TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/11 G305 2205625-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.11.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

11.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


G305 2205625-1/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Ernst MAIER, MAS als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , StA.: Irak, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)       

I.       Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gem. § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

II.      Gem. § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

III.    Die Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos aufgehoben.

B)       

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Am XXXX .2016 stellte der zum Aufenthalt im Bundesgebiet nicht berechtigte Beschwerdeführer (BF), vor Organen der öffentlichen Sicherheitsbehörde einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Am 13.02.2016 wurde er von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen und stellte in diesem Zuge Anträge auf internationalen Schutz für seine Eltern und Geschwister.

Anlässlich dieser Einvernahme gab er, zu seinen Fluchtgründen befragt, an, dass sie in ihrer Heimat immer mehr von verschiedenen Kämpfern bedroht worden seien. Es herrsche überall Krieg und man müsse Angst haben, getötet zu werden.

Zur Reiseroute befragt, gab der BF an, am XXXX .2016 XXXX in Richtung Türkei verlassen zu haben und dann weiter nach Griechenland gereist zu sein. Nach drei Tagen in Griechenland, wo er erkennungsdienstlich behandelt worden sei, habe er über die „Balkanroute“ zuerst Deutschland erreicht und sei dann nach einem eintägigen Aufenthalt und der Einreiseverweigerung wieder nach Österreich zurückgekehrt.

Bei seiner Rückkehr in den Irak fürchte er Tod, Angst und Verfolgung.

Eine von den öffentlichen Sicherheitsorganen durchgeführte EURODAC-Abfrage brachte einen Treffer zu Griechenland.

1.3. Am 20.04.2018 wurde er ab 10:45 Uhr durch Organe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA oder belangte Behörde) unter Beisein einer Vertrauensperson einvernommen.

Hier konkretisierte er die Fluchtroute, die mit jener der Erstbefragung übereinstimmt. Als Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, den Irak wegen des Krieges und der Milizen verlassen zu haben. Seine Familie sei von den Milizen bedroht. Bereits im Jahr 2007 sei gesagt worden, sie (Anm.: die Familie) solle mit den Milizen arbeiten, widrigenfalls sie getötet würden. Sie hätten die Wohnung verlassen und seien nach XXXX gegangen. Dort seien sie geblieben, bis sich der Krieg ausgeweitet habe. Als Sunniten hätten sie Angst vor den Hashd El Shabi Milizen gehabt. Auch in XXXX seien sie bedroht worden, zuletzt seien sie etwa im XXXX 2015 von zu Hause geholt worden. Allerdings sei der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben nie persönlich bedroht worden.

1.4. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wies das BFA den Antrag der beschwerdeführenden Partei hinsichtlich des Antrages auf Erteilung von internationalem Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde (Spruchpunkt III.); gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde ab, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Ihre Entscheidung begründete die belangte Behörde im Kern damit, dass es dem BF nicht gelungen sei, eine asylrelevante Bedrohung glaubhaft zu machen. Die Geschehnisse aus dem Jahr 2007 seien nicht mehr ausreisekausal und die weiteren Angaben des BF widersprüchlich zu jenen seines Bruders, der eine direkte Bedrohung der Familie verneint habe. Zusätzlich verdeutliche die freiwillige Rückkehr seiner Eltern, dass es im Irak keine direkte Bedrohung geben könne.

1.5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schreiben vom 05.09.2018 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Die Beschwerde verband er einerseits mit der Anfechtungserklärung, den Bescheid vollumfänglich anfechten zu wollen, andererseits mit den Anträgen 1.) den angefochtenen Bescheid dessen hinsichtlich Spruchpunkt I. abzuändern und ihm den Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, 2.) in eventu möge ihm gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 4 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat zuerkannt werden, 3.) allenfalls die erlassene Rückkehrentscheidung aufzuheben und auf Dauer für unzulässig zu erklären und festzustellen, dass dem BF eine Aufenthaltsberechtigung plus zu erteilen sei, 4.) in eventu den angefochtenen Bescheid zur Gänze zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Erlassung eines Bescheides an das Bundesamt zurückzuverweisen und 5.) eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen. Begründend führte der BF aus, dass sich das BFA auf unvollständige Länderfeststellungen gestützt und diese nur unzureichend gewertet habe. Zusätzlich habe es die belangte Behörde unterlassen, ihn mit den Widersprüchen zu konfrontieren. Auch seien die Vorfälle aus dem Jahr 2007 kausal, da hier ein Zusammenhang mit den 2015 von derselben Miliz getätigten Drohungen bestehe. Da der BF zu seinen Eltern und seiner Schwester keinerlei Kontakt habe, könne zudem nicht davon ausgegangen werden, dass schon aus der freiwilligen Rückkehr der Eltern und der Schwester in den Irak abzulesen sei, dass für die Familie keine Gefahr bestehe. In Summe habe er gemeinsam mit seinen in Österreich befindlichen Brüdern ein widerspruchsfreies und nachvollziehbares Vorbringen erstattet.

1.6. In der Folge brachte die belangte Behörde die gegenständliche Beschwerde samt dazugehörigem Verwaltungsakt dem BVwG zur Vorlage und verband ihren Vorlagebericht mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

1.7. Mit Schreiben vom 18.12.2020 übertrug der BF die Vollmacht zur Vertretung im Rechtsmittelverfahren gegen die Entscheidung des BFA an die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH.

1.8. Am 20.01.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF, seiner Rechtsvertretung und eines Dolmetschers eine mündliche Verhandlung durchgeführt, anlässlich der er als Partei einvernommen wurde. Im Zuge der Verhandlung wurden diverse Bestätigungsschreiben und eine Stellungnahme zur Lage im Irak und der Integration des BF zur Vorlage gebracht.

1.9. Mit Erkenntnis G305 2205625-1/18E vom 12.05.2021 wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

1.10. Der BF erhob binnen offener Frist im Wege seiner ausgewiesenen Vertretung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof.

1.11. Der VfGH behob mit Erkenntnis XXXX vom XXXX das Erkenntnis vom 12.05.2021 zur Gänze wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung Fremder untereinander.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Identitätsfeststellungen:

Der in XXXX geborene BF führt die im Spruch angegebene Identität und ist irakischer Staatsangehöriger. Er gehört der Ethnie der Araber an und ist Moslem sunnitischer Glaubensausrichtung. Seine Muttersprache ist Arabisch, er verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 und ist ledig und kinderlos [VH-Niederschrift S. 4f].

Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX wurde dessen Bruder, XXXX , geboren am XXXX , mit der alleinigen und gänzlichen Obsorge des BF betraut da die Eltern des BF gemeinsam mit der Schwester am XXXX .2017 freiwillig in den Irak ausreisten [Pflegschaftsbeschluss AS 69f; GVS-Auszug des Vaters des BF IFA: XXXX ].

Seit dem XXXX .2016 hat er den Hauptwohnsitz im Bundesgebiet (seit dem XXXX .2016 an der Anschrift XXXX ) [Auszug aus dem Zentralen Melderegister-ZMR].

In Österreich leben zwei Brüder des BF, XXXX , geboren am XXXX , und XXXX , geboren am XXXX . Mit XXXX lebt der BF in einem Haushalt; dieser Bruder, der bis zum Erreichen der Volljährigkeit mit der Obsorge des BF betraut war, bezieht derzeit Leistungen aus der Grundversorgung. Der zweite Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , ist nicht mehr von Leistungen der Grundversorgung abhängig und ging zuletzt als Arbeiter im XXXX 2020 einer vollversicherten Tätigkeit nach. Derzeit bezieht XXXX Notstandshilfe [Niederschrift-BFA AS 85; ZMR-Auszüge des BF und dessen Brüder; GVS-Auszüge der Brüder des BF]. Beide Brüder des BF sind ebenfalls Asylwerber. Ihr Verfahren befindet sich derzeit im Beschwerdestadium. Sie verfügen über keinen Aufenthaltstitel.

Der BF bezeichnete sich im gesamten Verfahrensverlauf als gesund. Bereits in der Heimat litt er unter einer Septumdeviation, welche 2016 in Österreich teilweise operativ behandelt wurde. [AS 5 und AS 83; S. 3 und S. 17 der VH-Niederschrift; Kurzarztbrief als Beilage zur VH-Niederschrift]. Die Septumdeviation ist aus ärztlicher Sicht keine schwere oder chronische Erkrankung, die eine spezielle Nachbehandlung erforderlich machen würde. Sie steht einer allfälligen Rückschiebung in den Irak nicht entgegen [ärztliches Sachverständigengutachten Dris. XXXX vom XXXX .2021, S. 2].

1.2. Zur Ausreise, Reise, Einreise der beschwerdeführenden Partei in Österreich und ihrer darauffolgenden Asylantragstellung:

Vor seiner Ausreise aus dem Irak lebte er der Provinz XXXX , Bezirk XXXX [Niederschrift-BFA AS 13f].

Am XXXX .2016 verließ der BF gemeinsam mit seinen Eltern, seiner Schwester und zwei seiner drei Brüder XXXX in Richtung Türkei und Griechenland. Nach drei Tagen in Griechenland, wo sie erkennungsdienstlich behandelt wurden, erreichten sie über die „Balkanroute“ zuerst Deutschland und gelangten dann nach einem eintägigen Aufenthalt und einer Einreiseverweigerung am XXXX .2016, da sie ohne gültiges Visum oder einen Aufenthaltstitel einreisen wollten, wieder nach Österreich [Erstbefragung AS 7; Einreiseverweigerung AS 25].

Eine von den öffentlichen Sicherheitsbehörden durchgeführte EURODAC-Abfrage führte zu einem Treffer in Griechenland [Erstbefragung AS 9; EURODAC-Abfrage AS 13f].

1.3. Zur individuellen Situation des Beschwerdeführers im Heimatstaat:

Der BF wurde in XXXX geboren und zog dann im Jahr 2007 aufgrund ethnischer Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten mit den Eltern und Geschwistern in die Provinz XXXX , Bezirk XXXX , wo er sechs Jahre lang die Grundschule und drei Jahre die Hauptschule besuchte. Über eine Berufsausbildung verfügt er nicht [VH-Niederschrift S. 5 und S. 9]. Die Familie des BF lebte in einer Mietwohnung, der Vater war XXXX und konnte mit seinen Einnahmen die Familie versorgen; die Mutter war Hausfrau. Der BF selbst war Schüler und nicht berufstätig [Niederschrift-BFA AS 85f; VH-Niederschrift S. 5].

Bis auf einen Bruder, der unter psychischen Problemen leidet, reiste die gesamte Familie nach Österreich. Am XXXX .2017 reisten die Eltern des BF und seine Schwester freiwillig in den Irak zurück, wo sein Bruder nach wie vor aufhältig war und bei einem Onkel in XXXX lebte.

Die derzeit im Irak lebende Kernfamilie des BF besteht aus seinem im Jahr XXXX geborenen Vater, seiner XXXX geborenen Mutter, einer XXXX geborenen Schwester und einem etwa XXXX -jährigen Bruder. Innerhalb der Familie gibt es keine Probleme oder Konflikte. Zu den Nachbarn hatten der BF und dessen Familie gute Beziehungen [Niederschrift-BFA AS 85; VH-Niederschrift S. 9].

Im Heimatbezirk konnte sich die Familie über nahegelegene Märkte mit Lebensmitteln, Trinkwasser und Textilien versorgen. Krankenhäuser und Arztordinationen konnten mittels Pkw erreicht werden [VH-Niederschrift S. 8].

1.4. Zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei:

Der BF und dessen Familie gehörten im Herkunftsstaat keiner politischen Bewegung an und hatte er selbst weder mit der Polizei, noch mit den Verwaltungsbehörden, noch mit den Gerichten des Herkunftsstaates ein Problem. Er wurde zu keinem Zeitpunkt von staatlichen Organen oder von einer bewaffneten Gruppierung explizit wegen seines Religionsbekenntnisses oder aus politischen Gründen (etwa wegen einer Zugehörigkeit zu einer politischen Partei des Herkunftsstaates) verfolgt. [VH-Niederschrift S. 6f].

Der BF brachte als Fluchtgrund vor, dass die schiitischen Milizen ihn und seine Familie aufgefordert hätten, mit ihnen in die Kampfhandlungen zu ziehen oder getötet zu werden. Die Milizen hätten die Familie weiters beschuldigt, für den IS gekämpft zu haben. Diese Drohungen hätten 2007 und 2015 stattgefunden.

1.5. Zu etwaigen Integrationsschritten des BF im Bundesgebiet:

Der BF hat an einem Sprachkurs für die Stufe A2 teilgenommen und ein dementsprechendes Sprachzertifikat vom XXXX .2019 vorgelegt. Er besucht die XXXX und einmal wöchentlich ein Sprachcafe. Dementsprechend verfügt er über einen in Österreich situierten Freundeskreis [Schulbesuchsbestätigung AS 95; Sprachkursbestätigung AS 97; Bestätigungen, Sprachzertifikat, Fotodokumentation und Jahreszeugnis als Beilage zur VH-Niederschrift und Seite 19 der Niederschrift].

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten [Strafregisterauszug].

Auf weitere integrationsverfestigende Merkmale konnte er nicht verweisen.

Er ist arbeitsfähig, jedoch nicht erwerbstätig und bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung [VH-Niederschrift S. 3 und S. 17; GVS-Auszug].

1.6. Zur Lage im Irak wird festgestellt:

Nachdem es den irakischen Sicherheitskräften (ISF) gemeinsam mit schiitischen Milizen, den sogenannten Popular Mobilisation Forces (PMF), mit Unterstützung durch die alliierten ausländischen Militärkräfte im Laufe des Jahres 2016 gelungen war, die Einheiten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sowohl aus den von ihr besetzten Teilen der südwestlichen Provinz Al Anbar bzw. deren Metropolen Fallouja und Ramadi als auch aus den nördlich an Bagdad anschließenden Provinzen Diyala und Salah al Din zu verdrängen, beschränkte sich dessen Herrschaftsgebiet in der Folge auf den Sitz seiner irakischen Kommandozentrale bzw. seines „Kalifats“ in der Stadt Mossul, Provinz Ninava, sowie deren Umgebung bis hin zur irakisch-syrischen Grenze. Ab November 2016 wurden die Umgebung von Mossul sowie der Ostteil der Stadt bis zum Ufer des Tigris sukzessive wieder unter die Kontrolle staatlicher Sicherheitskräfte gebracht, im Westteil wurde der IS von den irakischen Sicherheitskräften und ihren Verbündeten, die aus dem Süden, Norden und Westen in das Zentrum der Stadt vordrangen, in der Altstadt von Mossul eingekesselt. Der sunnitische IS wiederum versuchte parallel zu diesen Geschehnissen durch vereinzelte Selbstmordanschläge in Bagdad und anderen Städten im Süd- sowie Zentralirak seine, wenn auch mittlerweile stark eingeschränkte Fähigkeit, die allgemeine Sicherheitslage zu destabilisieren, zu demonstrieren. Anfang Juli 2017 erklärte der irakische Premier Abadi Mossul für vom IS befreit. In der Folge wurden auch frühere Bastionen des IS westlich von Mossul in Richtung der irakisch-syrischen Grenze wie die Stadt Tal Afar durch die Militärallianz vom IS zurückerobert. Zuletzt richteten sich die Operationen der Militärallianz gegen den IS auf letzte Überreste seines früheren Herrschaftsgebiets im äußersten Westen der Provinz Anbar sowie eine Enklave um Hawija südwestlich von Kirkuk.

Die Sicherheitslage innerhalb der drei Provinzen der kurdischen Autonomieregion des Nordiraks, nämlich Dohuk, Erbil und Suleimaniya, ist angesichts der Maßnahmen der regionalen Sicherheitskräfte wie Grenzkontrollen und innerregionale Aufenthaltsbestimmungen als stabil anzusehen. Seit Oktober 2017 befindet sich die kurdische Regionalregierung in Konflikt mit der irakischen Zentralregierung in der Frage der Kontrolle über die von kurdischen Sicherheitskräften bislang besetzt gehaltenen Grenzregionen südlich der Binnengrenze der Autonomieregion zum übrigen irakischen Staatsgebiet, insbesondere die Region um die Stadt Kirkuk betreffend. Zuletzt kam es zu einer Besetzung dieser Region sowie weiterer Landstriche entlang der Binnengrenze durch die irakische Armee und der Zentralregierung nahestehende Volksmobilisierungseinheiten, während sich die kurdischen Sicherheitskräfte aus diesen Bereichen zurückzogen. Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil hat sich im Lauf des Jahres 2018 wieder beruhigt, und es finden seither regelmäßig Gespräche zwischen den beiden Seiten statt. Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind jedoch weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der KRI.

Die Sicherheitslage in den südirakischen Provinzen, insbesondere in der Provinz Basra, war, als Folge einer Sicherheitsoffensive staatlicher Militärkräfte im Gefolge interkonfessioneller Gewalt im Jahr 2007, ab 2008 stark verbessert und bis 2014 insgesamt stabil. Auch war diese Region nicht unmittelbar von der Invasion der Truppen des IS im Irak in 2013 und 2014 betroffen. Die Gegenoffensive staatlicher Sicherheitskräfte und deren Verbündeter gegen den IS in Anbar und den nördlicher gelegenen Provinzen bedingte zuletzt eine Verlagerung von Militär- und Polizeikräften in den Norden, die wiederum eine größere Instabilität im Süden, verbunden vor allem mit einem Anstieg an krimineller Gewalt mit sich brachte.

Die Sicherheitslage im Großraum Bagdad war durch die genannten Ereignisse im Wesentlichen ebenfalls nicht unmittelbar beeinträchtigt. Es waren jedoch vereinzelte Anschläge bzw. Selbstmordattentate auf öffentliche Einrichtungen oder Plätze mit einer teils erheblichen Zahl an zivilen Opfern zu verzeichnen, die, ausgehend vom Bekenntnis des - als sunnitisch zu bezeichnenden - IS dazu, sich gegen staatliche Sicherheitsorgane oder gegen schiitische Wohnviertel und Städte richteten, um dort ein Klima der Angst sowie religiöse Ressentiments zu erzeugen und staatliche Sicherheitskräfte vor Ort zu binden. Hinweise auf eine etwaig religiös motivierte Bürgerkriegssituation finden sich in den Länderberichten nicht, ebenso auch nicht in Bezug auf die Säuberung von ethnischen oder religiösen Gruppierungen bewohnte Gebiete.
XXXX , das Heimatgouvernement des BF, zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS. Trotz wiederholter Militäroperationen kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil XXXX bis zu den XXXX Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten. Es kommt in XXXX regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte.

Ein Hauptproblem XXXX ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region, andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in XXXX , was der IS auszunutzen versteht. Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von XXXX . Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle.

Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt XXXX , rund um die Städte XXXX und XXXX , ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt XXXX , sowie auch in die westlichen Gebiete XXXX . Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in XXXX gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden.

Abgesehen davon war der BF im Herkunftsstaat keiner asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt. Er hatte weder mit der Polizei, noch mit den Gerichten noch mit den Verwaltungsbehörden des Herkunftsstaates Probleme. Er war auch nie Adressat einer gegen ihnen gerichteten strafgerichtlichen Verfolgung. Auch liegt keine strafgerichtliche Verurteilung gegen ihn vor. Er war nie Mitglied einer im Herkunftsstaat tätigen bewaffneten Gruppierung (Al-Kaida, IS bzw. schiitischer Milizen) bzw. wurde er von einer bewaffneten Gruppierung des Herkunftsstaates zu keinem Zeitpunkt angeworben, insbesondere für Kampfhandlungen. Insgesamt kam anlassbezogen nicht hervor, dass er im Herkunftsstaat einer asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt gewesen wäre.

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges- amt- bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 26.01.2021

-        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Asa'ib Ahl al-Haqq, insbesondere Verhalten gegenüber sunnitischen MuslimInnen 02.02.2018, https://www.ecoi.net/de/dokument/1424853.html Zugriff am 26.01.2021

-        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/document/2021156.html, Zugriff 26.01.2021

-        BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Irak: Von schiitischen Milizen dominierte Gebiete (Ergänzung zum Länderinformationsblatt), 04.01.2018 https://www.ecoi.net/en/file/local/1422124/5618_1516263925_irak-sm-von-schiitischen-milizen-dominierte-gebiete-2018-01-04-ke.doc Zugriff am 26.01.2021

-        France24 (22.2.2020): Iraqi Kurds rally against 'corruption' of ruling elite, https://www.france24.com/en/20200222-iraqi-kurds-rally-against-corruption-of-ruling-elite, Zugriff 26.01.2021

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 26.01.2021

-        KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 26.01.2021

-        Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 26.01.2021

-        UK Home Office: Country Policy and Information Note Iraq: Sunni (Arab) Muslims, 06/2017 https://www.ecoi.net/en/file/local/1403272/1226_1499246656_iraq-sunni-arabs-cpin-v2-0-june-2017.pdf Zugriff am 26.01.2021

-        UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA); Ability of Persons Originating from (Previously or Currently) ISIS-Held or Conflict Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Relocation, 12.04.2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1397131/1930_1492501398_58ee2f5d4.pdf Zugriff am 26.01.2021

1.6.1. Berufsgruppen:

Aus den Länderinformationen zum Herkunftsstaat der bfP geht hervor, dass Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte und alle Mitglieder des Sicherheitsapparats besonders gefährdet seien (AA 12.01.2019).

Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird - fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen (AA 12.1.2019; vgl. USDOS 21.6.2019), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal seien ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen (AA 12.1.2019).

Der BF war bis zu seiner Ausreise aus dem Irak Schüler und ging keiner Erwerbstätigkeit nach. Auch war sein Vater, die zur Zeit der Ausreise einzige berufstätige Person der Familie, in keinem exponierten Berufsfeld tätig; er verdingte sich als XXXX . Es ist daher festzustellen, dass aus den Tätigkeiten des BF und seiner Familienmitglieder keine Bedrohung durch öffentliche Stellen resultiert.

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 26.01.2021

-        USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html, Zugriff 26.01.2021

1.6.2. Medizinische Versorgung

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben maximal eine Stunde vom nächstgelegenen Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche, wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).

Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser mit eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, doch haben viele aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

Anlässlich seiner Einvernahme vor dem BFA sowie vor dem BVwG bezeichnete sich der BF als gesund. Aus dem eingeholten Sachverständigengutachten Dris XXXX vom XXXX .2021 ergibt sich, dass die diagnostizierte Septumdeviation nicht lebensbedrohlich ist und daher kein Hindernis für eine Rückführung des BF in den Irak besteht.

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 26.01.2021

GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/, Zugriff 26.01.2021

IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2, Zugriff 26.01.2021

UNAMI - United Nations Assistance Mission to Iraq (12.2016): Report on the Rights of Persons with Disabilities in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNAMI_OHCHR__Report_on_the_Rights_of_PWD_FINAL_2Jan2017.pdf, Zugriff 26.01.2021

WHO - World Health Organization (o.D.): Iraq: Primary Health Care, http://www.emro.who.int/irq/programmes/primary-health-care.html, Zugriff 26.01.2021

1.7. Aus den Angaben des BF lassen sich keine Anhaltspunkte dahin entnehmen, dass er mit den Behörden, der Polizei oder den Gerichten des Herkunftsstaates - etwa wegen seines früheren Religionsbekenntnisses, seiner ethnischen Zugehörigkeit zur arabischen Volksgruppe oder aus politischen Gründen - je ein Problem gehabt hätte. Es gibt auch keinerlei Hinweise in die Richtung, dass er oder die Angehörigen seiner Kernfamilie darüber hinaus politisch exponiert aktiv gewesen wären oder als Mitglied einer politisch aktiven Bewegung oder einer bewaffneten Gruppierung des Herkunftsstaates angehört hätten. Vielmehr steht fest, dass die im Herkunftsstaat verbliebenen Angehörigen mit ihren eigenen Familien ein unbehelligtes Leben führen.

Mit den Angehörigen derselben Glaubensrichtung oder mit den Angehörigen einer anderen, im Herkunftsstaat beheimateten Glaubensrichtung hatte er keine Probleme.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. dargestellte Verfahrensgang und die in der Folge getroffenen (sachverhaltsbezogenen) Feststellungen ergeben sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes, sowie aus den niederschriftlich protokollierten Angaben des BF anlässlich seiner Befragung durch die Organe der belangten Behörde.

2.2. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache zur Identität, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie der Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers Feststellungen getroffen wurden, beruhen diese im Wesentlichen auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, den vom BF vor den Organen der öffentlichen Sicherheitsbehörde und vor den Organen der belangten Behörde getätigten Angaben sowie auf den im Akt befindlichen Kopien der vorgelegten Dokumente und Urkunden, bei welchen es sich um Ablichtungen der Originaldokumente handelt (AS 45ff).

Diese Feststellungen gelten ausschließlich für die Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im gegenständlichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren.

Die zu seiner Ausreise aus dem Irak, zur weiteren Reiseroute und zur Einreise ins Bundesgebiet getroffenen Konstatierungen ergeben sich aus seinen glaubhaften Angaben anlässlich seiner niederschriftlichen Einvernahme vor den Organen der Sicherheitsbehörde, die im Wesentlichen unstrittig geblieben sind und der gegenständlichen Entscheidung daher im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu Grunde gelegt werden konnten.

Dass dem BF die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verweigert wurde, ergibt sich aus einer diesbezüglichen Bestätigung der Bundespolizeidirektion XXXX , die in Kopie vorliegt (AS 25).

Dass dem Bruder des BF bis zu dessen Volljährigkeit die alleinige Obsorge übertragen wurde, da deren Eltern freiwillig in den Irak zurückkehrten, ergibt sich aus dem Beschluss des BG XXXX AS 69f) und der Ausreisebestätigung im GVS-Auszug des Vaters des BF IFA: XXXX .

2.3. Zum Vorbringen des Beschwerdeführers:

Die zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates und zu seiner Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen beruhen einerseits auf den Angaben des BF vor den Organen der öffentlichen Sicherheitsbehörde sowie auf den vor den Organen der belangten Behörde gemachten Angaben und auf seinen Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Vor den Organen der öffentlichen Sicherheitsbehörde gab er an, dass sie (Anm.: er und seine Familie) in ihrer Heimat immer mehr von verschiedenen Kämpfern bedroht worden seien. Es herrsche überall Krieg und man müsse Angst haben, getötet zu werden.

Vor der belangten Behörde gab er als Fluchtgrund zusammengefasst an, den Irak wegen des Krieges und der Milizen verlassen zu haben. Seine Familie sei von den Milizen bedroht. Bereits im Jahr 2007 sei gesagt worden, sie (Anm.: die Familie) solle mit den Milizen kooperieren, widrigenfalls sie getötet würden. Sie hätten die Wohnung verlassen müssen und seien nach XXXX gegangen. Dort seien sie geblieben, bis sich der Krieg ausgeweitet habe. Als Sunniten hätten sie Angst vor den Hashd El Shabi Milizen gehabt. Auch in XXXX seien sie bedroht worden, zuletzt seien sie etwa im Dezember 2015 von zu Hause geholt worden. Der BF sei jedoch nie persönlich bedroht worden, sondern habe sich die Bedrohung gegen die gesamte Familie gerichtet.

In Vergleich zur Erstbefragung erfuhr das Vorbringen dahingehend eine Steigerung, dass er erst vor dem Bundesverwaltungsgericht angab, persönlich mit einer Waffe bedroht worden zu sein. Diese Ausführungen finden sich weder im Zuge der Erstbefragung, noch in der Niederschrift des BFA. Hier finden sich nur Hinweise darauf, dass die gesamte Familie von Handlungen dritter Personen betroffen war.

Erst vor dem Bundesverwaltungsgericht präzisierte der BF seine Angaben dahingehend, dass die gesamte Familie XXXX - den Geburtsort des BF - 2007 verlassen musste, da es vermehrt zu interkonfessionellen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten gekommen sei. Bis zu diesem Zeitpunkt habe die Familie unbehelligt in der irakischen Hauptstadt leben können. Es seien Personen gekommen und hätten die Familie aufgefordert, für die Milizen zu arbeiten. Da sie dies nicht gewollt hätten, habe man den Wohnortwechsel in die Provinz XXXX gewählt. Dort hätten im XXXX 2015 schiitische Milizionäre die Familie des BF aufgesucht, ihm eine Pistole an den Kopf gehalten und gesagt: „Entweder kommst Du mit uns und trägst Waffe, oder wir töten dich.“ Nach dieser Situation habe der Vater beschlossen, mit seiner gesamten Familie das Land zu verlassen.

Weitere Fluchtgründe brachte der BF nicht vor.

