einer der genannten Einrichtungen oder auf einer der genannten Pflegestellen untergebracht wird, mit der Maßgabe, dass der vom Anspruchsübergang erfasste Teil der Rente (Pension) auf das jeweilige Land übergeht.

[14]     1.2. Die in § 324 Abs 3 ASVG enthaltene Formulierung „verpflegt“ kann im Kontext einer Unterhaltsdeckung in natura nur im Sinn einer Zurverfügungstellung von „Hotelleistungen“ verstanden werden, die sowohl Unterkunft und Verköstigung als auch die damit in Zusammenhang stehenden Dienstleistungen wie Wohnraum- oder Wäschereinigung umfassen (Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm, § 324 ASVG Rz 16 [Stand 1. 10. 2019, rdb.at]).

[15]     2.1. Gemäß § 324 Abs 4 ASVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes (SRÄG) 2011 ist Abs 3 dieser Bestimmung sinngemäß auch in den Fällen anzuwenden, in denen eine renten-(pensions-)berechtigte Person oder eine Person mit Anspruch auf Rehabilitationsgeld nach § 21 Abs 1 StGB oder nach § 179a StVG auf Kosten des Bundes in einer Anstalt oder Einrichtung untergebracht ist, und zwar so, dass der vom Anspruchsübergang erfasste Betrag dem Bund gebührt. Diesen Betrag kann der Versicherungsträger unmittelbar an jene Anstalt oder Einrichtung auszahlen, in der die renten-(pensions-)berechtigte Person oder eine Person mit Anspruch auf Rehabilitationsgeld untergebracht ist.

[16]     2.2. Bis zum Inkrafttreten des SRÄG 2011 war eine Legalzession nach § 324 Abs 4 ASVG nur im Fall der Unterbringung einer pensions- oder rentenbeziehenden Person in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorgesehen. Mit dem SRÄG 2011 wurde sie auf jene Fälle ausgeweitet, in denen die leistungsbeziehende Person auf Grundlage einer gerichtlichen Weisung nach § 51 StGB stationär in einer (sozial-)therapeutischen (Wohn-)Einrichtung untergebracht wird und der Bund die Kosten dafür nach § 179a StVG übernimmt, „zumal auch in diesen Fällen der Bund die Kosten für die Unterbringung trägt und die untergebrachte Person umfassend versorgt wird“ (so die ErläutRV 1512 BlgNR 24. GP 11). Der Gesetzgeber des SRÄG 2011 ging davon aus, dass die Kosten für einen Tag der stationären Unterbringung zwischen 80 und 100 EUR liegen; damit sei eine „24-Stunden-Rundumbetreuung“ gedeckt, in der für die Unterbringung, die Verpflegung, die Medikation sowie den ärztlichen, psychologischen, pflegerischen und sozialarbeiterischen Personalaufwand gesorgt sei (ErläutRV aaO).

[17]     2.3. Im Einklang mit diesem Willen des Gesetzgebers lässt sich der in § 324 Abs 4 ASVG verwendete Begriff „untergebracht“ im gegebenen Zusammenhang nur so verstehen, dass die betroffene Person nicht nur mit einer Wohnmöglichkeit, sondern auch mit Lebensmitteln und sonstigen Artikeln des täglichen Bedarfs versorgt wird. Dies ergibt sich bereits daraus, dass in § 324 Abs 4 ASVG die Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB mit jener nach § 179a StVG gleichgestellt ist, ohne dass zwischen Personen im Maßnahmenvollzug nach § 21 StGB, denen also eine „24-Stunden-Rundumbetreuung“ zuteil wird, und solchen, denen nach § 179a StVG im Zusammenhang mit ihrer bedingten Entlassung (bloß) die Weisung erteilt wird, in einer sozialtherapeutischen Wohneinrichtung Aufenthalt zu nehmen, differenziert wird.

[18]     2.4. Wollte man im Sinn der Vorinstanzen bereits die bloße Wohnversorgung in einer sozialtherapeutischen Wohneinrichtung für die Legalzession nach § 324 Abs 4 ASVG genügen lassen, hätte dies eine ganz massive Schlechterstellung von aus der Haft bzw aus dem Maßnahmenvollzug bedingt entlassenen Personen gegenüber solchen, die sich noch in Strafhaft bzw im Maßnahmenvollzug befinden, zur Folge, weil Erstere mit jenen 20 % ihrer Pension, die Zweitere zusätzlich zu ihrer Vollversorgung als „Taschengeld“ erhalten, ihren Lebensunterhalt (mit Ausnahme der Wohnversorgung) bestreiten müssten. Dass dies mit 20 % des durch die Ausgleichszulage auf das Existenzminimum erhöhten Pensionsanspruchs des Beklagten nicht möglich ist, kann nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

[19]     2.5. An diesem Auslegungsergebnis kann auch der vom Berufungsgericht ins Treffen geführte Umstand nichts ändern, dass in § 51 Abs 2 StGB nicht von einer „Vollunterbringung“ die Rede ist. Für die Frage des Umfangs der Legalzession kommt es nämlich nicht auf jene (strafrechtliche) Norm an, die die Rechtsgrundlage für die dem Beklagten erteilte Weisung ist, sondern nur auf den Regelungsgehalt des § 324 ASVG.

[20]     2.6. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist es auch ohne Bedeutung, dass die von der Wohneinrichtung in Rechnung gestellten Kosten der bloßen Teilbetreuung (152 EUR netto täglich) den vom Gesetzgeber des SRÄG 2011 – also vor zehn Jahren – angenommenen Tagessatz von 80 bis 100 EUR deutlich überschreiten, dienten doch die entsprechenden Ausführungen der Gesetzesmaterialien in erster Linie der Darlegung des zu erwartenden finanziellen Aufwands für den Bund.

[21]     3. Zusammenfassend ist daher festzuhalten: Eine Legalzession nach § 324 Abs 4 ASVG setzt voraus, dass die renten- bzw pensionsberechtigte Person im Sinn einer „24-Stunden-Rundumbetreuung“ untergebracht ist, also insbesondere auch mit Nahrungsmitteln, Medikamenten etc voll versorgt wird.

[22]     4. Da diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind, sind die Urteile der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinn abzuändern.

[23]     Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des erstinstanzlichen Verfahrens auf § 41 iVm § 54 Abs 1a ZPO und hinsichtlich des Rechtsmittelverfahrens auf §§ 41, 50 ZPO. Der Erhöhungsbetrag nach § 23a RATG beträgt auch für die Revision nur 2,10 EUR, weil es sich dabei nicht um den verfahrenseinleitenden Schriftsatz handelt.

Textnummer

E133733

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0030OB00113.21W.1125.000

Im RIS seit

09.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

09.02.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten