TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/4 L502 2151948-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.11.2021
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Entscheidungsdatum

04.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L502 2151948-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 08.03.2017, FZ. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.05.2021 zu Recht erkannt:

A)

1. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I, II und III, erster Satz, als unbegründet abgewiesen.

2. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt III, zweiter Satz, stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen XXXX gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

3. Gemäß § 55 Abs. 1 Z. 1 und 2 AsylG wird XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.

4. Spruchpunkt III, dritter Satz, und Spruchpunkt IV des Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte im Gefolge seiner unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 02.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 03.05.2016 erfolgte seine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes. In der Folge wurde das Verfahren zugelassen.

3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) richtete am 08.11.2016 eine Anfrage an die Staatendokumentation, deren Beantwortung am 23.11.2016 beim BFA einlangte.

4. Am 25.11.2016 wurde der BF vor dem BFA zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen.

5. Mit Eingabe vom 05.12.20216 brachte er beim BFA mehrere Beweismittel in Vorlage.

6. Das BFA richtete am 25.11.2016 eine weitere Anfrage an die Staatendokumentation, deren Beantwortung am 17.02.2017 einlangte.

7. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 08.03.2017 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde sein Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV).

8. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 08.03.2017 wurde ihm von Amts wegen gemäß § 52 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

9. Gegen den ihm am 10.03.2017 zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz seiner ehemaligen Vertretung vom 24.03.2017 fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde erhoben.

10. Mit 03.04.2017 langte die Beschwerdevorlage des BFA beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren der nunmehr zuständigen Abteilung des Gerichts zur Entscheidung zugewiesen.

11. Am 14.05.2018 langte im Wege des BFA eine Mitteilung über die Ausstellung eines KFZ-Führerscheins an den BF beim BVwG ein.

12. Mit Eingabe vom 02.07.2020 gab die vormalige Vertretung des BF die Auflösung des Vertretungsverhältnisses bekannt.

13. Mit Eingabe vom 14.07.2020 brachte ein vom BF beauftragter Rechtsanwalt eine schriftliche Stellungnahme beim BVwG ein und gab gleichzeitig bekannt, dass diesem im Übrigen keine Vertretungsvollmacht erteilt wurde.

15. Das BVwG führte am 16.07.2020 eine mündliche Verhandlung in der Sache des BF in dessen Anwesenheit durch. Er legte im Zuge und im Gefolge der Verhandlung mehrere Beweismittel vor, die zum Akt genommen wurden. Dabei wurden ihm auch Länderberichte zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und ihm Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme dazu eingeräumt, worauf er verzichtete.

16. Mit Eingabe vom 28.07.2020 brachte er weitere Beweismittel in Vorlage.

17. Der BF wurde mit Schreiben des BVwG vom 05.10.2020 zur Vorlage eines Zeugnisses über eine abgelegte Deutschprüfung aufgefordert, das er am 21.10.2020 vorlegte.

18. Das BVwG führte am 19.05.2021 eine weitere mündliche Verhandlung in Anwesenheit des BF durch. Auch dabei wurden ihm Länderberichte zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und ihm Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme dazu eingeräumt, worauf er erneut verzichtete.

19. Mit Eingabe vom 11.06.2021 brachte er weitere Beweismittel in Vorlage.

20. Das BVwG erstellte aktuelle Auszüge aus den Datenbanken der Grundversorgungsinformation, des AJ-Web, des Firmenbuchs, des Melde- sowie des Strafregisters.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist türkischer Staatsangehöriger und gehört der kurdischen Volksgruppe sowie der alevitischen Glaubensgemeinschaft an.

Er stammt aus XXXX , wo er vor der Ausreise bei seiner älteren Schwester lebte. Er besuchte in der Türkei für insgesamt zwölf Jahre die Schule und schloss ein Gymnasium ab. Danach absolvierte er an der XXXX Universität in XXXX einen zweijährigen Informatik-Studienlehrgang an der dortigen Fakultät für Informatik, den er am 04.08.2011 erfolgreich abschloss. Er verfügt über einen Gewerbeschein zur Ausübung des Gewerbes des Computertechnikers in der Türkei. Er hat danach ein Universitätsstudium begonnen, dieses jedoch im Jahr 2015 abgebrochen. Es konnte nicht festgestellt, um welches Studium es sich dabei handelte. Neben dem Studium arbeitete er als Kellner oder bei der Obsternte. Im letzten Studienjahr erhielt er außerdem eine staatliche Unterstützung. Nach seinem Studium war er von Sommer 2015 bis November 2015 als Hausmeister in einem Hotel in XXXX erwerbstätig. Danach ging er bis zur Ausreise keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit mehr nach.

In der Türkei leben noch eine Schwester und drei Brüder des Beschwerdeführers. Seine Schwester lebt in XXXX und betreibt dort eine Tabakfirma. Sein ältester Bruder arbeitet als Kranführer in XXXX , dessen Familie lebt jedoch ebenfalls in XXXX . Sein zweitältester Bruder wurde wegen dessen Beteiligung an Aktivitäten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt und ist deswegen in einer Haftanstalt in XXXX inhaftiert. Sein jüngerer Bruder verfügt über eine aufrechte Meldeadresse in XXXX , hält sich aktuell jedoch als Monteur von Windrädern in der Ukraine auf. Er hat zudem mehrere Onkel und Tanten in XXXX , XXXX und XXXX . Er steht mit seinen Verwandten in der Türkei in regelmäßigem Kontakt.

Er hat die Türkei am 25.04.2016 legal unter Verwendung seines türkischen Reisepasses nach Serbien verlassen. Ausgehend von dort gelangte er mit einem Schlepper auf dem Landweg bis ins österreichische Bundesgebiet, wo er am 02.05.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.

1.2. In Österreich leben die Eltern des BF, eine Schwester und mehrere weitere Verwandte. Er hat auch Verwandte in den Niederlanden. Seine Eltern ließen sich 2015 scheiden. Beide verfügen über einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot Karte Plus“. Der BF lebt zusammen mit seiner Mutter in einer Wohnung. Seine Mutter ist als Reinigungskraft erwerbstätig. Seine Schwester hat geheiratet und lebt inzwischen bei deren Ehegatten. Ihr kommt der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ zu. Auch mit seinem Vater steht er in Kontakt.

Er ist als Gesellschafter zu 50% an einem Imbissstand beteiligt. Im Geschäftsjahr 2019 wies die Gesellschaft einen Bilanzgewinn in Höhe von XXXX Euro aus. Er plant die Auflösung seiner Beteiligung an dieser Gesellschaft. Seit Oktober 2020 betreibt er mit Freunden einen anderen Imbissstand. Dafür gründete er eine OHG zusammen mit zwei weiteren Mitgesellschaftern. Seit 01.11.2020 ist er bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen versichert. Sein Anteil am Gewinn der OHG belief sich im Jahr 2020 auf XXXX Euro. Seine monatlichen Durchschnittseinkünfte beliefen sich im Zeitraum 01.01.2021 bis 30.03.2021 auf XXXX Euro.

Er bezog von 02.05.2016 bis 31.08.2018 und von 01.11.2018 bis 28.02.2019 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber.

Er hat eine Deutschprüfung auf dem Niveau A2 bestanden und verfügt über alltagstaugliche Deutschkenntnisse. Er trat im Jahr 2020 zwei Mal zur Deutschprüfung auf dem Niveau B1 an, hat diese jedoch beide Male nicht bestanden.

Er gibt ehrenamtlich Tanzunterricht für Jugendliche in einer Kirche und arbeitet bei Theaterstücken dieser Kirche mit. Er hat private Anknüpfungspunkte in Österreich.

Er spricht Kurdisch als Muttersprache und sehr gut Türkisch. Er leidet an keinen gravierenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist voll erwerbsfähig.

Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Er hat die Türkei nicht aufgrund individueller Verfolgung durch türkische Staatsorgane verlassen und ist auch bei einer Rückkehr dorthin nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt.

Er beteiligte sich im Zuge eines Wahlkampfes im Jahr 2015 an der Wahlwerbung der Halklar?n Demokratik Partisi (HDP), indem er in mehreren kleinen Ortschaften Mundpropaganda betrieb.