Gemäß dem Erkenntnis des VfGH XXXX vom XXXX besteht für "Personen, die fälschlicherweise verdächtigt werden, ISIS zu unterstützen", ein besonderes Risikoprofil. Dazu zählen "Personen mit überwiegend sunnitisch-arabischer Identität und zwar vornehmlich [...] Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren", sowie "Familien und insbesondere Frauen und Kinder, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen ISIS-Mitgliedern verbunden sind".

2.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die länderkundlichen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak gründen auf dem Amtswissen des erkennenden Gerichtes und auf den als notorisch zu qualifizierenden aktuellen Ereignissen im Herkunftsstaat des BF in Verbindung mit den dazu ergänzend eingesehenen länderkundlichen Informationsquellen. Diesen war auch kein über die oben erörterten, vom BF selbst dargebotenen Verfolgungsgründe hinausgehender Sachverhalt zu entnehmen, der allenfalls Anhaltspunkte für eine aus sonstigen Gründen drohende individuelle Gefährdung beinhaltet hätte.

2.5. Zur Integration des BF in Österreich:

Die Feststellungen zu den vom Beschwerdeführer in Österreich gesetzten Integrationsschritten (Deutschkurs- und Schulbesuch, Teilnahme am Sprachcafé) ergeben sich aus den diesbezüglichen glaubhaften Nachweisen im Akt. Der Bezug aus Leistungen der Grundversorgung ergibt sich aus einem GVS-Auszug, seine strafrechtliche Unbescholtenheit aus einem von Amts wegen eingeholten Strafregisterauszug.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht

3.1.1. Die gegen den Bescheid der belangten Behörde vom XXXX .2018 erhobene Beschwerde des BF ist rechtzeitig und brachte die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid, die dagegen erhobene Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens in der Folge dem Bundesverwaltungsgericht zur Vorlage.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF., entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) das Bundesverwaltungsgericht.

3.1.2. Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt die Entscheidung in der gegenständlichen Rechtssache dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte, mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr 33/2013 idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

3.1.3. Der mit „Familienverfahren im Inland“ betitelte § 34 AsylG lautet wie folgt:

„Familienverfahren im Inland

§ 34. (1) Stellt ein Familienangehöriger von

1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;

2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder

3. einem Asylwerber

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn

1. dieser nicht straffällig geworden ist und

(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)

3. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).

(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn

1. dieser nicht straffällig geworden ist;

(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)

3. gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9) und

4. dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

(5) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.

(6) Die Bestimmungen dieses Abschnitts sind nicht anzuwenden:

1. auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;

2. auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind;

3. im Fall einer Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30 NAG).“

3.1.4. Zum Zeitpunkt der Asylantragstellung (am XXXX .2016) war der BF noch minderjährig, und stellte er zusammen mit seiner Familie den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Im Laufe des Asylverfahrens wurde dem Bruder des BF durch das Bezirksgericht XXXX die Obsorge für den BF übertragen.

Als die in Beschwerde gezogenen Bescheide des BFA erlassen wurden, hatte der BF die Volljährigkeit bereits erreicht.

Bezüglich des den BF betreffenden Beschwerdeverfahrens und jenen Verfahren, die seine Brüder betreffen, liegt kein Familienverfahren iSd § 34 Abs. 4 AsylG vor.

3.2. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids:

3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ (vgl. VwGH vom 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; vom 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131 und vom 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0370 und vom 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, der sich eignet, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH vom 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; vom 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; vom 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN; vom 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; vom 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131 und vom 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0318 und vom 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH vom 05.11.1992, Zl. 92/01/0792 und vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH vom 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH vom 01.06.1994, Zl. 94/18/0263 und vom 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH vom 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0370 und vom 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor einer konkreten Verfolgung findet (VwGH vom 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. „inländische Fluchtalternative“ vor. Der Begriff „inländische Fluchtalternative“ trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH vom 08.09.1999, Zlen. 98/01/0503 und 98/01/0648).

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH vom 21.01.1999, Zl. 98/20/0399 und vom 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).

3.2.2. Zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten:

Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.

Der VfGH hat mit Erkenntnis XXXX vom XXXX das Erkenntnis des BVwG G305 2205625-1/18E vom 12.05.2021 zur Gänze aufgehoben.

Im zitierten Erkenntnis hat der VfGH folgendes festgehalten:

„Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

Nach den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, vom Mai 2019 (im Folgenden: UNHCR-Erwägungen) besteht für "Personen, die fälschlicherweise verdächtigt werden, ISIS zu unterstützen", ein besonderes Risikoprofil. Dazu zählen "Personen mit überwiegend sunnitisch-arabischer Identität und zwar vornehmlich [...] Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren", sowie "Familien und insbesondere Frauen und Kinder, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen ISIS-Mitgliedern verbunden sind" (UNHCR-Erwägungen, S 69 ff.). Die Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren, werden "kollektiv verdächtigt, mit ISIS verbunden zu sein oder ISIS zu unterstützen" (UNHCR-Erwägungen, S 69). Für diese besteht das Risiko willkürlicher Festnahme, erzwungenen Verschwindens, von Folter und anderen Formen der Misshandlung, außergerichtlicher Hinrichtungen und unfairer Gerichtsverhandlungen, die zu Todesurteilen führen können. Mit solchen Personen verbundene Familienangehörige sind auf Grund ihrer Verwandtschafts- oder Stammesbeziehungen unterschiedlichen Menschenrechtsverletzungen und -missbräuchen durch lokale Behörden, die ISF und damit verbundene Kräfte, lokale Milizen sowie Mitglieder der Stämme und Gemeinschaften, denen diese Familien angehören, ausgesetzt (UNHCR-Erwägungen, S 72).

