Entscheidungsdatum
10.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
L502 2152404-1/29E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 21.03.2017, ZI. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.03.2021 zu Recht erkannt:
A)
1. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III., erster Satz, als unbegründet abgewiesen.
2. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt III., zweiter Satz, stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen XXXX gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.
3. Gemäß § 55 Abs. 1 Z. 1 und 2 AsylG wird XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.
4. Die Spruchpunkte III., dritter Satz, und IV. werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte im Gefolge seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet im Beisein seines minderjährigen Bruders am 15.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie wurden daraufhin festgenommen, in das Polizeianhaltezentrum XXXX gebracht und nach Fristüberschreitung wieder entlassen.
2. Am 19.09.2015 erfolgte seine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes und wurde das Verfahren in der Folge zugelassen.
3. Am 05.08.2016 übermittelte die Landespolizeidirektion XXXX dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einen Abschlussbericht zu einem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung.
4. Am 02.03.2017 wurde er beim BFA im Beisein einer Vertrauensperson zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte er seinen irakischen Personalausweis im Original, mehrere Empfehlungsschreiben, einen Bescheid einer österreichischen Universität, Kursbestätigungen eines Vorstudienlehrganges, einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung, Schulzeugnisse aus seinem Herkunftsland und eine Kopie eines österreichischen Ausweises für Studierende in Vorlage. Ihm wurde auch Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme zu den länderkundlichen Informationen des BFA zur Lage im Herkunftsstaat gegeben, worauf er verzichtete.
5. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 21.03.2017 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV.).
6. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 22.03.2017 wurde ihm von Amts wegen gemäß § 52 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.
7. Gegen den ihm am 27.03.2017 persönlich zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz seiner zugleich bevollmächtigten Vertretung vom 04.04.2017 binnen offener Frist in vollem Umfang Beschwerde erhoben.
8. Mit 07.04.2017 langte die Beschwerdevorlage des BFA beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren zunächst der Gerichtsabteilung L524 zugewiesen.
Infolge einer Unzuständigkeitseinrede wurde das Verfahren der nunmehr zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zugewiesen.
9. Das BVwG wurde am 08.05.2017 über eine Abmeldung aus der Grundversorgung infolge eines geplanten Wohnsitzwechsels informiert.
10. Auf Ersuchen des BF übermittelte ihm das BVwG am 26.08.2019 eine Kopie seines irakischen Personalausweises.
11. Am 05.03.2020 legte das BFA dem BVwG einen polizeilichen Abschlussbericht zu einem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Diebstahls vor.
12. Am 11.08.2020 reichte das BFA eine gekürzte Urteilsausfertigung des Bezirksgerichtes (BG) XXXX vom XXXX nach.
13. Mit Eingabe vom 21.01.2021 legte das BFA einen polizeilichen Abschlussbericht zu einem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung vor.
14. Am 24.02.2021 langte eine Vollmachtsbekanntgabe der nunmehrigen Vertretung des BF beim BVwG ein.
15. Mit Eingabe vom 04.03.2021 teilte das BFA mit, dass ein informierter Vertreter an der am 10.03.2021 anberaumten Beschwerdeverhandlung teilnehmen wird.
16. Am 03.03.2021 wurden von der Vertretung des BF mehrere Beweismittel vorgelegt.
17. Das BVwG führte am 10.03.2021 in Anwesenheit des BF, seiner Rechtsvertreterin und eines Behördenvertreters eine mündliche Verhandlung durch, in der der BF zu seinen Antragsgründen persönlich gehört wurde.
Ihm wurden auch Länderberichte zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und diese in das Verfahren eingebracht. Der BF legte weitere Beweismittel vor.
18. Am 07.06.2021 übermittelte das BFA die Beantwortung einer Anfrage der Gewerbebehörde bzgl. einer erfolgten Gewerbeanmeldung des BF.
19. Mit Eingaben vom 08.06.2021, 19.07.2021, 26.08.2021 und 14.09.2021 legte die Vertretung des BF weitere Integrationsnachweise vor.
20. Am 02.09.2021 reichte das BFA eine Beantwortung einer Anfrage der Gewerbebehörde nach.
21. Am 21.10.2021 legte die Vertretung des BF weitere Integrationsunterlagen vor.
22. Das BVwG erstellte abschließend aktuelle Datenbankauszüge aus dem Betreuungsinformationssystem, dem österr. Strafregister, dem AJ-Web, dem Gewerbeinformationssystem Austria (GISA) sowie dem zentralen Melderegister (ZMR) den BF betreffend.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist irakischer Staatsangehöriger und gehört der arabischen Volksgruppe sowie der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an. Er ist ledig und kinderlos.
Er stammt aus XXXX , wo er bei seinen Eltern und Geschwistern aufwuchs und bis zur Ausreise auch seinen Wohnsitz hatte.
Er hat im Irak zwölf Jahre die Schule besucht und diese mit Matura abgeschlossen.
Seine Eltern wohnen weiterhin mit drei seiner Brüder in XXXX . Ein weiterer Bruder reiste zusammen mit ihm nach Österreich. Sein Vater ist als Mittelschulprofessor und seine Mutter als Lehrerin an einer Grundschule erwerbstätig. Seine im Irak wohnhaften drei Brüder sind minderjährig und gehen zur Schule. Er steht mit seiner Herkunftsfamilie in regelmäßigem Kontakt.
Er hat den Irak am 20.08.2015 gemeinsam mit seinem Vater und einem seiner minderjährigen Brüder legal, unter Verwendung seines Reisepasses, auf dem Luftweg nach Ankara verlassen. Sein Vater begleitete sie bis in die Türkei und kehrte anschließend in den Irak zurück. Der BF setzte gemeinsam mit seinem minderjährigen Bruder die Weiterreise fort. Sie reisten unrechtmäßig nach Griechenland in das Gebiet der europäischen Union ein. Von dort reisten sie über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich ein, wo er am 15.09.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither gemeinsam mit seinem Bruder aufhält.
1.2. Der BF bezog von 22.09.2015 bis 30.06.2021 – mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 13.02.2017 bis 17.02.2017 – Leistungen der staatlichen Grundversorgung. Aktuell besteht kein Leistungsbezug aus der Grundversorgung.
Vom 07.10.2019 bis 25.10.2019 hatte er das freie Gewerbe „Botendienst“ angemeldet. Er war in diesem Zeitraum für ein Unternehmen als Fahrradbote erwerbstätig. Er erzielte ein Einkommen in Höhe von XXXX . Der BF betreibt seit 03.06.2021 das freie Gewerbe der Hausbetreuung, bestehend aus der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten, und das freie Gewerbe der Durchführung einfacher Gartenarbeiten (Rasen mähen, Bewässern der Grünflächen, Jäten, Mulchen, Einsammeln von Obst) inne. Seit 19.08.2021 betreibt er auch das freie Gewerbe der Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen oder Kraftfahrzeugen mit Anhängern, deren höchst zulässiges Gesamtgewicht insgesamt 3.500 kg nicht übersteigt.
Aus seiner selbständigen Erwerbstätigkeit erzielte er Einkünfte in Höhe von XXXX (Leistungszeitraum Juni 2021), XXXX (Leistungszeitraum Juli 2021), XXXX (Leistungszeitraum August 2021) und XXXX (Leistungszeitraum September 2021). Am 31.08.2021 kam er seiner sozialversicherungsrechtlichen Beitragspflicht nach und überwies XXXX an die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen.
1.3. Er spricht Arabisch als Muttersprache und verfügt über sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache. Er hat mehrere Deutschkurse an österreichischen Universitäten im Zuge von Vorstudienlehrgängen besucht. Am 24.06.2019 absolvierte er die Ergänzungsprüfung aus Deutsch für die Zulassung als ordentlicher Studierender an der XXXX . Er nahm von 05.10.2020 bis 07.01.2021 an einer Ausbildung zum Rettungssanitäter beim XXXX teil und hat am 07.01.2021 die Ausbildung mit Erfolg bestanden. Im Rahmen dieser Ausbildung leistete er 160 ehrenamtliche Dienststunden. Anschließend an diese Ausbildung nahm er an weiteren Fortbildungsmaßnahmen des XXXX teil. Er verfügt über eine bis zum 31.12.2021 gültige aufschiebend bedingte Einstellungszusage als Rettungssanitäter beim XXXX XXXX .
Er hat in Österreich soziale Kontakte geknüpft und verfügt über einen österreichischen Freundes- und Bekanntenkreis. Seit 04.08.2021 ist er im Besitz eines österreichischen Führerscheins für die Klassen AM und B.
Er ist alleinstehend und wohnt seit 08.07.2021 wieder gemeinsam mit seinem mitgereisten und ebenfalls als Asylwerber aufhältigen Bruder in einer privaten Wohnung. In Österreich lebt auch seit etwa sechs Jahren ein Onkel, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch nicht rechtskräftig entschieden wurde. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis der Brüder zum Onkel war nicht feststellbar.
Er leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist voll erwerbsfähig.
1.4. Der BF wurde mit Urteil des BG XXXX vom XXXX wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer XXXX mit einer Probezeit von drei Jahren rechtskräftig verurteilt.
Das BG sah es als erwiesen an, dass er am XXXX gemeinsam mit zwei Mittätern im bewussten und gewollten Zusammenwirken Verfügungsberechtigten der Firma XXXX Bekleidungsartikel im Gesamtwert von XXXX mit dem Vorsatz, sich dadurch unrechtmäßig zu bereichern, weggenommen hat, wodurch die Firma XXXX einen Schaden in Höhe von XXXX erlitt. Bei der Strafbemessung wertete das BG das Geständnis und die Unbescholtenheit des BF mildernd. Erschwerungsgründe lagen keine vor.
Mit polizeilichem Abschlussbericht vom 21.10.2020 wurde das BFA über ein gegen den BF geführtes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung verständigt. Eine strafgerichtliche Verurteilung wurde nicht aktenkundig.
1.5. Er hat den Irak nicht aufgrund individueller Verfolgung durch schiitische Milizen verlassen und ist im Falle einer Rückkehr in den Irak auch nicht der Gefahr einer Verfolgung durch diese Akteure ausgesetzt.
1.6. Er ist bei einer Rückkehr in den Irak auch nicht aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und findet dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor.
1.7. Sicherheitslage in XXXX
1.7.1. Die Provinz XXXX ist in der Mitte Iraks gelegen und grenzt an die Provinzen al-Anbar, Nadschaf und Babil. Die Provinz XXXX umfasst folgende Bezirke: Ain Al-Tamur, Al-Hindiya, XXXX . Provinzhauptstadt ist XXXX . Die Provinz ist ein sehr trockenes Gebiet, in dem es erhebliche Wasserknappheit und Dürren gegeben hat, was zu Vertreibung geführt hat.
Bevölkerung
Die Bevölkerung Kerbalas wurde 2019 auf 1 250 806 Einwohner geschätzt. Allerdings sind derzeit für den gesamten Irak keine genauen Bevölkerungszahlen erhältlich. Die genannte Zahl stützt sich auf Projektionen der Zentralen Statistikorganisation Iraks, und es ist unklar, ob diese Schätzungen demografische Veränderungen im Zusammenhang mit der anhaltenden Vertreibung bzw. Rückkehr von Irakern berücksichtigen. Nach Angaben von UNFPA wurde die letzte umfassende Volks- und Wohnungszählung für Irak 1987 durchgeführt.
Ethnische Zugehörigkeit
Generell haben die südlichen Provinzen einschließlich XXXX eine überwiegend schiitisch-arabische Bevölkerung, obwohl in der Provinz auch eine kleine sunnitisch-arabische Gemeinschaft lebt. Die Stadt XXXX gilt als eine der heiligen schiitischen Städte in Irak und beherbergt den Imam Hussain-Schrein.
Straßensicherheit
Die meisten Kontrollpunkte an der Hauptstraße von XXXX zur Grenze mit Saudi-Arabien werden von der schiitischen Miliz Kampfdivision Al-Abbas kontrolliert. Im Juli 2020 blockierten Demonstranten gegen die immer schlechter werdende Stromversorgung mehrere Straßen und sperrten den Zugang zu einem Kraftwerk in dem Gebiet Al-Jammaliya. Kontrollpunkte waren auch Ziel von Bombenanschlägen oder Autobomben auf Straßen, so z. B. am 20. September 2019.
Wirtschaft
Grundlage der Wirtschaft in der Provinz XXXX sind im Wesentlichen Landwirtschaft (Obst- und Gemüseanbau) und religiöser Tourismus, da alljährlich Millionen schiitischer Pilger den Imam Hussain-Schrein besuchen. Laut einem Länderprofil von 2015 wurde in der Vergangenheit der religiöse Tourismus durch Unsicherheit und Anschläge auf Pilger beeinträchtigt. Das Corona-Virus hat den religiösen Tourismus in XXXX zum Erliegen gebracht, wo die heiligen Schreine von Imam Hussein und Imam Abbas desinfiziert und geschlossen wurden.
1.7.2. Hintergrund des Konflikts und bewaffnete Akteure in der Provinz
Unsicherheit in XXXX stand in den letzten Jahren in Verbindung mit hauptsächlich religiösen Aufständen, Demonstrationen und Protesten des schiitischen Bevölkerung gegen die irakische Regierung. XXXX gehörte zu den Zentren der so genannten schiitischen Aufstände, die es 1991 überall im südlichen Irak gab. In jüngerer Zeit, zwischen Juli und September 2018, rollte eine Welle von Protesten gegen die Regierung durch den südlichen Irak, darunter in der Provinz XXXX , die Opfer und Todesopfer forderte. Der ISIL hatte zwar zwischen 2014 und 2017 keine Kontrolle über Territorium in XXXX , verübte jedoch in der Provinz Anschläge auf schiitische Ziele, bei denen es zu Opfern in der Zivilbevölkerung kam.
Bewaffnete Akteure
Irakische Sicherheitskräfte (ISF)
Das ISW berichtete 2017, das irakische Einsatzkommando Mittel-Euphrat (Mid-Euphrates Operations Command, MEOC) sei für die heiligen Städte Nadschaf und XXXX sowie den Bezirk an-Nuchaib im Süden von al-Anbar zuständig. Das MEOC ist in erster Linie für den Schutz der schiitischen Pilger und die Sicherung der südlichen Provinzen des Irak verantwortlich. Die ISF in XXXX umfassen ferner das Bataillion der 9. Panzerdivisioin, Kommandobrigaden, Regimenter für Notfälle, lokale und Bundespolizei.
Volksmobilisierungseinheiten (PMU)
Das ISW berichtete 2017, dass zahlreiche irakische schiitische Milizen im Einsatzgebiet des MEOC als ergänzende Sicherheitskräfte fungieren, viele von denen ein Hauptquartier in XXXX unterhalten und ihre Legitimität und die Unterstützung durch die Bevölkerung durch die Sicherung der Pilgerwege stärken. Berichten zufolge bestand das Einsatzkommando der PMU in XXXX aus den schiitischen Milizen Liwa Ali al-Akbar (Brigade 11) und der Kampfdivision Al-Abbas (Brigade 26). Die Kampfdivision Al-Abbas „findet ihre Grundlage und politische Rückendeckung in der Rolle als Wächterin des Schreins von Imam Al-Abbas“ in XXXX und kontrolliert die meisten Kontrollpunkte an der Hauptstraße von XXXX zur Grenze mit Saudi-Arabien. Im September 2019 meldete Chatham House, dass die PMU-Brigaden 13, 14, 19, 26, 27, 31, 41, 42, 44, 45, 46, 47, 74, 513, Haditha, al-Furat, Ameriyat al-Samoud und Karma im Südwesten Iraks einschließlich XXXX präsent sind.
In der Provinz XXXX gibt es Ausbildungslager für mehrere Milizen
1.7.3. Neueste Sicherheitstrends und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung
Am 1. Oktober 2019 entdeckten Sicherheitskräfte einen Sack mit 750 kg Sprengstoff, der vermutlich für einen Anschlag des ISIL auf Pilger auf ihrem Weg nach XXXX zur alljährlichen religiösen Shi’a Arbaeen-Zeremonie verwendet werden sollte. Diese Zeremonie zieht jedes Jahr rund drei Millionen Pilger an und beginnt am 19. Oktober. Der ISIL hat schon früher Anschläge auf die schiitischen Pilger verübt.
Am 1. Oktober 2019 und an den folgenden Tagen fanden in Bagdad, XXXX und anderen Provinzen im südlichen Irak große Demonstrationen gegen die Regierung statt. Nach Angaben von UNAMI führten die Spirale der Gewalt und der Einsatz vielfältiger schwer bewaffneter ISF in der ersten Oktoberwoche 2019 zu Hunderten von Festnahmen, 157 Todesopfern und 5 494 Verletzten.
Eine zweite Protestwelle folgte vom 25. Oktober bis 4. November 2019, hauptsächlich in Bagdad und in den südlichen/zentralen Provinzen Babil, Basra, Dhi-Qar, XXXX , Maisan, al-Muthanna, Nadschaf, al-Qadisiyya und al-Wasit. UNAMI stellte mit Besorgnis fest: „Es gab zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Übergriffe, darunter die Anwendung tödlicher Gewalt gegen Demonstranten, den unnötigen, unverhältnismäßigen und/oder unangebrachten Einsatz von Tränengas und Blendgranaten, fortgesetzte Bemühungen, die Medienberichterstattung über die Demonstrationen einzuschränken, Verschleppungen und zahlreiche Festnahmen.“ Am 4. November 2019 mussten den bereits genannten Opferzahlen 97 Tote und Tausende von Verletzten, darunter auch Angehörige der ISF, hinzugefügt werden.
Konkret mit Blick auf XXXX berichtete UNAMI von „Polizeikräften in schwarzen Uniformen, die gegen Demonstranten scharfe Munition einsetzten“ in der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober 2019, „und die glaubhaften Aussagen zufolge möglicherweise 18 Menschen getötet und 143 verletzt haben“. Abschließend merkt UNAMI an: „Berichten zufolge wird Sicherheitskräften vorgeworfen, in der Provinz XXXX und in Bagdad ungesetzlicherweise tödliche Gewalt gegen Demonstranten angewandt zu haben.“ Auch AI sprach davon, dass die Armee „exzessive und ungesetzliche tödliche Gewalt“ gegen Demonstranten eingesetzt hat, um sie zu zerstreuen.
Auch im November und Dezember 2019 kam es in XXXX und anderen Provinzen zu Demonstrationen, „verursacht durch die Frustration der Demonstranten ob der beschränkten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aussichten“. Die meisten dieser Demonstrationen verliefen friedlich. In XXXX protestierten Schiiten gegen die Einmischung Irans in die irakische Politik. Am 4. Dezember 2019 wurde die iranische Botschaft in XXXX -Stadt in Brand gesetzt.
Einige Beispiele für Sicherheitsvorfälle
• Am 4. Februar 2019 wurde der irakische Romancier und Intellektuelle Alaa Mashthoub von unbekannten Killern vor seinem Haus in XXXX -Stadt getötet. Das Motiv für den Mord ist unbekannt.
• Am 28. Juli 2019 kam durch eine Autobombe in XXXX ein Mensch ums Leben und wurden drei verletzt. Akteure wurden nicht erwähnt.
• Am 20. September 2019 kamen durch eine Bombe des ISIL in einem Bus in XXXX 12 Menschen ums Leben. Laut Al Jazeera war dies „einer der schlimmsten Anschläge gegen Zivilisten seit der Erklärung der Niederlage der Gruppe in Irak im Jahr 2017“.
• Am 9. Dezember 2019 wurde ein „prominenter Demonstrant“, der an mehreren Demonstrationen teilgenommen hatte, von unbekannten Killern umgebracht. Auch 2020 gab es Berichte über die Tötung von Zivilisten durch professionelle Mörder, die häufig auf Motorrädern unterwegs waren. Motiv und Identität der Killer waren unbekannt.
• Am 13. März 2020 begannen die USA mit einer Reihe von Luftangriffen auf Waffendepots einer von Iran unterstützten schiitischen Miliz, Kataib Hisbollah, die zuvor Berichten zufolge ein US-Camp angegriffen und amerikanische und britische Soldaten getötet hatte. Eine der US-Raketen traf eine Flughafenbaustelle außerhalb von XXXX -Stadt und tötete einen Zivilisten und fünf Militärangehörige.
• Im Juli 2020 flammte im Bezirk Al-Hindiya ein alter Konflikt zwischen Clans wieder auf; dabei wurden zwei Personen getötet, zwei verletzt und mehrere festgenommen. Bei einem weiteren bewaffneten Konflikt zwischen zwei Clans im Bezirk Ain al-Tamr wurden 14 Personen verletzt
Zahl der zivilen Opfer
Die nachstehende Tabelle gibt Auskunft über mit bewaffneten Konflikten zusammenhängende Vorfälle und zivile Opfer in der Provinz, die von der UNAMI für den Zeitraum 1. Januar 2019 - 31. Juli 2020 erfasst wurden.
Anzahl der sicherheitsrelevanten Störfälle
Im Referenzzeitraum verzeichnete ACLED 4 Kämpfe, 8 Vorfälle von ferngesteuerter Gewalt/Explosionen, 11 Fälle von Gewalt gegen Zivilpersonen, 34 Unruhen; das sind insgesamt 57 sicherheitsrelevante Vorfälle dieser Arten in der Provinz XXXX meist in der Hauptstadt XXXX . Ferner wurden für den Referenzzeitraum 58 Demonstrationen in der Provinz XXXX gemeldet. Die folgende Abbildung gibt Auskunft über die Entwicklung aller Arten sicherheitsrelevanter Vorfälle im Referenzzeitraum.
Fähigkeit des Staates zur Sicherung von Recht und Ordnung
Durch die Entsendung von Sicherheitskräften in den Kampf gegen den ISIL im Zentral- und Nordirak entstand 2014 in der südlichen Region ein Sicherheitsvakuum, das Auseinandersetzungen zwischen Stämmen, kriminellen Aktivitäten und politisch motivierter Gewalt Tür und Tor öffnete. Knights et al. äußerten im März 2020, sie betrachteten XXXX – und andere südliche Provinzen– als „Gebiete mit geteilter Verantwortung der irakischen Armee oder irakischen Polizeitruppen und der Haschd [Brigaden]“. Im Februar 2020 erklärten die Streitkräfte, die Sicherheit in der Provinz XXXX , „die als fragiler Ort gilt“, sei Sache des Gemeinsamen Einsatzkommandos (Armee). In anderen Gebieten würde die Sicherheit in die Zuständigkeit der Polizei übergeben. Wie bereits erwähnt, werden viele Kontrollpunkte an der Hauptstraße von XXXX zur Grenze mit Saudi-Arabien von der Kampfdivision Al-Abbas kontrolliert.
Am 6. Februar 2020 wurden Demonstranten in XXXX -Stadt mit einer Vielzahl von Waffen von „bewaffneten, Muqtada al-Sadr nahestehenden Männern“ überfallen; dabei wurden mehrere Demonstranten und ein Polizist verletzt. Laut dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte „war die irakische Armee Berichten zufolge anwesend, griff aber nicht ein; statt dessen wurde die Bereitschaftspolizei gerufen“. Bei früheren Gelegenheiten wie den bereits erwähnten Protesten im Oktober 2019 wandte die irakische Armee „exzessive und ungesetzliche tödliche Gewalt“ gegen Demonstranten an, um sie zu zerstreuen.
Schäden an der Infrastruktur und explosive Kampfmittelrückstände
Aus jüngerer Zeit liegen keine Berichte über Schäden an der Infrastruktur aufgrund von Gewalt und Konflikten in der Provinz XXXX vor, abgesehen von dem US-Angriff auf eine Flughafenbaustelle außerhalb von XXXX -Stadt (siehe weiter oben).
Vertreibung und Rückkehr
Per 30. Juni 2020 waren in XXXX 15 558 Vertriebene registriert. Von diesen Binnenvertriebenen stammten 86 % aus Ninawa, 8 % aus Babylon und 6 % aus anderen Provinzen wie al-Anbar, Kirkuk, Diyala, Salah al-Din und Bagdad.
Aufgeteilt nach Bezirken nannte die IOM die folgenden Zahlen für Binnenvertriebene aus den erwähnten Provinzen:
• Bezirk XXXX 13 494
• Al-Hindiya 1 866
• Ain Al-Tamur 198
Rückkehrer wurden keine verzeichnet. Im COVID-19-Zeitraum (März-Mai 2020) schränkten die Behörden die Bewegungsfreiheit zwischen Provinzen ein.
(Quelle: EASO, Bericht zur Sicherheitslage im Irak, Oktober 2020)
1.8.1. Die Expansion und anschließende Bekämpfung des IS zwischen 2014 und 2017 führte zu großflächigen Vertreibungen. Angesichts dessen führten zahlreiche lokale Behörden strenge Einreisebestimmungen und Aufenthaltsbeschränkungen, unter anderem Sponsoring-Anforderungen sowie teils nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen aus Konfliktgebieten – insbesondere für sunnitische Araber – ein. Auch aktuell bestehen Sicherheitsüberprüfungen und Freigabeanforderungen für Personen die früher für IS-Mitglieder gehalten wurden oder, die aus Konfliktregionen stammen. Diese betreffen vor allem sunnitische Araber und Turkmenen. Während Zugangsverbote und Einreisebeschränkungen Anfang 2020 aufgehoben wurden, blieben Sponsoring und andere Aufenthaltserfordernisse als Niederlassungsvoraussetzung in mehreren Gouvernements, für Personen die für IS-Mitglieder gehalten wurden, oder aus Konfliktregionen stammen, bestehen.
Die Zugangs- und Aufenthaltsanforderungen sind nicht immer klar definiert bzw. kann deren Umsetzung variieren. Es kann auch zu Änderungen der Anforderungen kommen, die hauptsächlich von der aktuellen Sicherheitslage abhängen. Sponsoring und andere Anforderungen sind in der Regel weder gesetzlich begründet noch offiziell angekündigt.
1.8.2. Damit Personen Checkpoints passieren können und, um in die Umsiedlungsgebiete zu gelangen ist ein Ausweis erforderlich (z.B. ein Personalausweis, ein Reisepass oder die Staatsangehörigkeitsbescheinigung).
Zentral- und Südirak
Aktuell benötigen Personen die ehemals für Mitglieder des IS gehalten wurden oder, die aus Konfliktregionen stammen, einschließlich Personen, die aus einem Drittland zurückgekehrt sind, keinen Sponsor, um nach Babel, Bagdad, Basrah, Dhi-Qar, Diyala, XXXX , Kirkuk, Missan, Muthanna, Najef, Qadissiyah und Wasit einzureisen.
Region Kurdistan im Irak (KR-I)
Iraker, die nicht aus der KR-I stammen, einschließlich Personen die ehemals für IS-Mitglieder gehalten wurden, oder, die aus Konfliktregionen stammen, benötigen für die Einreise nach Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah keinen Sponsor. Bei der Einreise in die KR-I wird ihnen nach der Sicherheitsüberprüfung idR eine vorübergehende, 30-tägige Einreisegenehmigung erteilt. Damit kann man innerhalb der Gültigkeitsdauer in der KR-I verbleiben. Inhabern einer Einreisegenehmigung ist es jedoch nicht möglich ein Haus zu mieten oder eine reguläre Beschäftigung auszuüben.
1.8.3. Für die rechtmäßige Aufnahme eines Wohnsitzes sind je nach Region zusätzlich zur Genehmigung gültige zivilrechtliche Unterlagen erforderlich (eine Bestätigung/Empfehlung/Unterstützungsschreiben der zuständigen örtlichen Behörde, wie der Mukhtar oder dem Gemeinderat). Abhängig vom Profil des Einzelnen, insbesondere des familiären, religiösen und ethnischen Hintergrundes sowie des Herkunftsorts, kann zudem ein Sponsor erforderlich sein, um einen legalen Wohnsitz begründen zu können. Zudem ist idR eine Sicherheitsfreigabe der zuständigen Sicherheitsbehörde erforderlich. Sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die für IS-Mitglieder gehalten wurden, oder die aus Konfliktregionen stammen, kann die Sicherheitsüberprüfung verweigert werden und sind dem Risiko willkürlicher Verhaftungen nach dem Antiterrorgesetz ausgesetzt.
Aktuell sind UNHCR folgende Wohnsitzerfordernisse für Personen, die für IS-Mitglieder gehalten wurden, oder die aus Konfliktregionen stammen – insbesondere sunnitische Araber und auch für Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren – bekannt:
1.8.3.1. Zentral- und Südirak
Gouvernement Bagdad
Alle Personen benötigen zwei Sponsoren aus der Nachbarschaft, in der sie ihren Wohnsitz begründen wollen sowie ein Unterstützungsschreiben des örtlichen Mukhtar.
Gouvernement Diyala
Personen, die für IS-Mitglieder gehalten wurden, oder die aus Konfliktregionen stammen benötigen einen Sponsor aus der Nachbarschaft, in der sie sich niederlassen wollen, sowie ein Unterstützungsschreiben des örtlichen Mukhtar.
Kirkuk City
Personen, die für IS-Mitglieder gehalten wurden, oder die aus Konfliktregionen stammen benötigen ein Unterstützungsschreiben des örtlichen Mukhtar in der Nachbarschaft, in der sie wohnen wollen.
Südliche Gouvernorate
Personen, die für IS-Mitglieder gehalten wurden, oder die aus Konfliktregionen stammen benötigen einen lokalen Sponsor sowie einen Unterstützungsbrief des örtlichen Mukhtar, um legal in Babel, Basra, Dhi-Qar, XXXX , Missan, Muthanna, Najef, Qadissiyah und Wasit zu leben. Zudem benötigen sie eine Sicherheitsfreigabe durch den Operations Command, zusätzlich zur regulären Sicherheitsüberprüfung durch die örtlichen Behörden.
1.8.3.2. Region Kurdistan im Irak (KR-I)
Gouvernement Dohuk
Iraker, die nicht aus der KR-I stammen, und die länger als einen Monat im Gouvernement bleiben möchten, müssen sich an das lokale asayische Büro, in der Nachbarschaft in der sie bleiben möchten, wenden. Dabei müssen sie von einem Sponsor begleitet werden und sich für eine Aufenthaltserlaubnis bewerben. Bei Stattgabe des Ansuchens erhält man eine (erneuerbare) Aufenthaltserlaubnis für bis zu sechs Monate.
Gouvernements Erbil und Sulaymaniyah
Iraker, die nicht aus der KR-I stammen, müssen sich ebenfalls an die örtlichen Asayish, in der Nachbarschaft in der sie wohnen möchten, wenden, um eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Ein Sponsor ist nicht nötig. Eine solche Genehmigung ist in der Regel ein Jahr gültig. Alleinstehende arabische und turkmenische Männer erhalten jedoch in der Regel nur eine einmonatige Aufenthaltserlaubnis. Inhaber einer einmonatigen Aufenthaltserlaubnis haben aufgrund der kurzen Dauer ihrer Erlaubnis Schwierigkeiten, eine reguläre Beschäftigung zu finden. Alleinstehende arabische und turkmenische Männer, die einen Nachweis über eine reguläre Beschäftigung und ein Unterstützungsschreiben ihres Arbeitgebers haben, können eine einjährige Aufenthaltserlaubnis beantragen, die jedoch nur wenige erhalten.
1.8.4. Nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie im März 2020 haben die Behörden auf nationaler und regionaler Ebene eine Reihe von Beschränkungen eingeführt. Der Ansatz der lokalen Behörden zur Durchsetzung dieser Beschränkungen war in den Gouvernements unterschiedlich. Die meisten Beschränkungen wurden ab August 2020 aufgehoben. Aktuell gibt es keine internen Bewegungsbeschränkungen im Zusammenhang mit COVID-19. Da jedoch Regierungs- und Sicherheitsbeamte möglicherweise nicht regelmäßig in ihren Büros Bericht erstatten, kann es zu Verzögerungen bei der Ausstellung von Sicherheitsüberprüfungen und / oder Unterstützungsschreiben kommen.
1.8.5. Regierungsbehörden haben wiederholt ihre Priorität betont, die „Vertreibungsakte“ bis 2021 durch die Rückkehr von Binnenvertriebenen in ihre Herkunftsgebiete und die Schließung von Lagern für Binnenvertriebene umzukehren. In zahlreichen Gebieten im gesamten Irak, insbesondere in Zentralregionen im Südirak, werden Personen, die aus ehemals vom IS-besetzten Gebieten oder Konfliktregionen vertreiben wurden, zunehmend von zentralen und lokalen Behörden und anderen Akteuren unter Druck gesetzt oder gezwungen, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren. Zu den bekannten Druckmitteln zählen unter anderem die Schließung von Lagern, Meldungen mit Austrittsfristen, die Verweigerung oder Einschränkung des Zugangs zu öffentlichen Gesundheitsdiensten und Existenzgrundlagen, Belästigungen (meist verbal und in einigen Fällen sexuell) sowie willkürliche Festnahmen. In einigen Fällen haben die Behörden Berichten zufolge entweder auf Räumungsdrohungen zurückgegriffen oder die Räumungsdrohungen privater Akteure gegen Binnenvertriebene in informellen Siedlungen ignoriert. Nach mehreren Schließungen von Lagern Ende 2019, haben die Behörden zwischen Oktober 2020 und Dezember 2020 weitere großflächige Schließungen von IDP-Lagern und informellen Unterkünften im gesamten Irak vorgenommen. Die Betroffenen hatten oft nur sehr wenig Zeit. Entscheidungen zur Schließung von Lagern wurden ohne Rücksprache mit den betroffenen Bevölkerungsgruppen und trotz ernsthafter Sicherheits- und humanitärer Bedenken, getroffen. Einige Binnenvertriebene konnten zwar in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren, zahlreiche andere jedoch nicht und wurden erneut vertrieben.
(Quelle: Länderinformationen zur Frage der innerstaatlichen Niederlassungsmöglichkeit, UNHCR, Jänner 2021).
1.9. Die aktuellen Covid-19 Fallzahlen im Irak belaufen sich auf insgesamt 2.024.705 bestätigte Fälle seit Beginn der Pandemie. In den letzten 24 Stunden wurden 944 Neuinfektionen registriert. Insgesamt kam es bislang zu 22.591 registrierten Todesfällen.
(Quelle: Iraq COVID-19 dashboard, Website der WHO)
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den gg. Verfahrensakt unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF, der polizeilichen Abschlussberichte, der gekürzten Urteilsausfertigung des BG, des bekämpften Bescheides, des Beschwerdeschriftsatzes und der sonstigen im Zuge des Verfahrens von ihm vorgelegten Beweismittel sowie in den Gerichtsakt seines Bruders ( XXXX ), die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die Einholung von Auskünften des Zentralen Melderegisters, des Strafregisters, des AJ-Web, des GISA und des Grundversorgungsdatensystems den BF betreffend.
2.2. Identität und Staatsangehörigkeit des BF waren auf der Grundlage des vorgelegten nationalen Identitätsnachweises feststellbar (AS 135f). Die Feststellungen der Zugehörigkeit zur arabischen Volksgruppe und zur sunnitischen Religionsgemeinschaft stützen sich auf die entsprechenden Angaben des BF während des gesamten Verfahrens.
Die Feststellungen zu den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen des BF im Herkunftsstaat vor der Ausreise sowie in Österreich im Gefolge derselben, zu seiner Schulbildung, zum Reiseverlauf zwischen dem Irak und Österreich, zu den Lebensumständen seiner Verwandten im Herkunftsstaat, zum mitgereisten Bruder, zu seinem Gesundheitszustand, zu seiner hiesigen Erwerbstätigkeit, zum Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung und zu seinen sonstigen Integrationsbemühungen ergaben sich in unstrittiger Weise aus einer Zusammenschau seiner persönlichen Angaben im Verlauf des gg. Verfahrens, dem Inhalt der von ihm vorgelegten Unterlagen sowie aus den vom BVwG eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.
Dass er inzwischen über sehr gute Deutschkenntnisse verfügt war aufgrund der ergriffenen Spracherwerbsmaßnahmen im Rahmen von universitären Vorstudienlehrgängen, dem vorgelegten Deutschprüfungszeugnis der XXXX vom 24.06.2019, seiner Ausbildungsbestätigung zum Rettungssanitäter, seines erworbenen österreichischen Führerscheines, seines in Österreich aufgebauten Freundeskreises und seiner hiesigen Erwerbstätigkeit in Verbindung mit seinem über sechsjährigen Aufenthalt in Österreich und den von ihm in der mündlichen Verhandlung demonstrierten Deutschkenntnissen festzustellen.
Dass er die Ausbildung zum Rettungssanitäter abschloss, weitere Fortbildungsmaßnahmen absolvierte und den österreichischen Führerschein erwarb ging aus den vorgelegten Unterlagen unstrittig hervor. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung legte er eine Einstellungszusage vor, welcher zu entnehmen war, dass er für eine Anstellung als Rettungssanitäter beim XXXX vorgemerkt ist.
Dass er in Österreich über soziale Anknüpfungspunkte in Form eines österreichischen Freundes- und Bekanntenkreises verfügt, ging aus den vorgelegten Empfehlungsschreiben hervor.
Die Feststellung, dass er gemeinsam mit seinem mitgereisten Bruder seit 08.07.2021 wieder in einer privaten Wohnung lebt, ging aus einem Abgleich der eingeholten ZMR-Auskünfte hervor. Ein über eine bloße Wohngemeinschaft hinausgehendes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den volljährigen Brüdern wurde weder vom BF noch von seinem Bruder in dessen Verfahren vorgebracht. Zwar wird nicht verkannt, dass der BF als älterer Bruder eine wichtige Bezugsperson für den hierorts lebenden jüngeren Bruder ist und auch in der Vergangenheit bereits ein mehrjähriger gemeinsamer Wohnsitz bestand, jedoch kam nicht hervor, dass die Brüder auf die Hilfe des jeweils anderen maßgeblich und dauerhaft angewiesen wären. Zu beachten war auch, dass sein Bruder laut ZMR Auszug im Zeitraum 25.03.2021 bis 08.07.2021 nicht mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebte, sondern einen eigenen Wohnsitz hatte.
Dass ein Onkel des BF nach wie vor in Österreich wohnhaft ist, ging aus seinen Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung hervor (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 5). Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zum Onkel wurde nicht vorgebracht. Er brachte lediglich vor ihn manchmal zu besuchen. Auch im Beschwerdeschriftsatz wurde bloß auf das Vorhandensein eines Onkels verwiesen, jedoch kein näheres Vorbringen erstattet, wie sich die Beziehung zwischen ihnen gestaltet (AS 248).
2.3. Die Feststellungen unter 1.4. waren dem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug, der gekürzten Urteilsausfertigung des BG (OZ 10) und dem polizeilichen Abschlussbericht (OZ 11) unstrittig zu entnehmen.
2.4. Zur Feststellung, dass er den Irak nicht aufgrund individueller Verfolgung durch schiitische Milizen verlassen hat und im Falle einer Rückkehr in den Irak auch nicht der Gefahr einer solchen Verfolgung ausgesetzt ist, gelangte das erkennende Gericht aufgrund folgender Erwägungen:
2.4.1. In seiner Erstbefragung gab er zu seinen Ausreisegründen befragt an, dass die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) seiner Heimatstadt immer näherkäme. Sein Vater sei in einem Café von Mitgliedern der Gruppe „ XXXX “ angesprochen worden, die von ihm die Herausgabe seiner Söhne zum Kampfeinsatz gefordert hätten. Da er dieser Aufforderung nicht nachgekommen sei, sei er von ihnen geschlagen worden. Aus Angst um ihr Leben habe sich der BF gemeinsam mit seinem Bruder zur Flucht entschlossen. Sonst habe er keine weiteren Antragsgründe.
In seiner behördlichen Einvernahme am 02.03.2017 gab er an, dass der Hauptgrund für seine Flucht die Milizen im Irak gewesen seien. Es habe in der Schule angefangen, er habe sich mit anderen unterhalten und manche hätten angefangen über verstorbene Politiker zu lästern und zu schimpfen. Er habe nur gesagt, dass man so nicht über Verstorbene reden sollte. Einer habe daraufhin gemeint, dass er dem Saddam-Regime nachweinen würde. Er habe bloß gesagt, dass es unmenschlich gewesen sei. Er habe ansonsten keinen politischen Hintergedanken dabeigehabt. Die Situation sei daraufhin eskaliert. Er sei beschimpft worden und einer sei handgreiflich geworden. Er habe den Ort verlassen. Nach einer Weile habe er sich gemeinsam mit seinem Bruder und zwei Freunden auf der Straße unterhalten. Bewaffnete Personen seien auf sie zugekommen und hätten sie nach ihrem Vater gefragt. Er habe sie nicht provozieren wollen und ihnen gesagt, wo er wohne und wie sein Vater hieße. Daraufhin habe eine der Personen gesagt: „Du bist der Sohn des Lehrers XXXX , welcher ein Sunnit ist“. Als die Person das Wort „Sunnit“ ausgesprochen habe, habe er gewusst, dass es mit dem Vorfall in der Schule im Zusammenhang stehe. Die Personen hätten ihn beschimpft und habe er sich dann zurückgezogen. Sein Vater sei im Teehaus von drei Männern angegriffen worden. Einer der Männer sei jener gewesen, der ihn zuvor auf der Straße beschimpft habe. Sie hätten seinen Vater gefragt, warum sich seine Söhne nicht ihnen anschließen wollten. Sein Vater habe gesagt, dass seine Söhne nichts mit der Politik zu tun haben wollten, mit Milizen schon gar nicht. Er sei dann mit seinem Bruder und einem Freund festgenommen worden, da ihnen Alkoholkonsum und Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen worden sei. Die Haftgründe seien jedoch Ausreden gewesen. Am nächsten Tag seien sie wieder freigelassen worden. Eines Tages seien die Personen zu ihnen nach Hause gekommen. Ihr Vater habe sie zunächst vor ihnen versteckt, sie hätten Schreie gehört. Er habe mit seinem Bruder danach herauskommen müssen. Die Personen hätten 50.000 USD gefordert. Ihr Vater habe das Geld nicht aufbringen können, es sei ihm dafür eine Frist von einem Monat gewährt worden. Der Vater habe nur 5.000 USD auftreiben können, damit seien die Erpresser nicht zufrieden gewesen. Die Frist sei um zwei Monate verlängert worden. Daraufhin sei er mit seinem Bruder in einem Auto entführt worden. Ihnen seien Handschellen angelegt und seien sie in ein verlassenes Haus gebracht worden. Dort seien sie sieben Tage lang festgehalten worden. Er sei in ein Zimmer gebracht und jeden Tag gefoltert und bespuckt worden. Die Entführer haben gesagt, dass sie sie töten würden, wenn sie das Geld nicht bekämen. Das sei die letzte Warnung gewesen. Sein Vater habe das Geld nicht auftreiben können und daher hätten sie den Irak verlassen.
In der Beschwerde wurde zunächst ausgeführt, dass die Schilderung des BF angesichts der Länderberichte zur Lage der sunnitischen Bevölkerungsgruppe glaubwürdig erscheine, wenn er aufgrund seiner Weigerung, den schiitischen Milizen zu dienen und deren politische Gesinnung zu verinnerlichen, Probleme, die letztlich in seiner Entführung mündeten, bekommen habe. Ein wirtschaftliches Interesse des BF am Verlassen seines Herkunftslandes habe nicht bestanden. Ihm und seiner Familie sei es im Verhältnis zu anderen Mitbürgern im Irak wirtschaftlich gut gegangen (AS 241). Die Behörde habe zudem nicht berücksichtigt, dass die schiitischen Milizen aus dem Namen des BF seine sunnitische Herkunft ableiten können. Der BF würde im gesamten irakischen Staatsgebiet als „Gegner“ des gegenwärtigen schiitischen Machtapparates erkannt werden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei daher nicht zumutbar (AS 242). Er sei gemeinsam mit seinem Bruder immer wieder von schiitischen Milizen bedrängt worden sie zu unterstützen, ihnen zu dienen, deren Politik zu teilen und zu verbreiten. Als dies von seinem Vater, seinem Bruder wie auch von ihm vehement abgelehnt worden sei, habe sich diese anfängliche Bedrängnis bis hin zur Erpressung, Verfolgung und Bedrohung gesteigert. Schließlich sei er gemeinsam mit seinem Bruder gewaltsam aus dem elterlichen Zuhause gezerrt worden, an einen ihm unbekannten Ort gebracht und über eine Woche lang in einem kleinen Zimmer ohne Frischluft und Fenster unter schlimmsten Bedingungen eingesperrt, geschlagen und misshandelt worden. Nachdem die Brüder letzten Endes wieder freigelassen worden seien, hätten sie sich zur Flucht entschlossen. Bei einer Rückkehr fürchte der BF erneut einer entwürdigenden Verfolgung und/oder Bedrohung sowie körperlichen Angriffen schutzlos ausgeliefert zu sein (AS 243). Er habe wegen seiner Zugehörigkeit zur muslimisch-sunnitischen Glaubensrichtung sowie wegen seiner politischen Gesinnung, keiner kriegerischen irakischen Miliz zu dienen, sondern sich insbesondere um seine Schulausbildung und Studien widmen zu wollen, den Irak verlassen (AS 244).
2.4.2. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 10.03.2021 gab er zunächst die Reihenfolge der Geschehnisse wieder und führte aus, dass es sich bei den Entführern um Mitglieder der XXXX gehandelt habe. Die Entführer hätten von seinem Vater nicht nur Geld, sondern auch seine Söhne als Mitglieder für die schiitische Miliz verlangt. Die XXXX habe sie für den Kampf gegen den IS rekrutieren wollen (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 6f).
2.4.3. Zunächst fiel aus Sicht des erkennenden Gerichts auf, dass der BF anlässlich seiner Erstbefragung, mit keinem Wort eine ihm drohende individuelle Verfolgung äußerte. Er bezog sich lediglich auf die allgemeine Lage im Zusammenhang mit dem IS und schilderte einen Vorfall in einem Kaffeehaus, bei dem sein Vater von Mitgliedern einer Gruppe angesprochen und geschlagen worden sei. Seine später behauptete eigene mehrtägige Entführung, bei welcher er auch gefoltert worden sei, kam gar nicht zur Sprache. Schon dies ließ erste Zweifel am Tatsachengehalt der von ihm in der Folge vorgetragenen Fluchtgründe aufkommen.
Entsprechend der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) dient die Erstbefragung gemäß § 19 Abs. 1 AsylG insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die „näheren“ Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu VfGH 27.06.2012, U98/12), jedoch wird dadurch kein Beweisverwertungsverbot normiert. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) ist es nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. VwGH 11.08.2020, Ra 2020/14/0347 mwN). Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG ist es weder der Behörde noch dem BVwG verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zwischen der Erstbefragung und späteren Angaben einzubeziehen; es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 12.8.2019, Ra 2019/20/0366, mwN).
Nach einer knapp vierwöchigen Flucht gelangte der BF gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder in das österreichische Bundesgebiet. Beide stellten am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Dem Behördenakt war zu entnehmen, dass der BF gemeinsam mit seinem Bruder am 15.09.2015 am Hauptbahnhof XXXX nach § 40 BVA-VG festgenommen und in das Polizeianhaltezentrum XXXX gebracht wurde. Infolge Fristüberschreitung wurden sie freigelassen (AS 9). Zwei Tage nach ihrer Freilassung wurden sie schließlich nach § 19 Abs. 1 AsylG von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einvernommen. Der BF befand sich im Zeitpunkt der Erstbefragung im 19. Lebensjahr. Sein jüngerer Bruder war erst 17 Jahre alt und daher minderjährig. Wie sich erst später im Rahmen der behördlichen Einvernahme herausstellte, bezogen sich beide Brüder auf denselben Antragsgrund. Beide seien nach einer erfolglosen Gelderpressung für sieben Tage entführt und misshandelt worden. Weder der BF noch sein minderjähriger Bruder erwähnten jedoch bei der Erstbefragung die gemeinsame Entführung.
Auf diesen Umstand in der mündlichen Beschwerdeverhandlung beim BVwG angesprochen, gab der BF an, dass er im Zeitpunkt der Erstbefragung erst 18 Jahre alt gewesen sei. Sie seien zwei Tage in XXXX inhaftiert gewesen. Nach der Freilassung sei ihm ein Zettel in die Hand gedrückt und sie seien auf der Straße ausgesetzt worden. Ihnen sei mitgeteilt worden, dass sie einige Tage später wieder zur Erstbefragung kommen sollen. Die Situation sei für ihn sehr befremdlich gewesen. Die Dolmetscherin sei aus Marokko gewesen. Ihm sei gesagt worden, dass er sich kurzfassen solle, weil er später noch ausführlicher dazu befragt werde. Er habe damals angegeben, dass die Personen ihren Vater im Kaffeehaus angetroffen hätten. Er habe sich bei der Erstbefragung nicht gut konzentrieren können. Ihm sei damals nicht eingefallen, was er sagen hätte sollen. Sein Bruder sei nicht befragt worden, da er damals minderjährig gewesen sei. Auf Vorhalt der Niederschrift der Erstbefragung seines Bruders führte er aus, dass das, was er über seinen Bruder gesagt habe, im Namens seines Bruders protokolliert worden sei (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 7).
Dazu in Widerspruch standen jedoch die Angaben des zwischenzeitlich volljährig gewordenen Bruders in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am selben Tag. Dieser führte zunächst klar und bestimmt aus, dass bei seiner Erstbefragung ein Polizist und ein Dolmetscher anwesend gewesen seien. Er sei unter anderem zum Reiseweg und zu den Antragsgründen befragt worden. Er habe die Fragen selbst beantwortet. Der Dolmetscher habe ihm die Niederschrift rückübersetzt und er habe das Protokoll unterschrieben (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 7 im Gerichtsakt L502 2152403-1). Erst auf Vorhalt, dass sein Bruder in der unmittelbar zuvor stattgefundenen Beschwerdeverhandlung ausgeführt habe, dass er die Antragsgründe nicht selbst angegeben habe, wurde er plötzlich zögerlich und vermeinte sich nicht mehr genau an die Erstbefragung erinnern zu können, auch nicht an das, was er genau gefragt worden sei (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 7f im Gerichtsakt L502 2152403-1). Der Erklärungsversuch des BF, warum die gemeinsame Entführung auch keinen Eingang in das Erstbefragungsprotokolls seines minderjährigen Bruders fand, war unter Bedachtnahme auf das Aussageverhalten des zum Zeitpunkt der mündlichen Beschwerdeverhandlung bereits volljährigen Bruders daher entkräftet.
Trotz Berücksichtigung einer mehrwöchigen Flucht und einer kurzfristigen Festnahme in Österreich war es für das erkennende Gericht nicht nachvollziehbar, warum er gravierende Eingriffe in seine Grundrechte (siebentägige Entführung, Folterung) im Rahmen der Erstbefragung unerwähnt ließ. Insbesondere war davon auszugehen, dass eine Person wie der BF, der über eine überdurchschnittliche Schulausbildung verfügt (Matura) und aus einer Familie mit hohem Bildungsniveau stammt (sein Vater ist Mittelschulprofessor, seine Mutter Lehrerin an einer Grundschule; Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 8), während einer mehr als einstündigen Erstbefragung in der Lage sein muss, konkrete Angaben zum individuellen Fluchtgrund zu machen.
Zu seiner Erklärung, dass er die Dolmetscherin nicht gut verstanden habe (AS 84 und Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 7), ist anzumerken, dass dem Erstbefragungsprotokoll zu entnehmen war, die Befragung sei mit einer Dolmetscherin für die arabische Sprache durchgeführt worden. Er führte dabei eingangs aus, dass seine Muttersprache Arabisch sei und er diese Sprache in Wort und Schrift gut verstehe. Er gab auch ausdrücklich an, keine Verständigungsschwierigkeiten mit der Dolmetscherin gehabt zu haben (AS 29). Ungeachtet des Umstandes, dass Protokollrügen bei Rückübersetzung der Niederschrift grundsätzlich im Rahmen derselben Amtshandlung vorzubringen sind (§ 14 Abs. 3 und 4 AVG), vermochte der BF mit seiner bloßen Behauptung, er habe die Dolmetscherin nicht gut verstanden, der Beweiskraft des Erstbefragungsprotokolls nichts Entscheidendes entgegenzustellen.
Zu seiner Aussage, dass man ihm gesagt habe, er solle sich bei der Erstbefragung kurzfassen, ist anzumerken, dass sich die Erstbefragung zwar nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, aber die Befragung dennoch eine überblicksmäßige und abschließende Schilderung der Antragsgründe zum Gegenstand hat. Dies geht auch aus der unter Punkt 11. enthaltenen Erklärung in der Erstbefragungsniederschrift eindeutig hervor („Die Befragung hat sich gem. § 19 Absatz 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen, ist aber durch den AW in eigenen Worten abschließend zu beantworten. In einer Darstellung von ca ½ Seite sollten die 6W [Wer, Wann, Was, Wo, Wie, Wieso] abgedeckt sein.“, AS 27). Seine Angaben stellten sich daher als bloße Schutzbehauptungen dar, daran ändert auch sein Erklärungsversuch, dass es sich bei der Schilderung in der Erstbefragung um eine Art Vorgeschichte zu den weiteren Antragsgründen gehandelt habe (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 9), nichts. Warum es dem BF nicht möglich war, die gemeinsame Entführung im Rahmen der Erstbefragung – wenn auch nur kurz umrissen – zur Sprache zu bringen, hat sich für das Gericht nicht erschlossen. Schließlich war es ihm auch möglich, Angaben über einen vermeintlichen Vorfall in einem Kaffeehaus zu machen und auch den Namen der Gruppe explizit anzugeben. Eine plausible Erklärung, warum er die gravierenden Eingriffe in sein Leben und das Leben seines Bruders nicht im Rahmen der Erstbefragung bereits zu Protokoll geben konnte, war nicht erkennbar.
Bei einem Vergleich seiner im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung getätigten Äußerungen mit seinen bisherigen Angaben fiel auch ein erheblicher Widerspruch auf: So gab er vor dem BVwG an, sich sicher zu sein, dass die vermeintlichen Entführer der XXXX angehörten (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 6). Dazu in Widerspruch stand jedoch der in der Erstbefragung angegebene Name der Gruppe mit „ XXXX “. Darüber hinaus vermochte er mit seinen Aussagen in der Beschwerdeverhandlung, warum sein konkretes Wissen über die Entführer nicht bereits im Rahmen der behördlichen Einvernahme festgehalten wurde (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 6), das Gericht nicht zu überzeugen. Der Niederschrift der behördlichen Einvernahme vom 02.03.2017 war zu entnehmen, dass er nach erfolgter Rückübersetzung gegen die Niederschrift keine Einwendungen wegen behaupteter Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit erhob (AS 89). Mit seiner Erklärung, dass er „Miliz der XXXX “ ausdrücklich bei der Einvernahme gesagt habe und ihm unbekannt sei, warum es nicht protokolliert wurde, vermochte er keinen erfolgreichen Gegenbeweis nach § 15 AVG anzutreten. Zweifel an der Richtigkeit des Inhalts der Niederschrift nach § 14 AVG bestanden für das Gericht daher nicht.
2.4.4. Aber nicht nur gestützt auf die Erstbefragung war die Schilderung der fluchtauslösenden Ereignisse als nicht glaubhaft zu werten, sondern ergaben sich davon losgelöst auch weitere Widersprüche und Ungereimtheiten.
Das Vorbringen des BF stand mit dem Vorbringen seines Bruders in Widerspruch. So führte er zunächst aus, dass er gemeinsam mit seinem Bruder und einem Freund eine Nacht grundlos im Gefängnis gewesen sei (AS 87). Sein Bruder gab jedoch an, dass nur er mit seinem Bruder inhaftiert worden sei (AS 103 im Behördenakt zum Gerichtsverfahren L502 2152403-1).
Die Schilderung der Geschehnisse erfolgte zudem detailarm und äußerst vage. Zum Vorfall der Entführung konnte er keine konkreten Zeitangaben machen. Festgestellt werden konnte, dass er am 20.08.2015 das Heimatland verließ. In welchem zeitlichen Abstand die Entführung zur Flucht stattfand, war jedoch nicht feststellbar. Er gab bei der Erstbefragung an, vor ca. einem Jahr den Entschluss zur Ausreise gefasst zu haben (AS 23). Diese Zeitangabe wurde von ihm weder in der behördlichen Einvernahme noch im Beschwerdeschriftsatz oder in der Beschwerdeverhandlung korrigiert. Ob die vermeintliche Entführung, welche letztlich das ausreisekausale Ereignis der Brüder dargestellt habe, bereits 2014 oder erst unmittelbar vor der Flucht im Jahr 2015 stattfand, ging aus den Aussagen nicht hervor.
Stichhaltigere Ausführungen zu seiner behaupteten Entführung sowie Folter und späteren Freilassung konnte er ebenso nicht tätigen. Dabei wird nicht verkannt, dass aufgrund des länger zurückliegenden Zeitraums Erinnerungslücken bestehen können, jedoch war weder der BF noch sein Bruder in der Lage, nähere Umstände anzuführen, was sich als besonders auffällig darstellte. Auch dies drängte den Eindruck auf, dass es sich bei der behaupteten Entführung um ein bloßes gemeinsames gedankliches Konstrukt ohne Tatsachengrundlage handelte und daher nicht glaubhaft war.
Abweichend von der Schilderung des BF wurde in der Beschwerdeschrift auch behauptet, er sei gemeinsam mit seinem Bruder gewaltsam aus dem elterlichen Zuhause gezerrt worden (AS 243). Dies war mit dem Vorbringen des BF aber nicht in Einklang zu bringen.
Ferner konnten die Schilderungen des BF und seines Bruders auch nicht nachvollziehbar darlegen, wie es letztlich zu ihrer Freilassung kam. In der Beschwerdeverhandlung fasste der BF nochmals die Reihenfolge der behaupteten Abläufe der Geschehnisse grob zusammen (Erpressung zur Zahlung von 50.000 USD innerhalb von einem Monat, tatsächliche Zahlung von lediglich 5.000 USD, danach Fristverlängerung um weitere zwei Monate, danach siebentägige Entführung; siehe Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 6). Warum es letztlich zu ihrer Freilassung kam, war seiner Schilderung nicht plausibel zu entnehmen. Es erschien als lebensfremd, dass die Entführer nach einer bereits einmal gewährten Fristverlängerung den BF und seinen Bruder ohne weitere Konsequenzen freiließen. Mit ihrer Freilassung war auch die Behauptung, dass sie für die schiitische Miliz kämpfen hätten sollen, nicht in Einklang zu bringen. Hätte tatsächlich ein Interesse an ihrem Kampfeinsatz bestanden, wären sie bei lebensnaher Betrachtung des Sachverhaltes nicht wieder freigelassen worden, sondern hätten die Mitglieder der Miliz sie vielmehr für ihre Zwecke eingesetzt, insbesondere da ihnen nach erfolgloser Fristverlängerung bewusst gewesen sein musste, dass der Vater den geforderten Geldbetrag nicht aufbringen kann.
Zur vermeintlichen Entführung des BF durch eine schiitische Miliz war zudem festzuhalten, dass es sich auch per se als nicht schlüssig darstellte, dass der sunnitische BF gerade von einer schiitischen Miliz rekrutiert werden sollte.
Darüber hinaus wäre bei einer tatsächlich erfolgten Entführung zu bedenken, dass nach deren Flucht der Vater weiterhin mit einer Forderung der Entführer konfrontiert gewesen wäre, was jedoch offenkundig nicht der Fall war, zumal der BF auf Befragen zur aktuellen Situation der Eltern im Irak von keinen nachfolgenden Ereignissen im Zusammenhang mit der Erpressung berichtete (Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2021, Seite 6). Er führte lediglich vage an, dass er über Verwandte erfahren habe, dass seine Eltern belästigt worden seien und es ihnen nicht gut gehe. Ein konkreteres Vorbringen erstattete er dazu nicht. Befremdlich war in diesem Zusammenhang auch, dass er sich trotz regelmäßigen Kontaktes mit den Eltern bei ihnen nie über die angeblichen Belästigungen erkundigt hat. Den Ausführungen des BF und seines Bruders war auch nicht zu entnehmen, dass ihre weiterhin im Irak wohnhafte Brüdern ein ähnliches Schicksal ereilt hätte.
Aus diesen beweiswürdigenden Überlegungen ergab sich insgesamt, dass die behauptete Erpressung zur Lösegeldzahlung unter Androhung einer Zwangsrekrutierung und anschließender Entführung nicht glaubhaft war. Insgesamt betrachtet fehlte dem Vorbringen des BF zu den von ihm geäußerten Fluchtgrund bzw. Rückkehrbefürchtungen eine substantiierte Tatsachengrundlage. Eine individuelle Verfolgung vor der Ausreise oder die Gefahr einer solchen bei einer Rückkehr konnte er damit nicht glaubhaft darlegen.
2.5. Die Annahme, dass der BF bei einer Rückkehr auch insoweit keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wäre, als er etwa in wirtschaftlicher Hinsicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde, stützt sich darauf, dass es sich bei ihm um einen jungen und arbeitsfähigen Mann mit sehr guter Schulbildung im Irak handelt. Er verfügt über einen Schulabschluss auf Maturaniveau und konnte hierorts berufliche Erfahrungen als Gewerbe