Gegen ihn wurde seitens der Oberstaatsanwaltschaft XXXX am 01.06.2015 wegen Propaganda für eine Terrororganisation Anklage erhoben. Am 05.06.2015 fand eine mündliche Verhandlung vor einem Strafgericht statt. Am selben Tag wurde das strafgerichtliche Urteil verkündet und der BF zu einer Haftstrafe von einem Jahr, herabgesetzt auf zehn Monate, verurteilt. Die Haftstrafe wurde mit einer fünfjährigen Probezeit zur Gänze bedingt nachgesehen.

Er hat seinen Militärdienst in der Türkei noch nicht abgeleistet. Er wurde auch noch nicht zum Militärdienst einberufen und hat sich noch nicht der Musterung unterzogen.

1.4. Er ist bei einer Rückkehr in den Türkei auch nicht aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und findet dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor.

1.5. Zur aktuellen Lage in der Türkei:

1.5.1. COVID-19

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Nach den ersten vier Monaten des Jahres 2021 verzeichnete das Land 40.000 Corona-Tote bei offiziell annähernd 4,9 Mio. Infizierten. Bis Jahresende 2020 waren es rund 2,2 Mio Fälle und cirka 21.000 Tote. Das heißt innert der ersten vier Monate des Jahres 2021 haben sich beide Werte fast verdoppelt (JHU 3.5.2021). Mit Stand 5.5.2021 waren laut Angaben des Gesundheitsministeriums 14,25 Mio. Menschen, bei einer Bevölkerung von 85 Mio., mit einer ersten Dosis des Impfstoffs geimpft, während 9,82 Millionen eine zweite Dosis erhalten haben. Somit waren offiziell 25% der Einwohner zumindest einmal geimpft (Ahval 5.5.2021).

Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020).

Beginnend mit 1.12.2020 war ein Lockdown in Kraft getreten, welcher u.a. unter der Woche eine nächtliche und an den Wochenenden eine totale Ausgangssperre vorsah. Eingeführt wurde der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021).

Nachdem es durch strenge Maßnahmen gelang, die zweite Corona-Welle im Jänner etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab 1.3.2021 Lockerungen, die die Regierung als "Normalisierungsprozess" bezeichnete (DW 3.4.2021). Davon abgesehen, ermächtigte die Regierung die Provinzbehörden, lokale Quarantänen und Ausgangssperren auf der Grundlage von epidemiologischen Daten zu verhängen (Garda World 1.3.2021). Doch seit den Lockerungen stiegen die Corona-Infektionen explosionsartig. Opposition und Ärzte gaben der Regierung die Schuld, wonach letztere mehrfach fahrlässig gehandelt hätte. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement (DW 3.4.2021). Der TTB verlangte Ende März 2021 angesichts der rasant steigenden Fallzahlen, u.a. die Mobilität auf stark frequentierten Straßen in den Städten ebenso einzuschränken wie Massenkontakte zwischen Menschen in geschlossenen Räumen. Zudem forderte der Ärzteverband von der Regierung mehr Transparenz hinsichtlich der COVID-19-Zahlen, des Impfprogramms sowie der Anwendung der Klassifizierungskritierien für die Provinzen (Reuters 26.3.2021).

Am 13.4.2021 wurde zunächst ein Teil-Lockdown wieder eingeführt, welcher eine verlängerte abendliche Ausgangssperre an Wochentagen, eine Rückkehr zum Online-Unterricht und ein Verbot von unnötigen Überlandfahrten beinhaltete (AP 18.4.2021). Die Bewohner mussten während der Ausgangssperre in ihren Häusern bleiben, außer zwecks Verrichtung einer wichtigen Arbeit oder aus dringenden medizinischen Gründen. Alle Veranstaltungen wie Hochzeiten und persönliche Feiern wurden bis zum 12.5.2021 ausgesetzt (Garda World 13.4.2021). Angesichts von täglichen Fallzahlen von über 60.000 bei über 300 Toten wurde überdies eine Ausgangssperre am Wochenende in Risikostädten, wie Istanbul oder Ankara, verhängt (Ahval 21.4.2021). Zuvor hatte Präsident Erdo?an auch wieder Wochenendsperren verhängt und die Schließung von Restaurants und Cafés während des heiligen muslimischen Monats Ramadan angeordnet (AP 18.4.2021).

Angesichts der steigenden Fall- und Todeszahlen wurde am 26.4.2021 ein fast dreiwöchiger verschärfter Lockdown, beginnend mit 29.4.2021, verkündet (AP 27.4.2021). Bis 17.5.2021 besteht (bestand) landesweit ein generelles Ausgangsverbot. Nebst Mindestabstand gilt an allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, Maskenpflicht. Einkäufe dürfen nur montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr in Gehnähe und zu Fuß, nicht mit dem PKW, durchgeführt werden. Gastronomische Stätten haben nur für Lieferservice geöffnet. Einzelhandel, körpernahe Berufe ebenso wie Kinos, Bäder etc, bleiben geschlossen. Versammlungen und Hochzeiten sind verboten. Schulen und Kindergärten bleiben für den Präsenzunterricht geschlossen (WKÖ 27.4.2021; vgl. Garda World 27.4.2021). Allerdings wurden Millionen von Menschen von diesem ersten landesweiten Lockddown ausgenommen. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des Gesundheitssektors und Vollzugsbeamten auch Fabrik- und Landwirtschaftsarbeiter sowie Mitarbeiter von Lieferketten und Logistikunternehmen. Auch Touristen waren ausgenommen. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu 16 Mio. der 84 Mio. Einwohner während des Lockdowns trotzdem unterwegs sein würden (AP 30.4.2021).

1.5.2. Wehrdienst

In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden. Türkische Staatsbürger, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Ausland haben, sind ab dem Jahr, in dem sie 19 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 38 Jahre alt werden, verpflichtet, der Einberufung zu folgen. Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 10.2020). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).

Mit dem Gesetz 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt, und die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst permanent geregelt. Bis dahin gab es nur befristete Regelungen (ÖB 10.2020). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden. Wehrpflichtige Auslandstürken absolvieren statt dieser verkürzten Grundausbildung einen Fernkurs gemäß den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und müssen nicht mehr einrücken. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe beläuft sich mit Stand Oktober 2020 auf rund € 5.560 (ÖB 10.2020). Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahre arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 10.2020). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (Connection e.V. 11.7.2019; vgl. DFAT 10.9.2020) sind u.a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 10.2020).

Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter "fortgeschrittene psychosexuelle Störungen". Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 10.2020; vgl. EC 6.10.2020). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle "Beweismittel" nachgewiesen werden (ÖB 10.2020; vgl. AA 24.8.2020).

Berichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten. Menschenrechtsgruppen berichten, dass verdächtige Todesfälle im Militär weit verbreitet sind. Die Regierung untersuchte sie nicht systematisch und gibt keine Informationen hierzu frei. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (?HD) und Menschenrechtsstiftung der Türkei (T?HV) meldeten mindestens 18 verdächtige Todesfälle im Jahr 2020 (USDOS 30.3.2021, S.7).

1.5.3. Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee

Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Es gibt keine Hinweise darauf, dass kurdisch-stämmige Rekruten alleine wegen ihrer Abstammung anders behandelt werden (VB 4.6.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen (MFA-NL 11.7.2019).

Nach vorliegenden Information besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB 10.2020). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 1.10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele von Misshandlungen an Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz XXXX im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. In einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirta? auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (MFA-NL 11.7.2019). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Meszopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019; vgl. K24 10.5.2018).

1.5.4. Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion

Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (MFA-NL 11.7.2019; vgl. AA 24.8.2020, DFAT 10.9.2020). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 10.2020; vgl. AA 24.8.2020). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakç?l???), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019). Seit Änderung von Art. 63 des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020). Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen, jedoch meldet das Verteidigungsministerium nach Art. 26 dem Innenministerium, wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, damit diese festgenommen werden können (AA 24.8.2020).

Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 10.2020). Zuletzt äußerte sich das Ministerkomittee des Europarates im Juni 2020 zur Situation der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei. Darin wurde die Türkei aufgefordert, die Strafverfolgung gegen drei namentlich angeführte Wehrdienstverweigerer einzustellen und desweiteren bis 21.6.2021 einen Aktionsplan mit konkreten Vorschlägen zu Maßnahmen vorzulegen, um die Feststellung des Gerichtshofes zu dieser Gruppe von Fällen zu berücksichtigen (CoE-CoM 4.6.2020).

Das türkische Gesetz zu Desertion definiert in Artikel 66 die Strafe für Desertion. Militärpersonal wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren belegt: wenn die betreffende Person sich von ihrer Einheit oder ihrem Einsatzort ohne Urlaub für mehr als sechs Tage entfernt hat; oder wenn die betreffende Person nach einem absolvierten Urlaub nicht innerhalb von sechs Tagen zum Dienst zurückkehrt und keine Entschuldigung dafür hat. Die Strafe beläuft sich auf mindestens zwei Jahre Gefängnis, wenn die Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn die Person während des Dienstes desertiert oder wenn die Person die Übertretung wiederholt. Artikel 67 definiert, dass Militärpersonal, das ins Ausland geflohen ist, mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, und zwar nach einer Absenz von drei Tagen, falls die betreffende Person das Land ohne Erlaubnis verlässt. Die Strafe soll mindestens fünf Jahre betragen und auf bis zu zehn Jahre erhöht werden: wenn die ins Ausland geflohene Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn sie während des Dienstes desertiert; wenn sie die Übertretung wiederholt; oder wenn sie während einer Mobilisierung (im Falle eines Krieges) desertiert. Schließlich können desertierte Militärangehörige für Befehlsverweigerung angeklagt und bestraft werden. Für andauernden Ungehorsam in der Öffentlichkeit drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Wer andere Soldaten zum Ungehorsam anstiftet, kann mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden (SFH 22.3.2018).

(Quelle: Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation aus dem COI-CMS, Version 3 generiert am 18.05.2021)

1.6.1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).

Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Stimmen stärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn- Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei derVölker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, XXXX und XXXX an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019). Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).

Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).

Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).

1.6.2. Sicherheitslage

Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, XXXX , ??rnak, Hakkâri und XXXX besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre(Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Ar? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein ? hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkâri, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, XXXX und XXXX , wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).

1.6.3. Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei, PKK, die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 haben PKK-Attentate und Operationen mehr als 40.000 militärische und zivile Opfer gefordert. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2019).

Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 6.2019)

2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch HDP-Politiker zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro- kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2019). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK- Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2019). Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich im Berichtszeitraum (2018) fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH-D 6.2019).

1.6.4. Aleviten

Alevi ist die Bezeichnung für eine große Zahl von heterodoxen muslimischen schiitischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen Merkmalen. Damit bilden die Aleviten die größte religiöse Minderheit in der Türkei. Technisch gesehen fallen sie unter die schiitische Konfession des Islam, folgen aber einer grundlegend anderen Interpretation als die schiitischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Sie unterscheiden sich auch erheblich in ihrer Praxis und Interpretation des Islam von der sunnitischen muslimischen Mehrheit (MRGI 6.2018). Während die meisten Aleviten ihren Glauben als eigenständige Religion betrachten, identifizieren sich einige als Schiiten oder Sunniten oder sehen ihre alevitische Identität überwiegend in einem kulturellen und nicht religiösen Rahmen. Aleviten sind meist säkular und unterstützen eine strikte Trennung von Religion und Politik (DFAT 9.10.2018; vgl. USCIRF 4.2019). Die Zahl der Aleviten ist umstritten. Schätzungen aus verschiedenen Quellen variieren beträchtlich, von etwa zehn bis zu 40% der Gesamtbevölkerung. Aktuelle Zahlen deuten auf eine Zahl von 20 bis 25 Millionen hin (MRGI 6.2018). Die türkische Regierung erkennt die Aleviten nicht offiziell an, weshalb sie bei Volkszählungen zu den Muslimen hinzugezählt werden (GI 18.1.2018). Viele Aleviten sind auch Kurden, obwohl die geschätzten Zahlen wiederum sehr unterschiedlich sind (zwischen einer halben und mehreren Millionen). Kurdische Aleviten identifizieren sich in erster Linie eher als Aleviten (DFAT 9.10.2018). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollten. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRGI 6.2018). Während die Aleviten über die ganze Türkei zerstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. XXXX (Dersim) ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95%) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 9.10.2018). Das Alevitentum wird offiziell nur als kulturelles Phänomen, nicht aber als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevi) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind (ÖB 10.2019; vgl. FH 4.3.2020), und dies trotz eines anderslautenden Urteils des Obersten Gerichtshofs vom November 2018. Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB 10.2019 FH 4.3.2020). Dies hat auch den Ausschluss von staatlichen Zuwendungen zur Folge (FH 4.3.2020). Die Aleviten veranstalteten in jüngster Zeit mehrere Demonstrationen und gaben eine Reihe von Presseerklärungen zur Aufhebung des obligatorischen Religionsunterrichts und zur Beendigung der diskriminierenden Haltung gegenüber den Aleviten in Bildung, Beschäftigung und sozialem Leben ab (EC 29.5.2019). Ein Teil der Aleviten bemüht sich um Anerkennung als eigene Konfession und Gleichstellung mit dem sunnitischen Islam (Gebetshäuser, staatliche Bezahlung der GebetshausvorsteherInnen, etc.). Das Thema Aleviten und Anerkennung ihrer Rechte bzw. Reformen zur Gleichstellung ihres Status verschwand seit dem Putschversuch 2016 gänzlich aus der öffentlichen Auseinandersetzung (ÖB 10.2019).

Die türkische Regierung hat den Aktionsplan, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt wurde und sich auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte über Cem-Häuser und obligatorischen Religionsunterricht bezieht, nicht umgesetzt (EC 29.5.2019). Andererseits berichtet der Vertreter des Europarates in Ankara von ersten Schritten zur Umsetzung eines Urteils des EGMR aus 2016 hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) (ÖB 10.2019). Trotz dieser Fortschritte gibt es weiterhin Probleme. Immer wieder werden alevitische Häuser mit abfälligen oder türkisch-nationalistischen Parolen beschmiert. Im November 2017 brachten die alevitischen Gemeindeleiter ihre Besorgnis zum Ausdruck, als 13 Häuser in der östlichen Provinz XXXX mit roten Kreuzen beschmiert wurden. Und im selben Monat griff ein Mob ein Cem-Haus in Istanbul an und versuchte es in Brand zu setzen (MRGI 6.2018). Außerdem wurden nach dem Putschversuch tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdo?an und der regierenden AKP pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben. Die massive Verfolgung der Aleviten ist bis heute vor allem in der Provinz Dersim (türkisch: XXXX ), im alevitischen Kernland spürbar (GI 18.1.2018). Im März 2018 nahmen die Behörden in Erzincan 16 Mitglieder der alevitischen Pir Sultan Abdal Kulturvereinigung wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation fest. Lokale Vertreter des Vereins sagten, dass sie wegen ihrer Arbeit zum Schutz und zur Förderung des alevitischen Glaubens inhaftiert wurden. Im August 2018 erfolgte die Anklage wegen "Anstiftung zum Hass in der Öffentlichkeit" und "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung". Im Dezember 2018 wurden 12 der 17 Angeklagten zu zwei bis sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (USDOS 21.6.2019).

1.6.5. Kurden

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südostanatolien, wo sie die Mehrheit bilden, und auf Nordostanatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die Westtürkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südosttürkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst eine kurdische Mittelschicht in städtischen Zentren, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 9.10.2018).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 11.3.2020). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte 2018 ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 29.5.2019). Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 11.3.2020).

Der Druck auf kurdische Medien und die Berichterstattung über kurdische Themen hält durch Gerichtsverfahren und Verhaftungen von Journalisten an (EC 29.5.2019). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Es gibt Berichte über die Entlassung kurdischer Wissenschaftler und Dozenten, die teilweise unter Terrorismus-Verdacht stehen, und gegen die entsprechende Untersuchungen laufen. Weiters kam es zur Schließung kurdischsprachiger NGOs und Institutionen. Der Druck auf kurdische Medien besteht weiterhin und kurdische Bücher wurden verboten. Im Südosten wurden mehrere Gedenk- und Literaturdenkmäler kurdischer Persönlichkeiten sowie Veranstaltungen und zweisprachige Straßenschilder von durch die Regierung ernannte Treuhändern und Behörden entfernt. Andere Vereine, kurdischsprachige Medien und Kulturinstitutionen blieben geschlossen (EC 29.5.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 14.6.2019).

Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgesetzt sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West- Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert, identifizieren sich mit der türkischen Nation und leben ihr Leben auf normale Weise. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen (DFAT 9.10.2018). Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 14.6.2019). Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Zwei Universitäten hatten Kurdisch-Institute. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten (USDOS 11.3.2020).

Die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache, dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP drangsaliert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen Erdo?an den HDP-Kandidaten Demirta? bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018).

(Quelle: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei, Stand 08.04.2020)

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des BFA unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes sowie der vom BF vorgelegten Beweismittel, die Durchführung zweier mündlicher Verhandlung, die Einsichtnahme in vom BVwG beigeschaffte länderkundliche Informationen sowie die Einholung von Auskünften des Melderegisters, des Strafregisters, des AJ-Web, des Firmenbuchs und des Grundversorgungsdatensystems den BF betreffend.

2.2. Identität und Staatsangehörigkeit des BF waren anhand der von ihm vorgelegten nationalen Identitätsdokumente feststellbar. Die Feststellungen der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe und zur alevitischen Religionsgemeinschaft stützen sich auf die entsprechenden Angaben des BF während des gesamten Verfahrens.

Die Feststellungen zu den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen des BF im Herkunftsstaat vor der Ausreise sowie in Österreich im Gefolge derselben, zu den in Österreich lebenden Verwandten und deren Aufenthaltsstatus, zum Reiseverlauf zwischen der Türkei und Österreich, zu den Lebensumständen seiner Verwandten in der Türkei, zu seinem Gesundheitszustand, seiner strafgerichtlichen Unbescholtenheit und seinen sonstigen Integrationsbemühungen sowie den hiesigen Erwerbstätigkeiten ergaben sich in unstrittiger Weise aus einer Zusammenschau seiner persönlichen Angaben im Verlauf des gg. Verfahrens, dem Inhalt der von ihm vorgelegten Unterlagen sowie aus den vom BVwG eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.

Dass er inzwischen über alltagstaugliche Deutschkenntnisse verfügt, war aufgrund der von ihm wahrgenommenen Spracherwerbsmaßnahmen und absolvierten Sprachprüfungen in Verbindung mit seinem etwa fünfeinhalbjährigen Aufenthalt in Österreich, seiner sozialen Vernetzung und seiner hiesigen Erwerbstätigkeit festzustellen, zumal daraus nach allgemeiner Erfahrung ein entsprechender Spracherwerb resultiert. Dies bestätigte sich durch die von ihm in der mündlichen Verhandlung demonstrierten Deutschkenntnisse.

Aufgrund der uneinheitlichen Angaben des BF zum von ihm der Türkei begonnen Studium – in der erstinstanzlichen Einvernahme sprach er von einem zweijährigen informationstechnologischen Studium an einer Universität, während er in der mündlichen Verhandlung vermeinte ein Englischstudium an einer Fachhochschule begonnen zu haben – konnte nicht festgestellt werden welches Studium er begann.

2.3. Zur Feststellung fehlender individueller Verfolgung des BF im Herkunftsstaat pro futuro gelangte das erkennende Gericht aufgrund folgender Erwägungen:

2.3.1. In seiner Erstbefragung gab er zu seinen Ausreisegründen befragt an, dass er alevitischer Kurde sei. Sein Bruder sei deshalb festgenommen worden und befände sich schon seit 2012 wegen Mitgliedschaft bei der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) in XXXX in Haft, weil er zuvor vom Schwurgerichtshof XXXX zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden sei. Im Mai 2015 sei auch g

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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