Angehörige dieser beiden Personengruppen benötigen nach Auffassung von UNHCR "wahrscheinlich" internationalen Flüchtlingsschutz (UNHCR-Erwägungen, S 77), was auf Grund der besonderen Umstände des jeweiligen Falles individuell geprüft werden muss (siehe zur ähnlichen Berichtslage auch die EASO-Country Guidance: Iraq vom Jänner 2021, S 64 ff.).

Hat der Beschwerdeführer ein substantiiertes Vorbringen erstattet, dass er auf Grund dieses besonderen Risikoprofils individuell bei Rückkehr der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sein werde (und nicht bloß auf die Zugehörigkeit zur Personen-gruppe mit diesem Risikoprofil entsprechend der UNHCR-Erwägungen verwiesen, also auf allgemeine Behauptungen einer Verfolgungssituation, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar ist, vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314 mwN; 21.12.2020, Ra 2020/14/0445), dann hat das Bundesverwaltungsgericht eine Prüfung der besonderen Umstände des Falles durchzuführen, sich also mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat in Bezug auf das dargestellte besondere Risikoprofil auseinanderzusetzen.

Der Beschwerdeführer begründet seinen Antrag auf internationalen Schutz damit, dass er mit seiner Familie den Irak, konkret seine Herkunftsregion Diyala, im Jahr 2015 verlassen habe, weil schiitische Milizen seine Familie und ihn anlässlich eines näher geschilderten Vorfalles beschuldigt hätten, während der zu diesem Zeitpunkt gegen den IS stattfindenden militärischen Auseinandersetzungen für den IS gekämpft zu haben. Die Milizen hätten sie aufgefordert, sich ihnen im Kampf gegen den IS anzuschließen, andernfalls würden sie den Beschwerdeführer und seine Familie töten.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt explizit wegen seines Religionsbekenntnisses oder aus politischen Gründen von staatlichen Organen oder von einer bewaffneten Gruppierung verfolgt worden sei. Er habe nicht glaubhaft machen können, dass er von einer schiitischen Miliz wegen seines Glaubens oder aus anderen Konventionsgründen bedroht worden sei. Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach die Milizen auf Grund der stattfindenden Kampfhandlungen kaum Zeit gehabt hätten, sich mit der Familie zu befassen, sei ersichtlich, dass eine zielgerichtete Bedrohung des Beschwerdeführers oder seiner Familie zu keiner Zeit erfolgt sei und auch nicht geplant gewesen sein könne. Vielmehr sei die Aufforderung zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Dezember 2015 den zum damaligen Zeitpunkt zwischen dem IS, Milizen und auch irakischen Einheiten stattfindenden Kämpfen geschuldet gewesen.

Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten also davon aus, dass die vom Beschwerdeführer geschilderte Bedrohung den damaligen Kämpfen zwischen dem IS, Milizen und irakischen Einheiten geschuldet gewesen sei, sich aber nicht gegen den Beschwerdeführer und seine Familie direkt gerichtet hätte. Es verneint damit eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers, ohne zu berücksichtigen, dass nach den UNHCR-Erwägungen für den aus einem ehemals vom IS besetzten Gebiet stammenden Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter ein besonderes Risikoprofil besteht. Damit unterlässt es das Bundesverwaltungsgericht auch, sich mit der individuellen Bedrohung, die der Beschwerdeführer ausführlich als Fluchtgrund vorgebracht hat, im Lichte dieses besonderen Risikoprofils des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen (vgl. VfGH 8.6.2021, E 149/2021 ua.). Eine vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Würdigung sonstiger Umstände vermag dabei die Auseinandersetzung in Bezug auf das Risikoprofil nicht zu ersetzen.

Indem das Bundesverwaltungsgericht den Umstand unberücksichtigt lässt, dass der Beschwerdeführer dem in den Länderinformationen beschriebenen besonderen Risikoprofil entspricht und ein substantiiertes Vorbringen erstattet hat, des-wegen von schiitischen Milizen bedroht worden zu sein und damit bei einer Rück-kehr wiederum der Verfolgung ausgesetzt zu sein, hat es die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und daher sein Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl. VfGH 6.10.2020, E 1728/2020).

(…..)

Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (Art. I Abs. 1 Bundesverfassungsgesetz

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten