TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/11 L529 2161079-1

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Veröffentlicht am 11.10.2021
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Entscheidungsdatum

11.10.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §55

Spruch


L529 2161079-1/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.05.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.06.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. – II. und III. erster Satz des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

III. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als BF bezeichnet) ist Staatsangehöriger des Irak. Er stellte nach illegaler Einreise in Österreich am 02.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.07.2015 gab der BF zum Fluchtgrund befragt an, dass er bei einer schwedischen Hilfsorganisation gearbeitet habe. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen seien von verschiedenen Milizen verfolgt und auch getötet worden, weshalb er seine Ehefrau und seine Tochter nach Dubai geschickt habe und selbst aus dem Irak geflüchtet sei. Bei Rückkehr fürchte er, getötet zu werden.

I.3. Am 23.03.2017 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF gab dabei an, dass er aus XXXX stamme, schiitischer Araber sei und vor seiner Ausreise in XXXX gelebt habe. Er habe in XXXX im Bezirksrat und in einem kleinen Handygeschäft gearbeitet. Er sei seit 2008 standesamtlich verheiratet, er und seine Ehefrau seien jedoch durch Milizen zwangsweise nach islamischem Recht geschieden. Die Ehefrau und die Tochter würden bei den Schwiegereltern leben. Die Eltern und Geschwister des BF seien nach wie vor in XXXX aufhältig, ein Bruder sei Asylwerber in XXXX . Zum Fluchtgrund befrag gab der BF im Wesentlichen zusammengefasst an, er sei im Bezirksrat in XXXX für Versteigerungsverträge, bei denen es um viel Geld gegangen sei, zuständig gewesen. Er habe die Aufforderung der Milizen, keine Verträge mehr zu erstellen, missachtet und sei in der Folge am 16.08.2012 von Männern der schiitischen Miliz Asaib Ahl Al Haqq acht Monate lang festgehalten und täglich gefoltert worden. Seine Freilassung habe er der XXXX Organisation zu verdanken, die Druck gemacht habe. Er habe in der Folge monatelang medizinische Behandlung benötigt. Er habe erfolglos versucht, ein polnisches Visum zu bekommen und aus dem Irak zu fliehen. Bei Rückkehr würde er umgebracht werden.

I.4. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde mit im Spruch genannten Bescheid des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Das BFA stellte fest, dass der BF eine konkrete persönliche Bedrohung oder Verfolgung wegen seiner Tätigkeit in einem Bezirksrat nicht habe glaubhaft machen können.

I.5. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben und dieser in vollem Umfang wegen Rechtswidrigkeit in Folge Verletzung von Verfahrensvorschriften, Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie Aktenwidrigkeit und unrichtiger Beweiswürdigung angefochten.

I.6. Der Verwaltungsakt langte am 09.06.2017 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde vorerst der Gerichtsabteilung L523 zugeteilt.

I.7. Dem Bundesverwaltungsgericht wurden am 07.02.2018 Nachweise zur Integration des BF übermittelt.

I.8. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 16.10.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L523 abgenommen und mit 23.10.2018 der Gerichtsabteilung L528 neu zugewiesen. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2019 wurde die Rechtssache wegen Ausscheidens des Leiters der Gerichtabteilung L528 der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und mit 06.03.2019 der Gerichtsabteilung L529 neu zugeteilt.

I.9. Mit Beschwerdeergänzung vom 15.07.2019 verwies der BF abermals auf seine Gefährdung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Berufsgruppe bzw. wegen seiner (unterstellten) Gesinnung sowie auf die prekäre Sicherheitslage im Irak, auf seine gesundheitlichen Einschränkungen und seine Integration in Österreich.

1.10. Mit Schreiben vom 18.03.2021 ersuchte der BF um Einladung zu einer Einvernahme und Beendigung seines Falles.

I.11. Für den 17.06.2021 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung. Mit der Ladung wurden dem BF länderkundliche Informationen zum Irak übermittelt und die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu eingeräumt.

I.12. Am 21.05.2021 langte beim BVwG die Vollmachtserteilung an die BBU GmbH - Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen ein.

I.13. Am 14.06.2021 wurden dem BVwG Unterlagen zur Integration des BF übermittelt und mitgeteilt, dass der BF seit 28.07.2020 mit der slowakischen Staatsbürgerin, Frau XXXX , geb. XXXX , verheiratet sei und mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt in XXXX wohne.

I.14. Am 17.06.2021 wurde von 08.30 bis 12.55 Uhr eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, bei der der BF Gelegenheit hatte, zum Fluchtvorbringen, zu seiner Integration und seiner Rückkehrsituation Stellung zu nehmen und bei der auch die Ehefrau des BF als Zeugin gehört wurde.

I.15. Hinsichtlich des detaillierten Verfahrensherganges wird auf den Akteninhalt verwiesen.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen (Sachverhalt):

II.1.1. Zur Person der BF:

Der BF ist Staatsangehöriger des Irak, führt den im Spruch genannten Namen, gehört der Volksgruppe der Araber und der schiitischen Religionsgemeinschaft an. Seine Identität steht fest.

Der BF reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 02.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist in Bagdad geboren, in XXXX aufgewachsen und war zuletzt in XXXX wohnhaft. Er besuchte in seinem Heimatland mehrere Jahre die Schule und war als IT-Angestellter erwerbstätig.

Der BF war in seinem Herkunftsland verheiratet und ist seit 08.03.2017 geschieden. Er hat mit seiner Exfrau eine im Jahr XXXX geborene Tochter.

Familienangehörige des BF (Mutter und Geschwister, Exfrau und eine Tochter) sind im Herkunftsland aufhältig; der BF steht mit der Mutter in regelmäßigem Kontakt. Der Vater ist verstorben.

Der BF wurde in Österreich im August 2016 am Ellbogengelenk operiert (offene Arthrolyse Ellbogengelenk rechts). Am 02.07.2018 wurde beim BF in der Notfallsambulanz des AKH XXXX der Verdacht auf posttraumatische Belastungsreaktion diagnostiziert, am 13.01.2019 ein psychogenes nicht epileptisches Anfallsgeschehen (PNES), wobei eine epileptische Genese nicht auszuschließen war, und im Juli 2019 eine depressive Episode F32.9, eine posttraumatische Belastungsstörung F43.1 sowie dissoziative Krampfanfälle F44.3 und dazu eine Medikation empfohlen (OZ 9). Der BF ist nicht lebensbedrohlich erkrankt oder akut behandlungsbedürftig und er ist arbeitsfähig.

Der BF ist seit 28.07.2020 mit einer slowakischen Staatsangehörigen verheiratet und lebt mit ihr in einer gemeinsamen Wohnung in XXXX .

Ein Bruder des BF, der ebenfalls in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, lebt in XXXX .

Der BF verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. Er hat sich in Österreich einen Freundeskreis aufgebaut, verfügt über ein Unterstützungsschreiben, war von 11.11.2020 – 15.04.2021 als geringfügig beschäftigter Angestellter und ist seit 14.04.2021 als Angestellter erwerbstätig. Er ist selbsterhaltungsfähig mit einem Einkommen von derzeit monatlich EUR XXXX brutto.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Heimatland einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt war oder im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine solche zu erwarten hätte.

Es konnte zudem, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände, nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Es wird festgestellt, dass dem BF im Rückkehrfall keine lebens- bzw. existenzbedrohende Notlage droht. Dem BF ist eine Rückkehr in seine Herkunftsregion zum Entscheidungszeitpunkt zumutbar.

II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

II.1.3.1. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak wurden dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Länderinfo COI CMS Staatendoku Irak vom 10.05.2021, Version 3) übermittelt und in der hg. mündlichen Verhandlung folgende Berichte ins Verfahren eingeführt:

* EASO, Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019

* EASO Irak - Sicherheitslage, Oktober 2020

* EASO Irak – zentrale sozioökonomische Indikatoren, Februar 2019

* UNHCR – Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen; Mai 2019

* IBC, aktuelle Version

* BMF, Länderreport 25 Irak, Die Entstehung einer neuen Protestbewegung, 05/2020

II.1.3.2. Es wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen:

Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole XXXX im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Februar 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranische PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

(ACCORD 26.2.2020)

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken).

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).


Iraq Body Count, Teilausdruck vom 27.01.2021

Monatliche zivile Todesfälle durch Gewalt, ab 2003; Teilausdruck vom 23.06.2021

 

Jan

Feb

Mar

Apr

Mai

Jun

Jul

Aug

Sep

Okt

Nov

Dec

 

2003

3

2

3977

3438

545

597

646

833

566

515

487

524

12,133

2004

610

663

1004

1303

655

910

834

878

1042

1033

1676

1129

11,737

2005

1222

1297

905

1145

1396

1347

1536

2352

1444

1311

1487

1141

16,583

2006

1546

1579

1957

1805

2279

2594

3298

2865

2567

3041

3095

2900

29,526

2007

3035

2680

2728

2573

2854

2219

2702

2483

1391

1326

1124

997

26,112

2008

861

1093

1669

1317

915

755

640

30°

612

594

540

586

10,286

2009

372

409

438

590

428

564

431

653

352

441

226

478

5,382

2010

267

305

336

385

387

385

488

520

254

315

307

218

4,167

2011

389

254

311

289

381

386

308

401

397

366

288

392

4,162

2012

531

356

377

392

304

529

469

422

400

290

253

299

4,622

2013

357

360

403

545

888

659

1145

1013

1306

1180

870

1126

9,852

2014

1097

972

1029

1037

1100

4088

1580

3340

1474

1738

1436

1327

20,218

2015

1490

1625

1105

2013

1295

1355

1845

1991

1445

1297

1021

1096

17,578

2016

1374

1258

1459

1192

1276

1405

1280

1375

935

1970

1738

1131

16,393

2017

1119

982

1918

1816

1871

1858

1498

597

490

397

346

291

13,183

2018

474

410

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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