TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/9 L511 2161573-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.11.2021
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Entscheidungsdatum

09.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L511 2161573–1/31E
L511 2161570–1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Sandra-Tatjana JICHA als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX und 2. XXXX , geb. XXXX , beide StA. Irak, die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin vertreten durch den Erstbeschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwalt Mag. STEIER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Regionaldirektion Niederösterreich Außenstelle Wr. Neustadt vom 26.05.2017, Zahlen: 1. XXXX 2. XXXX , nach mündlicher Verhandlung, zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I der angefochtenen Bescheide werden jeweils gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) als unbegründet abgewiesen.

II.      Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II wird jeweils stattgegeben und 1. XXXX , geb. XXXX und 2. XXXX , geb. XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 Z1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird 1. XXXX , geb. XXXX und 2. XXXX , geb. XXXX , jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 09.11.2022 erteilt.

IV.      Die Spruchpunkte III bis VI der angefochtenen Bescheide werden jeweils ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang

1.1.    Der Erstbeschwerdeführer ist Vater der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin. Beide sind Staatsangehörige des Irak und stellten nach illegaler Einreise am 16.10.2015 die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz (Aktenseite des Verwaltungsverfahrensaktes des Erstbeschwerdeführers [im Folgenden: AS] 13).

1.2.    Nach durchgeführtem Ermittlungsverfahren wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA] jeweils mit den im Spruch bezeichneten Bescheiden die Anträge auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak (Spruchpunkt II) ab. Das BFA erteilte auch keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III), erließ gegen die Beschwerdeführenden eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV), stellte fest, dass die Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak zulässig sei (Spruchpunkt V) und sprach aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI) (AS 67-160).

1.3.    Die fristgerechten Beschwerden richtet sich jeweils gegen alle Spruchpunkte (AS 181-217).

2.       Im durchgeführten Ermittlungsverfahren legte der Erstbeschwerdeführer bei der Ersteinvernahme laminierte Kopien irakischer Identitätskarten vor (AS 29a).

Im Zuge der Beschwerde wurden ein Totenschein hinsichtlich der Ehefrau und Mutter (B1), Zeitungsartikel und Fotos betreffend die frühere berufliche Tätigkeit des Erstbeschwerdeführers (B2, B3), ein Haftbefehl (B4), Familienfotos (B6, B7) sowie ein Familienstammbaum (B5) vorgelegt.

3.       Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht [BVwG] am 19.06.2017 die Beschwerden samt durchnummerierten Verwaltungsakten vor (Ordnungszahl des hg Gerichtsaktes [im Folgenden:] 1. OZ 1 [=AS 1-217] / 2. OZ 1 [AS 1-105]).

3.1.    Das BVwG hielt unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch am 27.01.2021 und 14.07.2021 eine mündliche Verhandlung ab, an der an der ersten alle Verfahrensparteien, an der zweiten die Beschwerdeführenden teilnahmen (OZ 16, OZ 28). In der Verhandlung wurden die Gründe des Verlassens des Herkunftsstaates und Länderinformationsquellen zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat sowie die Auskunft der Staatendokumentation ausführlich erörtert.

3.2.    Im Zuge der Verhandlung und des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens wurden Schulunterlagen der Zweitbeschwerdeführerin (B8-B9, B11, B14-B17), weitere Fotos (B10, B11a-B13) sowie eine Korrektur der Niederschrift der Einvernahme aus 2017 (B18) vorgelegt.

3.3.    Das BVwG holte Auszüge aus behördlichen Datenregistern ein (OZ15, OZ16), ließ die Todesanzeige und den Haftbefehl übersetzen (OZ 19) und veranlasste eine sachverhaltsbezogene Anfrage an die Staatendokumentation (OZ 23)

II.      zu A) Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       entscheidungswesentliche Feststellungen

1.1.    Zur Person der Beschwerdeführenden und den Lebensverhältnissen im Irak

Die Beschwerdeführenden führen in Österreich die im Spruch angeführten Namen. Der Erstbeschwerdeführer ist 1973 geboren und alleinerziehender Vater der 2004 geborenen Zweitbeschwerdeführerin. Beide sind Staatsangehörige des Irak, gehören der arabischen Volksgruppe sowie der chaldäisch-katholischen Glaubensgemeinschaft an. Ihre Identität steht nicht fest.

Die Beschwerdeführenden stammen aus XXXX [B], XXXX , wo sie zuletzt auch gewohnt haben. Der Erstbeschwerdeführer studierte in Bagdad Politikwissenschaften und kehrte anschließend gemeinsam mit der Mutter der Zweitbeschwerdeführerin in seine Herkunftsstadt XXXX zurück. Von ca. 1998/99 bis 2003 arbeitete der Erstbeschwerdeführer in Bagdad. Ab 2003 lebte und arbeitete der Erstbeschwerdeführer mit seiner Ehefrau und seiner Tochter (wieder) in XXXX . Der Erstbeschwerdeführer besaß ein Geschäft für Elektronik, iPads und Handys.

Die Eltern des Erstbeschwerdeführers verstarben 2008 im Alter von etwa 60 Jahren. Über den Aufenthalt seiner beiden Schwestern hat der Erstbeschwerdeführer keine Kenntnis. Die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers und Mutter der Zweitbeschwerdeführerin verstarb im September 2015 im Irak. Die Beschwerdeführenden verließen kurz darauf am 30.09.2015 den Irak und reisten am 16.10.2015 in Österreich ein (AS 11, 15, 54, 91; OZ 19, VHS1 16-18; B1).

Der Erstbeschwerdeführer leidet an Diabetes, benötigt jedoch kein Insulin und es besteht die Möglichkeit, dass er hinkünftig auch auf Tabletten verzichten kann. Im Jahr 2019 war er aufgrund einer psychischen Krise im Krankenhaus zur Behandlung (VHS1 12). Die Zweitbeschwerdeführerin hat ein Problem mit den Kniescheiben, ansonsten hat sie keine gesundheitlichen Einschränkungen zu vergegenwärtigen (VHS1 7, VHS2 5).

1.2.    Zur Lebenssituation in Österreich

Der Erstbeschwerdeführer lebt mit der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin im gemeinsamen Haushalt. Er spricht fast kein Deutsch und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Die Familie bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und lebt in der Wohnung eines Freundes und Förderers. Der Erstbeschwerdeführer kümmert sich um den Haushalt und seine minderjährige Tochter. In seiner Freizeit geht der Erstbeschwerdeführer spazieren und trifft Freunde. Die Zweitbeschwerdeführerin besucht die Oberstufe eines Gymnasiums. Sie spricht ausgezeichnet Deutsch, sodass ihre Einvernahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf Deutsch durchgeführt werden konnte. In ihrer Freizeit trifft sie sich mit Schulfreundinnen, macht ihre Hausaufgaben, sieht fern oder geht mit ihrem Vater spazieren oder laufen. Die Beschwerdeführenden besuchen in Österreich eine katholische Kirche in Wien, deren Ritus dem chaldäischen am nächsten ist (VHS1 8-10).

Die eingeholten Auszüge aus dem Strafregister der Republik Österreich weisen keine Einträge auf und es wurden keine Einreiseverbote gegen die Beschwerdeführenden erlassen (OZ 15; 16).

1.3.    Zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz

1.3.1.  Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrbefürchtung befragt erstattete der Erstbeschwerdeführer für sich und die Zweitbeschwerdeführerin nachfolgendes zusammengefasste Vorbringen. Ein gesondertes Vorbringen für die Zweitbeschwerdeführerin wurde nicht erstattet.

In der Erstbefragung im November 2015 brachte der Beschwerdeführer vor, er und seine Tochter seien Sunniten, seine Ehefrau Christin gewesen. In XXXX seien ab 2012 Andersgläubige, darunter auch Christen, von Milizen verfolgt und getötet worden. Seine Ehefrau sei 2015 in der Wohnung von Milizen getötet worden, weil sie Christin gewesen sei. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin seien zu diesem Zeitpunkt zufällig außer Haus gewesen (AS 19).

In der Einvernahme im März 2017 gab der Erstbeschwerdeführer an, er und seine Tochter seien Christen, die Eintragung der sunnitischen Religionszugehörigkeit in der Identitätskarte sei aus Sicherheitsgründen erfolgt. Die Familie habe in einem christlichen Viertel rund um ein Kloster in XXXX gewohnt. Der Priester in diesem Kloster sei der Onkel seiner Frau gewesen. Er sei am 23.09.2015 mit seiner Tochter zum Einkaufen in Bagdad gewesen und telefonisch informiert worden, dass das Kloster überfallen, und seine Frau und ihr Onkel dabei getötet worden seien. Auch sein Haus und Geschäft seien in Brand gesteckt worden. Er sei nicht mehr nach XXXX zurückgekehrt und habe umgehend seine Ausreise organisiert (AS 56-62).

In der Beschwerde vom Juni 2017 brachte der Erstbeschwerdeführer erstmals vor und führte dies im Zuge der mündlichen Verhandlung detaillierter aus, während der Regierung von Saddam Hussein als XXXX beschäftigt gewesen zu sein. Er habe eine hochrangige Funktion als politischer Funktionär gehabt und habe (ua) malaysische, indonesische, buddhistische sowie jüdisch-israelische Kontakte gehabt. Er habe diese Position aufgrund seiner entfernten Verwandtschaft zu XXXX erhalten. Aufgrund dieser Tätigkeit bestünde ein Haftbefehl gegen ihn. Er habe dies aus Angst, an die irakische Regierung ausgeliefert zu werden, bis zu diesem Zeitpunkt im Verfahren nicht vorgebracht (AS 185-187; VHS1 10-18).

Vor einer Rückkehr in den Irak habe er Angst, da er von der Regierung nach wie vor per Haftbefehl gesucht werde und es im Irak ein Gesetz gebe, wonach jemand zu töten sei, der eine Beziehung zu Israel habe (VHS1 18; VHS2 5).

1.3.2.  Das BVwG erachtet es als glaubhaft, dass die Beschwerdeführenden der christlich-chaldäischen Glaubensgemeinschaft angehören und die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers und Mutter der Zweitbeschwerdeführerin bei einem Überfall auf ein christliches Wohnviertel ums Leben kam. Nicht als glaubhaft wird hingegen erachtet, dass dem Erstbeschwerdeführer aufgrund seiner früheren Tätigkeit als XXXX während der Regierung von Saddam Hussein, oder aufgrund seiner Verwandtschaft zu XXXX bei einer Rückkehr in den Irak zum aktuellen Zeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung von erheblicher Intensität ausgesetzt wären.

1.4.    Zur Lage im Herkunftsstaat Irak

1.4.1.  Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den sog. Islamischen Staat (IS) erheblich verbessert. Derzeit ist es jedoch staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Im Jahr 2020 blieb die Sicherheitslage in vielen Gebieten des Irak instabil und auch im Jahr 2021 kam es (auch) in Bagdad laufend sicherheitsrelevante Vorfälle mit Toten. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. (LIB 14)

1.4.2.  zur aktuellen Lage insbesondere im Zentralirak

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019). (LIB 28)

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF. (LIB42)

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen. Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung, aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak. Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten. Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt. Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma, sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala und Najaf. (LIB 34, 54, 65)

1.4.3.  Gouvernement Diyala

Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS. Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten. Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte. Die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali zählen zu den zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak „umstrittenen Gebieten“.

Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala, aus denen er einerseits Zivilisten vertreibt, um dort Basen zu errichten, und wo er anderseits wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte angreift. So häufen sich Berichte über zunehmende Vertreibung von Zivilisten aus ländlichen Gebieten, beispielsweise aus den Bezirken Khanaqin und Jalawla, wegen der Bedrohung durch den IS und dem Unvermögen der Sicherheitskräfte (Irakische Armee/ISF und PMF) für deren Sicherheit zu sorgen. Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region, andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht. Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle. Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt Khanaqin, rund um die Städte Khanaqin und Jalawla, ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt Muqdadiya, sowie auch in die westlichen Gebiete Diyalas. Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in Khanaqin gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden. Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Diyala 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Toten und 93 Verletzten verzeichnet, im Febraur 2020 waren es 24 Vorfälle mit 16 Toten und 27 Verletzten. (LIB 26-30)

1.4.4.  Aktivitiäten der Milizen

Das Milizenbündnis der Volksmobilisierungseinheiten (Popular mobilization forces) [PMF] steht unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees. Obwohl Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat und die irakische Armee nur mäßige Kontrolle über die Milizen. Die Milizen stellen Checkpoints und Sicherheitsbarrieren auf, führen Hausdurchsuchungen und Razzien durch und übernehmen damit Aufgaben aus dem Zuständigkeitsbereich der irakischen Armee. Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht. Einige Milizionäre hätten sich laut mehrerer irakischer und US-amerikanischer Beamte an „mafiösen Praktiken“ beteiligt. Sie würden Schutzgeld von großen und kleinen Unternehmen fordern und an Checkpoints das Passieren von Autofahrern für Erpressungstaktiken benutzen. Den Milizen wird auch ein Naheverhältnis zur organisierten Kriminalität nachgesagt. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen. Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. (LIB 38-45; ATmiliz 5)

Oppositionelle, Protestanführer und Aktivisten der Zivilgesellschaft erhalten Todesdrohungen durch die unterschiedlichen Milizen, und es gibt unbestätigte Berichte, dass sich diese auf „hit lists“ der Milizen wiederfinden (UNHCR’19 19-20).

Verschiedene Auskunftspersonen berichteten im Jahr 2017 den von Landinfo und Lifos [die länderkundliche Rechercheeinheit der norwegischen und schwedischen Asylbehörden] interviewten Rechercheuren, dass die Milizen als „unantastbar“ gesehen werden, und dass weder die Polizei, noch eine andere Behörde sie davon abhalten könnten, Verbrechen zu begehen. Ein irakischer Politiker, den Landinfo und Lifos in Bagdad interviewte, gab an, dass bei den meisten Übergriffen, die von Milizen in Bagdad ausgeübt werden, die Opfer Sunniten sind. Der Politiker gab weiters an, dass die PMF die Möglichkeit haben, in jede Privatwohnung einzudringen, sogar in die Wohnung von Parlamentsmitgliedern. Er meint, dass nicht einmal Premierminister Haider al-Abadi diese stoppen könne. Dass die Milizen im Irak - auch in Bagdad - Menschen in ihren Wohnhäusern festnehmen, wurde auch von Amnesty International [AI] berichtet. Laut AI und Reuters beitreiben Milizen eigene Haftanstalten, in denen Folterungen und Misshandlungen stattfinden, ohne dass es zur Einmischung von Seiten der Behörden kommt (ABmiliz 6).

1.4.5.  zur Situation der Christen im Irak

Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt.

Schätzungen gehen davon aus, dass heute noch etwa 200.000 bis 400.000 Christen im Irak leben (zum Vergleich 2003: 1,5 Mio.). Nach Angaben christlicher Führer sind weniger als 250.000 Christen im Irak verblieben. Kernland der christlichen Gemeinschaften im Irak ist der Nordwesten des Landes, die Ninewa-Ebene. Die Situation der Christen (v. a. assyrische sowie mit Rom unierte chaldäische Christen) hat sich kirchlichen Quellen zufolge seit Ende der Diktatur 2003 stark verschlechtert. Viele Christen sehen für sich keine Zukunft im Irak. In den vergangenen Jahren sind daher hunderttausende irakische Christen ins Ausland geflohen.

Nach dem Vormarsch des IS auf Mossul und das umliegende christliche Kernland ergriffen im Sommer 2014 zehntausende Christen die Flucht in die Kurdische Region im Irak (KRI) und vereinzelt auch nach Bagdad.

Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert. Es mangelt an wiederhergestellter Infrastruktur, und es besteht die Gefahr von IS-Sprengfallen und Blindgängern.

Es kommt immer wieder zu Angriffen auf Priester, Bombenanschlägen auf Kirchen und christliche Einrichtungen sowie Übergriffen auf von Christen geführte Lebensmittelgeschäfte, in denen gegebenenfalls auch alkoholhaltige Getränke angeboten werden.

Christen in den von der PMF kontrollierten Städten, insbesondere im mehrheitlich christlichen Distrikt Hamdaniya in Ninewa berichten über Belästigung christlicher Frauen durch PMF-Mitglieder. Christen berichten auch über Versuche von Teilen der Zentralregierung in Bagdad, einen demographischen Wandel zu erleichtern, indem in traditionell christlichen Gebieten Land und Wohnungen für schiitische und sunnitische Muslime zur Verfügung gestellt werden. Die irakische Regierung hat Beschwerden assyrischer und chaldäischer Christen über eine illegale Enteignung ihres Landes im Anschluss an ihre vorübergehende Vertreibung durch den IS im Gouvernement Ninewa weitgehend ignoriert. Heimkehrende christliche Familien sehen sich mit einem Besitzanspruch sunnitischer Araber oder Kurden konfrontiert.

Christen werden von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung bei von muslimischen Moralvorstellungen abweichendem Verhalten, wie z.B. Alkoholverkauf, unter Druck gesetzt, manchmal auch durch PMF.

In der KRI haben seit 2003 viele christliche Flüchtlinge aus anderen Landesteilen Zuflucht gefunden. Es gibt dort keine Anzeichen für staatliche Diskriminierung. Viele Christen haben bereits seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein in der KRI Zuflucht gefunden. Es gibt christliche Städte oder auch große christliche Viertel in Großstädten wie beispielsweise Ankawa in Erbil, in denen Christen in Frieden leben können. (LIB 73-75, 87-88)

1.4.6.  Kinder

Kinder sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen. Vor der COVID-19-Krise lebte laut UNICEF eines von fünf Kindern in Armut. Über 1,16 Millionen Kinder im Alter von unter fünf Jahren waren unterernährt. Ende 2020 lag die Zahl der Kinder im Irak, die humanitäre Hilfe benötigen, bei 1,89 Million. Alle vom UN-Welternährungsprogramm erfassten Lebensmittel sind in Bagdad weithin verfügbar, allerdings zu abnorm hohen Preisen. Als Resultat der COVID-Krise in Kombination mit der Wirtschafts- und Finanzkrise ist jedoch die Armutsrate im Irak von 20 auf über 30 Prozent gestiegen. Den stärksten Zuwachs erfuhr der Zentral-Irak mit Bagdad, der – mit Ausnahme der Kurdenregion – relativ besser dasteht als die anderen Großregionen. Kinder unter 18 Jahren sind mit einem höheren Anstieg der Armut konfrontiert, Bei Kindern liegt das Vulnerabilitäts-Ausmaß bei 48,8 Prozent. Familien mit mehr als sieben Mitgliedern, insbesondere Familien mit mehr als einem Kind, weisen eine hohe Vulnerabilitäts-Rate auf. Im Schulbereich stellen der Mangel an schulischen Einrichtungen, Lehrern und die Defizite in den Lehrplänen im ganzen Land – in Bagdad zu einem vergleichsweise geringeren Teil - weiterhin ein Problem dar. Verschärft durch die COVID-19-Krise ist es zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt gegenüber Kindern gekommen, insbesondere in den Städten. Zwangsehen und insbesondere Ehen auf Zeit von minderjährigen Mädchen - auch in Bagdad - letztere von Experten als versteckte Form der Prostitution betrachtet, sind illegal, kommen aber weiterhin vor. Diese werden oft durch islamische Kleriker unter Geldannahme vermittelt und geschlossen und durch die ökonomische Krise, in denen sich Familien befinden, gefördert. Die Behörden ignorieren entweder Fälle von sexuell ausgebeuteten Kinder oder behandeln die Minderjährigen oft als Kriminelle und nicht als Opfer. (LIB 116-120; a-11469-1)

1.4.7.  zur Versorgungslage im Irak

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Nachdem der Irak seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde laufen nunmehr Wiederaufbauprogramme und die Weltbank traf für das Jahr 2019 vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt. Laut Welternährungsorganisation sind im Irak ca. 1,77 Millionen Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Schätzungen zufolge hat der Irak in den letzten vier Jahren jedoch 40 Prozent seiner landwirtschaftlichen Produktion verloren. Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen. Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen. (LIB 133-136)

Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. (LIB 136, 137)

Die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt. Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen. (LIB 138)

1.4.8.  Aufnahme von IDP, Bewegungsfreiheit

Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen.

Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Babil, Bagdad, Basra, Diyala, Kerbala, Kirkuk, Najaf, Qadissiya und Wassit. […] Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom IS kontrollierten Gebieten unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar (Anm.: etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. (LIB 136, 151)

Die KRI schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten ein. Während die Einreise in die Gouvernements Erbil und Sulaymaniyah ohne Bürgen möglich ist, wird für die Einreise nach Dohuk ein Bürge benötigt. Insbesondere Araber aus den ehemals vom IS kontrollierten Gebieten, sowie Turkmenen aus Tal Afar im Gouvernement Ninewa benötigen einen Bürgen aus Dohuk, es sei denn, sie erhalten eine vorübergehende Reisegenehmigung vom Checkpoint in der Nähe des Dorfes Hatara. Diese Genehmigung wird für kurzfristige Besuche aus medizinischen oder ähnlichen Gründen erteilt. Die KRI-Behörden wenden Beschränkungen unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt. Checkpoints werden manchmal für längere Zeit geschlossen. Beamte hindern Personen, die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, an der Einreise in die Region. Die Einreise ist für Männer oft schwieriger, insbesondere für arabische Männer, die ohne Familie reisen. (LIB 134-135)

1.4.9.  Covid19-Pandemie

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Europäischem Zentrum für die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) haben das höchste Risiko für eine schwere Erkrankung durch SARS-CoV-2 Menschen im Alter von über 60 Jahren sowie Menschen mit Grunderkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen und Krebs. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf (www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/; www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html; www.oesterreich.gv.at).

Angaben des Gesundheitsministeriums vom 27.09.20 zufolge ist die Zahl der Infektionen auf 349.450 angestiegen. Die Zahl der Genesenen liegt bei 280.673, die Zahl der Todesopfer liegt bei 8.990. In der Region Kurdistan-Irak lag am 27.09.20 die Zahl der registrierten Fälle bei 45.731, von denen 29.422 genesen sind. Die Zahl der Todesopfer wird mit 1.671 angegeben. Am stärksten betroffen ist die Provinz Erbil. Angaben der WHO vom 20.09.20 zufolge sind aufgrund von COVID-19 fast 50 % der Krankenhauskapazität erreicht. (Briefing Notes 28.09.2020).

2.       Beweisaufnahme und Beweiswürdigung

2.1.    Die Beweisaufnahme erfolgt durch

?        Abhaltung einer mündlichen Verhandlung am 27.01.2021 (VHS1) und 14.07.2021 (VHS2)

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsverfahrensakt (OZ 1) beinhaltend insbesondere die Erstbefragung, die Niederschrift, den Bescheid und die Beschwerde

?        sowie Einsicht in folgende vorgelegte oder beigeschaffte Unterlagen und Dokumente

?        laminierte Kopien irakischer Identitätsausweise (AS 29a / AS 19a)

?        Kopie Totenschein der Ehefrau und Mutter (Beilage [B]1, As 191, Übersetzung [Ü] OZ 19)

?        drei Zeitungsartikel (AS 193-195: B2)

?        Fotos betreffend die frühere berufliche Tätigkeit (As 196-209: B3)

?        Kopie Haftbefehl (As 211: B4, Ü OZ 19)

?        Selbsterstellter Familienstammbaum (As 213: B5)

?        Familienfotos (As 215-217: B6, B7)

?        Fotokonvolut zu einer Israelreise (OZ 16: B10)

?        Fotokonvolut (OZ 20) beinhaltend Fotos der Ehefrau (B11a), christlicher Familienfeiern im Irak (B12), des Hauses im Irak (B13)

?        Schulunterlagen der Zweitbeschwerdeführerin (OZ 16: B8, B9, B11, B14-17)

?        Korrekturen des Einvernahmeprotokolles des BFA durch die Beschwerdeführenden (OZ 20: B18)

?        Zeichnung der Wohngegend (OZ 28: B19)

?        Einsicht in das Zentrale Melderegister (ZMR), das Strafregister der Republik Österreich (SA), das Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister des Bundesministeriums für Inneres (IZR), sowie das Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich (GVS) (OZ 15/16)

?        Einsicht in folgende länderspezifische Berichte (VHS 23, VHS/L)

?        ACCORD: Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, Dokument-ID #2038435, 02.10.2020 [ATmiliz]

?        ACCORD Anfragebeantwortung: Aktuelle Sicherheitslage in Bagdad und Gefährdungslage für minderjährige Kinder, 20.01.2021 [a-11469-1]

?        Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, 28.09.2020 [BN]

?        Staatendokumentation [SD]: Länderinformationsblatt Irak, 14.05.2020 [LIB]; update 15.10.2021

?        SD: AB Irak: Von schiitischen Milizen dominierte Gebiete, 04.01.2018 [ABmiliz]

?        UNHCR International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019 [UNHCR19]

2.2.    Beweiswürdigung

2.2.1.  Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen im Irak (Pkt. 1.1)

Die Angaben der Beschwerdeführenden zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und Herkunft, die sie im Zuge des Verfahrens vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung gemacht haben, sind auf Grund ihrer Orts- und Sprachkenntnisse nicht anzuzweifeln. Mangels Vorlage amtlicher Identitätsdokumente im Original können die Namen und die Geburtsdaten der Beschwerdeführenden jedoch nicht abschließend festgestellt werden (AS 111-19, AS 154-156, VHS1 13-17).

Die Ausführungen zu den Lebensumständen und der Lebensgrundlage im Irak, sowie den Familienangehörigen im Irak, insbesondere der Tod der Ehefrau und Mutter der Beschwerdeführenden, waren im gesamten Verfahren kohärent, schlüssig und widerspruchsfrei (AS 191, VHS1 14, 16-17; VHS2 5) und decken sich mit den (in Kopie) vorgelegten Dokumenten, insbesondere die Sterbeurkunde und die Einzeichnung der Wohnumgebung in die vorgelegte Karte (B1, OZ 19, B19). Zumal sich die Ausführungen auch vor dem festgestellten Länderhintergrund nicht als unplausibel darstellen, werden diese als glaubhaft erachtet.

Im Hinblick auf die festgestellte chaldäisch-katholische Glaubenszugehörigkeit ist zwar auszuführen, dass der Erstbeschwerdeführer diese Glaubenszugehörigkeit erstmals in der Einvernahme 2007 vorbrachte, nachdem er unmittelbar nach der Einreise im Oktober 2015 angegeben hatte Sunnite zu sein und auch laminierte Kopien von irakischen Identitätsausweisen aus dem Jahr 2013 mit sunnitischer Religionszugehörigkeit vorgelegt hatte (AS 11, 54, 29). Die diesbezügliche Verantwortung des Erstbeschwerdeführers, viele Christen hätten ab 2012 ihre Religionszugehörigkeit in ihren Ausweisen ändern lassen, erscheint vor dem Länderhintergrund nicht unglaubwürdig. Darüber hinaus ist die chaldäisch-katholische Glaubenszugehörigkeit auch mit den vorgelegten Fotos von Familienmitgliedern und Familienfesten (AS 215-217, B6, B7, B12, OZ 20) in Einklang zu bringen. Ergänzend war auch das Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin, sie sei im Irak in einem Kloster unterrichtet worden und besuche mit ihrem Vater in Österreich regelmäßig die Kirche (VHS1 6, 8), glaubhaft. Zusammenfassend ist daher die Zugehörigkeit zur chaldäisch-katholischen Glaubensgemeinschaft festzustellen.

Der Gesundheitszustand der Beschwerdeführenden ergibt sich aus den diesbezüglichen Angaben in der Verhandlung, an denen nicht zu zweifeln war (VHS1 16, 17; VHS2 5).

2.2.2.  Zu seinen Lebensverhältnissen in Österreich (Pkt. 1.2)

Die Feststellungen zur Lebenssituation der Beschwerdeführenden in Österreich, ergeben sich aus den Angaben in der Verhandlung (VHS1 6-10), welche sich mit den eingeholten Datenauszügen und den vorgelegten Schulunterlagen der Zweitbeschwerdeführerin decken (B8, B9, B11; B14-17), decken (OZ 15, 16), so dass kein Grund bestand, diese Angaben zu bezweifeln. Auch das BFA ist den Angaben in der Verhandlung und nach Übermittlung der Verhandlungsschrift nicht entgegengetreten.

Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen gehen auf den persönlichen Eindruck der entscheidenden Richterin in der Verhandlung zurück (VHS1 6, 8), welchem seitens der anwesenden Verfahrensparteien nicht entgegengetreten wurde.

Die Unbescholtenheit der Beschwerdeführenden und das Nichtbestehen von Einreiseverboten ergeben sich aus behördlich geführten Datenregistern, an deren Richtigkeit kein Anlass an zu zweifeln bestand (OZ 15, 16).

2.2.3.  Zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz (Pkt 1.3)

Das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers in Bezug auf die Bedrohungssituation aufgrund seiner früheren Tätigkeit und seiner Verwandtschaft zu XXXX wird auf Grund vieler Widersprüche in den diesbezüglichen Aussagen für nicht glaubhaft erachtet.

2.2.3.1. Zunächst brachte der Erstbeschwerdeführer diese Bedrohungssituation erstmals in der Beschwerde vor. Sein gesamtes bis zu diesem Zeitpunkt erstattetes Vorbringen bezog sich auf die chaldäisch-katholische Glaubenszugehörigkeit der Familie. Die diesbezügliche Verantwortung des Erstbeschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (VHS1 19), er habe Angst gehabt, dass Informationen über ihn in den Irak gelangen könnten, und diese erst durch die anwaltliche Beratung verloren, vermag dies aus Sicht des BVwG nicht zu erklären, zumal der Erstbeschwerdeführer bereits vor seiner Einvernahme im Jahr 2017 seit zwei Jahren im österreichischen Bundesgebiet anwesend gewesen war und auch bereits seit 2016 in der Wohnung seines Freundes und Förderers wohnte. Es ist daher davon auszugehen, dass dem Erstbeschwerdeführer bereits zum Zeitpunkt seiner Einvernahme 2017 bekannt gewesen ist, dass er bereits vor dem BFA sämtliche Fluchtgründe vorbringen muss.

2.2.3.2. Zur Tätigkeit in einem XXXX ist auszuführen, dass dies mit den vorgelegten Fotos grundsätzlich in Einklang zu bringen ist. Das aus diesem Grund seit ca. 2006 immer wieder ein Haftbefehl für den Erstbeschwerdeführer (neu)ausgestellt worden wäre, wird jedoch aus den folgenden Gründen nicht glaubhaft erachtet. So gab der Erstbeschwerdeführer an, zumindest seit Ende 2003 bis zu seiner Ausreise 2015 in XXXX gewohnt zu haben. Im gesamten Verfahren brachte der Erstbeschwerdeführer nicht vor, dass er in diesen zwölf Jahren bedroht worden wäre oder sich durch den Haftbefehl gegen ihn Einschränkungen in seiner Lebensführung ergeben hätten. Im Gegenteil legte der Beschwerdeführer Fotos seines luxuriös eingerichteten Hauses vor. Auch wenn das Viertel rund um das Kloster in dem die Familie gewohnt hat ein in sich abgeschlossenes und bewachtes Viertel war (VHS2 8), in das nicht jeder eintreten habe können, so vermag nicht erkannt zu werden, inwieweit dies die mit einem Haftbefehl ausgestatteten Sicherheitskräfte an der Durchsuchung des Viertels gehindert hätte. Soweit der Erstbeschwerdeführer vorbringt, sein Wohnort sei den Sicherheitskräften unbekannt gewesen (VHS2 7), kann dem nicht gefolgt werden, da es sich bei XXXX um die Herkunftsstadt des Erstbeschwerdeführers handelt und anzunehmen ist, dass dieser Umstand bei seiner ehemaligen Arbeitsstelle bekannt war.

Es vermag daher (selbst bei Authentizitätsunterstellung des Haftbefehls) nicht erkannt zu werden, dass die irakischen Regierungen bzw. Sicherheitskräfte seit 2006 ein besonderes Interesse an der Habhaftwerdung des Erstbeschwerdeführers gehabt hätten, weshalb aus Sicht des BVwG sich aus dem vorgelegten Haftbefehl selbst bei Authentizitätsunterstellung keine aktuelle Bedrohung für den Erstbeschwerdeführer ergibt.

2.2.3.3. Auch die vorgebrachte Verwandtschaft zu XXXX hatte 12 Jahre lang offenbar keine Konsequenzen für den Erstbeschwerdeführer, sodass auch aus dieser keine aktuelle Bedrohung ersichtlich ist und es kann daher dahingestellt bleiben und eine Auseinandersetzung damit unterbleiben, ob tatsächlich eine Verwandtschaft zwischen der Familie des Erstbeschwerdeführers und der Familie von XXXX besteht.

2.2.3.4. Soweit der Erstbeschwerdeführer die persönliche Bedrohung in der Verhandlung dadurch zu untermauern versuchte, dass er angab, dass der Überfall, bei dem seine Frau ums Leben gekommen ist, ihm gegolten habe und angekündigt gewesen sei, ist auszuführen, dass der Erstbeschwerdeführer zunächst bei der Erstbefragung 2015 und bei der Einvernahme 2017 angegeben hat, seine Ehefrau sei aufgrund ihrer christlichen Glaubenszugehörigkeit von Milizen getötet worden und er sei mit seiner Tochter an diesem Tag wegen Handelsgeschäften bzw. zum Einkaufen – somit zufällig – in Bagdad und nicht zu Hause gewesen (AS61, B18). In der mündlichen Verhandlung führte der Erstbeschwerdeführer hingegen aus, er sei einen Tag vor dem Vorfall vor einem Überfall gewarnt worden und sei deshalb mit seiner Tochter nach Bagdad gefahren. Seine Frau und er hatte nicht angenommen, dass ein Überfall stattfände, wenn er nicht zu Hause wäre, so das seine Frau an diesem Tag trotz Überfallwarnung zu Hause geblieben sei (VHS1 18). Zu diesem Widerspruch gab der Erstbeschwerdeführer in der Verhandlung zwar an, dass ihn der Dolmetscher bei der Einvernahme vor dem BFA nicht verstanden habe und vieles falsch sei im Protokoll (VHS1 16, 18), diese Passage wurde jedoch in der vom Erstbeschwerdeführer korrigierten Niederschrift nur in Bezug auf die nach Bagdad mitgenommenen Personen, nicht hingegen in Bezug auf die Motivation nach Bagdad zu fahren korrigiert: „Am 23.09.2015 ging ich nach Bagdad mit einem Verwandten meiner Frau und des Priesters um einkaufen zu gehen.“ (B18), so dass dieser Widerspruch letztlich stehen blieb.

Zumal es unter Einbeziehung der christlichen Glaubenszugehörigkeit und der Sicherheitslage im Irak 2015 lebensfremd erschiene, bei einer angekündigten Überfallsdrohung ein Familienmitglied für diesen Überfall zu Hause zu lassen, geht das BVwG davon aus, dass die Erstverantwortung des Beschwerdeführers, er sei zufällig an diesem Tag auswärts gewesen, richtig ist und das Vorbringen in der Verhandlung lediglich dazu getätigt wurde, um aus dem religiös motivierten Überfall eine persönlich adressierte Verfolgung zu machen.

2.2.3.5. Zusammenfassend erachtet das BVwG daher das Vorbringen zu einer persönlichen Bedrohungssituation als nicht glaubhaft.

2.2.4.  Zur Lage im Herkunftsstaat Irak (Punkt 1.4.)

Die getroffenen länderspezifischen Feststellungen ergeben sich im Wesentlichen aus den Berichten und Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation. Die Staatendokumentation des BFA berücksichtigt im Länderinformationsblatt Irak und den Anfragebeantwortungen Berichte verschiedener staatlicher Spezialbehörden, etwa des Deutschen Auswärtigen Amtes und des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge oder des US Department of State, ebenso, wie auch Berichte von Nichtregierungsorganisationen, wie etwa von ACCORD, Amnesty international, Human Rights Watch, oder der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Die herangezogenen Quellen sind aktuell, Großteils aus dem Jahr 2019, die spezielleren Anfragebeantwortungen sind aus den Jahren 2019 und 2020.

Angesichts der Ausgewogenheit und Seriosität der genannten Quellen sowie der Plausibilität der weitestgehend übereinstimmenden Aussagen darin, besteht für das BVwG kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Auch die Parteien sind den in das Verfahren eingeführten Quellen nicht entgegengetreten (OZ 20).

3.       Rechtliche Beurteilung

3.1.1.  Die Zuständigkeit des BVwG und die Entscheidung durch eine Einzelrichterin ergibt sich aus § 6 Bundesgesetz über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes [BVwGG] iVm §7 BFA-VG und dem AsylG 2005. Das Verfahren des BVwG ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) geregelt. Verfahrensgegenständlich sind demnach neben dem VwGVG auch die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, sowie jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen sinngemäß anzuwenden, die das BFA im erstinstanzlichen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (§ 17 VwGVG).

3.1.2.  Die Beschwerde ist rechtzeitig und auch sonst zulässig (§§ 7, 9 VwGVG).

3.2.    Ad Spruchpunkt I – Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG 2005

3.2.1.  Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 [Anmerkung: Drittstaatssicherheit, Schutz im EWR-Staat oder in der Schweiz oder Zuständigkeit eines anderen Staates] zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (§ 3 Abs. 1 AsylG 2005). Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht (§ 3 Abs. 3 Z 1 AsylG 2005) oder der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat (§ 3 Abs. 3 Z 2 AsylG 2005). Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (§ 3 Abs. 5 AsylG 2005).
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Jänner 1967, BGBl Nr. 78/1974 (GFK), ist als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

3.2.2.  Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ist die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (VwGH 02.09.2015, Ra2015/19/0143). Nach der jüngeren Ansicht des UNHCR reicht es aus, dass der Konventionsgrund ein (maßgebender) beitragender Faktor ist, er muss aber nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden (VwGH 23.02.2016, Ra2015/20/0113 mit Literaturnachweisen von UNHCR, Hathaway/Foster und Marx).

Zentraler Aspekt der in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 05.09.2016, Ra2016/19/0074). Unter Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, worunter (ua) Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 MRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 MRK niedergelegte Verbot der Folter (VwGH 15.12.2016, Ra 2016/18/0083). Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 27.05.2019, Ra2019/14/0153).

3.2.3.  Wie im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, kommt dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund – Bedrohungssituation auf Grund der Tätigkeit als XXXX während der Regierung von Saddam Hussein, oder aufgrund seiner Verwandtschaft zu XXXX – keine Glaubhaftigkeit zu, weshalb dieses entsprechend der VwGH-Judikatur (VwGH 20.10.2016, Ra2016/20/0260 mwN) einer rechtlichen Beurteilung nicht zu Grunde zu legen ist, da es von vorneherein nicht geeignet ist, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft zu machen.

3.2.4.  Zum christlichen Glauben der Beschwerdeführenden ist auszuführen, dass Christen zwar durch die irakische Verfassung gleichberechtigt sind; faktisch werden sie jedoch weitreichend diskriminiert. Die Benachteiligung der im Irak verbliebenen etwa 200.000 bis 400.000 Christen, sowie der Umstand, dass viele Christen keine Zukunft für sich im Irak sehen, erreicht nach Ansicht des erkennenden Gerichts jedoch nicht jene Intensität einer Verfolgung, die für die Gewährung des Status der Asylberechtigten erforderlich ist, zumal auch das Leben des Erstbeschwerdeführers anschaulich zeigt, dass keine Existenzgefährdung auf Grund seiner christlichen Glaubenszugehörigkeit vorlag und die Familie in ihrer Lebensführung nicht beeinträchtigt war.

Aber auch die vereinzelt vorkommenden Angriffe auf Priester und Kirchen sowie auf christliche Einrichtungen führen – auch wenn die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers und Mutter der Zweitbeschwerdeführerin bei einem solchen Angriff zu Tode kam – nicht zu einer asylrelevanten Verfolgung der Beschwerdeführenden, da es sich dabei nicht um eine zielgerichtete Verfolgung der Familie der Beschwerdeführenden handelt.

3.2.5.  Es liegt somit keine Verfolgung der Beschwerdeführenden im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vor und braucht daher auf die Frage des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr eingegangen werden und die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides des BFA ist als unbegründet abzuweisen.

3.3.    Ad Spruchpunkt II – Subsidiäre Schutzberechtigung gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005

3.3.1.  Nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, 1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder 2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Nach § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 leg.cit. mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 leg.cit. oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 leg.cit. zu verbinden. Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 leg.cit.) offen steht.

3.3.2.  Für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus iSd § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist (über die Auslegung des Art. 15 lit. b der Statusrichtlinie iVm Art. 3 Statusrichtlinie hinausgehend) bereits jegliche reale Gefahr (real risk) einer Verletzung von Art. 3 MRK an sich, unabhängig von einer Verursachung von Akteuren oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat ausreichend (VwGH 27.05.2019, Ra2019/14/0153). Um von der realen Gefahr (real risk) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 MRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat ausgehen zu können, reicht es nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (VwGH 21.02.2017, Ra2016/18/0137). Der EGMR erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein real risk vorliegt, wenn stichhaltige Gründe (substantial grounds) dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art 3 MRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Riskio iSd Art 3 MRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen (in the most extreme cases) diese Voraussetzung In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen (special distinguishing features), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137 uHa EGMR Sufi und Elmi / UK mwN). Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 orientiert sich an Art. 15 lit.c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) und umfasst eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als "willkürlich" erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des EuGH, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (VwGH 21.02.2017, Ra2016/18/0137 uHa EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; 30.01.2014, C-285/12, Diakite).

3.3.3.  Bei der Behandlung der Anträge auf internationalen Schutz von Minderjährigen sind, unabhängig davon, ob sie unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, bei entsprechend schlechter allgemeiner Sicherheitslage zu deren Beurteilung einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, jedenfalls erforderlich (vgl. UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Art. 1 [A] 2 und 1 [F] des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 22.12.2009, Rz74). Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt die Bedeutung der Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige als besonders vulnerable Antragsteller hervorgehoben (vgl. zuletzt zB VfGH 08.06.2021, E 149/2021 ua.). Dieses Verständnis steht im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 GRC bzw. Art. I zweiter Satz des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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