TE Bvwg Erkenntnis 2021/12/13 W272 2167921-1

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Veröffentlicht am 13.12.2021
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Entscheidungsdatum

13.12.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W272 2167921-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Alois BRAUNSTEIN, MBA, als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.07.2017, ZI. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.08.2021 und am 17.11.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen den Spruchpunkt I., II. und III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und gemäß § 9 BFA-VG iVm § 52 Abs. 2 FPG festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung Plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. Die Spruchpunkte V. und VI. werden ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 06.09.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Bei der Erstbefragung am nächsten Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er verheiratet sei, als Unternehmer gearbeitet habe und in den letzten Jahren berufsmäßig sehr viel gereist sei. Er sei in Ägypten und in der Türkei wohnhaft gewesen und das letzte Jahr habe er in der Ukraine gelebt. Er habe sein Herkunftsland verlassen, weil es vor ca. 10 Jahren noch sehr viele Rebellen gegeben habe, einige von ihnen kenne er und einer sei gesucht worden. Der Gesuchte sei dann verhaftet, verhört worden und habe bevor er getötet worden sei unter Folter den Namen des Beschwerdeführers genannt. Der Beschwerdeführer habe sodann von einem Bekannten erfahren, dass er von der Polizei gesucht werde und sei deshalb geflohen. Wenn er in seine Heimat zurückkehre, könnte er getötet werden, weil er noch immer gesucht werde. Es gebe dem russischen Innenministerium unterstellten Gruppen, eine Art Söldner, die seien kriminell und bringen Leute um.

1.3. Der Beschwerdeführer legte am 14.10.2016 seinen russischen Auslandsreisepass dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) vor und am 12.02.2017 wurde er vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab dabei im Wesentlichen an, dass er mit Frau XXXX seit 12 Jahren verheiratet sei und drei gemeinsame Kinder habe. Seine Frau und Kinder leben seit einem Jahr wieder in Dagestan in seiner Eigentumswohnung und sie werden von seiner Mutter und den Eltern seiner Frau unterstützt. Die Mutter und zwei Geschwister des Beschwerdeführers sowie zwei Tanten und ein Onkel seien ebenfalls in der Russischen Föderation, Dagestan aufhältig. Der Beschwerdeführer habe in der Russischen Föderation die Ausbildung zum Goldschmied gemacht und danach als selbständiger Goldschmied gearbeitet. Er habe Dagestan vor 11 Jahren verlassen und sei seit 10 Jahren nicht mehr in der Russischen Föderation gewesen. Der Beschwerdeführer habe regelmäßigen Kontakt zu seinen Familienmitgliedern. Er habe von Geburt bis zu seinem 30. Lebensjahr immer in Dagestan, XXXX gelebt und danach habe er abwechselnd in der Ukraine, Türkei und Ägypten gewohnt, wo seine Frau abgesehen für die Geburt ihrer Kinder auch dem Beschwerdeführer gefolgt sei. Er sei wegen Handelsgeschäften mit „Tmin“ (sei eine Ölpflanze) so oft gereist. Er habe sich in den genannten Ländern zum Teil illegal aufgehalten und habe entweder deshalb immer wieder Strafen bezahlt oder er sei in der Türkei auch in Schubhaft genommen worden. Der Beschwerdeführer habe 2,5-3 Jahre in der Ukraine gelebt, aber für Staatsbürger von Dagestan sei es dort unsicher und da er einen Schlepper gefunden habe, sei er Mitte August 2016 nach Österreich gereist.

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab er zusammengefasst an, dass er vor 15 Jahren einen Freund, der von der Polizei gesucht worden sei, unterstützt habe und sein Freund und der Beschwerdeführer seien dann festgenommen worden. Er sei ein Monat lang gefoltert worden und er habe seitdem Gedächtnisprobleme. Danach habe er ein paar Jahre ganz normal in Dagestan gelebt, aber es sei dort allgemein üblich von Polizeibeamten gefoltert zu werden. Sie haben sehr viele Menschen unmenschlich behandelt und deshalb haben junge Menschen begonnen aus Protest Polizeibeamte zu erschießen. Dies habe einen großen Krieg ausgelöst. Die Polizei habe einen Bekannten gesucht und dessen Freund gefunden sowie zu Tode gefoltert. Auch sein Schwager sei festgehalten worden. Die gesuchte Person sei XXXX und der getötete Freund heiße auch XXXX . Der Freund habe unter Folter den Namen des Beschwerdeführers genannt und auch sein Schwager sei dann nach dem Aufenthalt des Beschwerdeführers befragt worden. Das sei alles ca. vor 11 Jahren passiert. Sein Schwager sei mit einer Bewährungsstrafe freigelassen worden, aber nach ein paar Monaten verschwunden. Innerhalb von zwei Tagen seien damals 16 Personen verschwunden und umgebracht worden. Nach diesen Vorfällen sei dort die Organisation „Die Mütter von Dagestan“ gegründet worden und seine Schwiegermutter sei auch Mitglied dieser Organisation. Er sei nach Hause gekommen und man habe ihm gesagt, dass irgendwer nach ihm gefragt habe. Seine Mutter habe geahnt, dass etwas nicht stimme und diese zwei Männer haben zwei Stunden im Auto vorm Haus gewartet. Der Beschwerdeführer sei daraufhin nicht mehr nach Hause gegangen und habe nach diesen Männern recherchiert, die ihm nochmals aufgesucht haben. Durch einen Bekannten seiner Schwester, einem Major bei der Polizei, habe der Beschwerdeführer erfahren, dass ein gewisser XXXX gesucht werde und die Polizei wisse, dass der Beschwerdeführer Hr. XXXX kenne und wenn die Polizei den Beschwerdeführer festnehmen würde, würde sie ihn auf jeden Fall foltern. Würde der Beschwerdeführer den Aufenthalt von Hr. XXXX nicht kennen, dann werde ihn die Polizei nicht am Leben lassen. Der Major meinte, dass der Beschwerdeführer unbedingt das Land verlassen solle, wenn er am Leben bleiben wolle. Im Jahr 2006, als der Beschwerdeführer in Ägypten gewesen sei, habe XXXX ein Attentat auf den Innenminister von Dagestan verübt und der Beschwerdeführer sei dann nochmals intensiver gesucht worden. Fotos des Beschwerdeführers seien überall aufgehängt worden und seine Verwandten seien oft von der Polizei aufgesucht worden und nach dem Beschwerdeführer befragt worden. Die letzten vier Jahre sei der Beschwerdeführer nicht mehr so streng gesucht worden, aber er könne trotzdem nicht zurückkehren, weil der heutige stellvertretende Innenminister sei damals Chef der Organisation ZP gewesen und kenne den Beschwerdeführer persönlich und haben damals den Befehl erteilt, den Beschwerdeführer zu foltern.

Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer einen kirgisischen Reisepass, lautend auf XXXX , geb. XXXX vor. Der Beschwerdeführer sei kein Kirgise, aber ein Bekannter habe ihm als er in der Türkei aufhältig gewesen sei, den Pass besorgt. Außerdem legte er eine Kopie des Reisepasses seiner Frau sowie von seinen drei Kindern, die Kopie der Heiratsurkunde, Deutschkursbestätigung A1/2, Deutschprüfungszertifikat A1 und ein Schreiben einer Menschenrechtsorganisation sowie ein Screenshot bezüglich seines Schwagers vor.

1.4. Das Bundesamt wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 25.07.2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Unter einem erteilte es ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung gegen ihn und stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.). Es räumte ihm eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ein (Spruchpunkt IV.).

Das Bundesamt führte begründend aus, dass eine gegen den Beschwerdeführer gerichtete asylrelevante Verfolgung in seinem Heimatstaat nicht feststellbar sei. Das Bundesamt könne insgesamt dem Vorbringen des Beschwerdeführers keine Asylrelevanz zubilligen, weil seiner Fluchtgeschichte kein Glauben geschenkt werde. Es sei bloß eine Behauptung des Beschwerdeführers, dass alle die XXXX in irgendeiner Form gekannt haben von Polizeibeamten eingesperrt, gefoltert und getötet werden. Nach den Angaben des Beschwerdeführers, habe er nämlich XXXX lediglich von Besuchen in der Moschee gekannt und diesen einmal seine Dienste als Goldschmied in Anspruch genommen habe. Dem Vorbringen, dass die Polizei immer noch Interesse an dem Beschwerdeführer habe, obwohl nach seinen Angaben XXXX seit vielen Tagen tot sei, sei zu entgegnen, dass sich im Herkunftsstaat, in Dagestan, die gesamte Familie des Beschwerdeführers aufhalte und der Beschwerdeführer seine Ehefrau und mj. Kinder vor über einem Jahr von der Ukraine nach Hause in die Heimatstadt geschickt habe. Für den Fall, dass der Beschwerdeführer tatsächlich einer Bedrohung durch Sicherheitsbehörden in der Russischen Föderation nach mittlerweile 11 Jahren ausgesetzt sei, erscheine aber undenkbar, dass sich seine Ehefrau unbehelligt in der Russischen Föderation aufhalten könne und jeweils zur Geburt der zwei erstgeborenen Kinder jeweils in die Russische Föderation zurückgekehrt sei. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer weder in Dagestan regional noch innerhalb der Russischen Föderation nach ihm gefahndet werde. Außerdem bringe er immer wieder nur vor, dass ihm jemand gesagt habe, dass sein Leben in Gefahr sei bzw. nach ihm gesucht werde. Zusammengefasst gehe das Bundesamt davon aus, dass es sich bei dem vom Beschwerdeführer geschilderten Bedrohungsszenario um ein Konstrukt handle, welches in dieser Art und Weise nicht existiere.

1.5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 04.08.2017 (eingebracht am 04.08.2017) fristgerecht vollumfänglich Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Darin brachte er im Wesentlichen vor, dass der Beschwerdeführer seiner Mitwirkungspflicht am Verfahren so gut wie möglich nachgekommen sei, die Erstbehörde jedoch verabsäumt habe, den vorgebrachten Hinweisen von Amts wegen weiter nachzugehen. Angesichts der aufrecht gehaltenen Fluchtgeschichte des Beschwerdeführers sei festzustellen, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland von den dortigen Sicherheitsbehörden verfolgt werde. Er werde verfolgt, weil ihm seitens des Staates eine politische Gesinnung unterstellt werde, weil der Beschwerdeführer persönlich, gesuchte Personen kenne, welche für ein Attentat an den Innenminister von Dagestan verantwortlich seien. Zudem sei der Beschwerdeführer einer Verfolgung wegen seiner Religionszugehörigkeit ausgesetzt, weil er ein Wahhabit sei. Der Beschwerdeführer sei zwar in seiner Heimat nicht selbst politisch tätig gewesen, könne jedoch nicht als politisch unauffällig betrachtet werden, weil er aufgrund seiner persönlichen Beziehung zu XXXX politisch verfolgt werde. Die persönliche Beziehung zu XXXX basiere lediglich auf geschäftlicher Basis, jedoch reiche in Dagestan der bloße Verdacht für eine Anschuldigung aus, dass man mit Rebellen zusammenarbeite. Die Verfolgung von Freunden von Aufständischen sei im Nordkaukasus weit verbreitet. Die belangte Behörde habe es unterlassen, sich mit dem gesamten individuellen Vorbringen sachgerecht auseinanderzusetzen und diesbezüglich ein adäquates Ermittlungsverfahren durchzuführen. Die Befragung zu dem Fluchtgrund des Beschwerdeführers erweise sich ebenfalls als unzureichend. Das Bundesamt hätte dem Beschwerdeführer zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen, weil er in Russland zur Fahndung ausgeschrieben sei und er im Falle einer Festnahme Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sei. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.

Außerdem legte er eine schriftliche Stellungnahme des Freundes des Beschwerdeführers, XXXX und einen USB-Stick samt Audiodatei und schriftlicher Stellungnahme von XXXX vor.

1.6. Das Bundesamt legte dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 16.08.2017 die Beschwerde samt zugehörigem Verwaltungsakt vor.

1.7. Mit Eingabe vom 30.11.2017 übermittelte der Beschwerdeführer eine CD mit Audiodaten, die die Ehefrau des Beschwerdeführers erstellt hat. Es seien darauf Aufnahmen zu hören, die die Ehefrau gemacht habe, während sie von den Polizisten zu Hause verhört worden sei, weil die Sicherheitsbehörden den Beschwerdeführer suchen. Mit Telefonat vom 01.12.2017 wurde die Rechtsberaterin als gewillkürte Vertreterin des Beschwerdeführers über die sehr schlechte Aufnahmequalität der übermittelten Audiodaten informiert, sodass eine diesbezügliche Übersetzung eines Dolmetschers nicht möglich sein werde. Mit Eingabe vom 12.03.2018 übermittelte der Beschwerdeführer die Übersetzung der aufgenommenen Audiodaten.

Mit Eingabe vom 15.11.2019 übermittelte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme, in der er seine Situation noch einmal beschrieb sowie eine Bescheinigung des Strafvollzugsdienstes der Republik Dagestan vom 31.10.2018 samt beglaubigter Übersetzung. Mit einem Schreiben von Herrn XXXX sowie dem Bescheid vom 29.07.2004, mit dem Herrn XXXX der Asylstatus gewährt wurde, wolle der Beschwerdeführer darauf hinweisen, dass Herr XXXX in seinem Fall als Zeuge aussagen könne. Außerdem führte der Beschwerdeführer aus, dass sich seine Frau in der Ukraine aufhalte und dort über WhatsApp nach wie vor von der Polizei bedroht werde und legt in diesem Zusammenhang einen Ausdruck der Nachrichten samt deutscher Übersetzung sowie einen USB-Stick mit darauf befindlichen Sprachnachrichten vor.

Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 29.06.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache an die Gerichtsabteilung W272 zugewiesen.

Am 09.07.2021 stellte das erkennende Gericht eine Anfrage an die Staatendokumentation. Mit Eingabe vom 12.07.2021 übermittelte das Bundesministerium für Inneres die Information, dass eine Suche im Interpol Fahndungssystem unter keinem der angeführten Namen vom Beschwerdeführer einen Treffer erzielte.

1.8. Am 19.08.2021 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, an der der Beschwerdeführer und ein Dolmetscher für die Sprache Russisch teilnahmen. Die belangte Behörde und der geladene Zeuge sind entschuldigt nicht erschienen. Der Beschwerdeführer legte zwei Einstellungszusagen sowie vier Screenshots vor, die als Beilage zum Akt genommen wurden.

1.9. Mit Eingabe vom 20.09.2021 übermittelte die Staatendokumentation entsprechende Informationen in der Anfragebeantwortung vom 16.09.2021 zur Russischen Föderation: Dagestan: Informationen zu XXXX , Informationen zur Fahndung nach Personen, die im Zusammenhang mit Attentaten auf den dagestanischen Innenminister 2006 und 2007 bzw. dessen Ermordung 2008 gesucht werden, bzw. Fahndung nach Bekannten oder Verbündeten von XXXX .

1.10. Am 17.11.2021 erfolgte eine zweite mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, an der der Beschwerdeführer und ein Dolmetscher für die Sprache Russisch sowie Hr. XXXX als geladener Zeuge teilnahmen. Der Beschwerdeführer legte eine Geburtsurkunde, eine Bestätigung der Musterung beim Militär, eine medizinische Begutachtung, das Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau A2 und eine Einstellungszusage von der Firm A.M. Transporte vor.

1.11. Mit Eingabe vom 26.11.2021 übermittelte der Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes, der im Verfahren vorgelegten Unterlagen, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister, der GVS und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1.1. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Er ist volljährig, Staatsangehöriger der Russischen Föderation, fühlt sich der ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe der Laken zugehörig und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Seine Erstsprache ist Lakisch, außerdem spricht er fließend Russisch sowie Deutsch auf Niveau A2.

1.1.2. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in der Russischen Föderation, in der Teilrepublik Dagestan, Stadt XXXX geboren und lebte dort bis zur Ausreise im Jahr 2006. Er besuchte dort 8 Jahre die Grundschule und besuchte danach ein College für Mechaniker, dass er nicht abschloss. Außerdem machte er eine Ausbildung zum Goldschmied, arbeitete die letzten 5-7 Jahre vor der Ausreise als selbständiger Goldschmied in seiner Heimatstadt und verdiente sich so seinen Lebensunterhalt. Der Beschwerdeführer befand sich vom 10.05.2002 bis 20.05.2002 in der Republik Dagestan in Untersuchungshaft als Verdächtiger in Bezug auf Art. 208 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppe oder Beteiligung an einer solchen). Im Jänner 2006 heiratete der Beschwerdeführer seine Frau XXXX (Mädchenname: XXXX ). Sie ist am XXXX in der Russischen Föderation geboren und russische Staatsangehörige. Er wohnte im Anschluss mit seiner Frau in einer Wohnung in Dagestan. Mitte 2006 reiste er von der Russischen Föderation in die Ukraine. Zwischen 2006 und der Antragstellung auf internationalen Schutz in Österreich im September 2016 war der Beschwerdeführer in der Ukraine, Türkei und Ägypten aufhältig und betrieb Handelsgeschäfte. Außerdem reiste er auch nach Syrien. Er transportierte auch Waren von Ägypten mit einem Zwischenhalt in Moskau in die Ukraine. Seine Ehefrau begleitete den Beschwerdeführer ebenfalls auf seinen Reisen bzw. Aufenthalten in der Ukraine, Türkei und Ägypten. Zur Geburt der zwei ältesten gemeinsamen Kinder, XXXX , geboren am XXXX und XXXX , geboren XXXX kehrte die Ehefrau des Beschwerdeführers in die Russische Föderation zurück. Die gemeinsame Tochter XXXX kam in Ägypten am XXXX zur Welt. Alle Kinder sind ebenso wie ihre Eltern russische Staatsangehörige.

Zuletzt war der Beschwerdeführer im behördlichen Verfahren in Besitz eines kirgisischen Reisepasses auf den Namen XXXX , gültig vom 22.01.2009 bis 22.01.2019. Es kann nicht festgestellt werden warum der Beschwerdeführer als russischer Staatsangehöriger im Besitz eines kirgisischen Reisepasses mit anderen Namen war.

1.1.3. Der Beschwerdeführer hat insgesamt zwei ältere Brüder und eine ältere Schwester. Sein Vater und ein Bruder sind bereits verstorben. Seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester leben alle in Dagestan im Herkunftsort des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer hält auch von Österreich aus regelmäßigen Kontakt mit seinen Familienangehörigen. Seine Frau lebt mit den Kindern aktuell in der Ukraine. Der Beschwerdeführer telefoniert ca. jeden zweiten Tag mit seiner Frau.

1.1.4. Der Beschwerdeführer leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohenden Krankheit.

1.1.5. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer war und ist keiner konkreten und individuell gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch russische Sicherheitsbehörden ausgesetzt, weil er im Jahr 2002 gemeinsam mit Hr. XXXX festgenommen wurde. Es besteht auch keine enge Beziehung oder Bekanntschaft zu XXXX . Der Beschwerdeführer ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war bis auf eine 10-tägige Untersuchungshaft im Jahr 2002 dort nicht mehr inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch oder journalistisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland. Der Beschwerdeführer hat die Russische Föderation weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen. Er reiste nach Österreich, weil er sich hier einen höheren Lebensstandard erwartete.

Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen.

1.2.2. Dem Beschwerdeführer droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation auch keine Verfolgung oder Gefahr wegen seiner Volksgruppen- und/oder Religionszugehörigkeit.

1.2.3. Ferner droht dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation wegen seines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich und/oder wegen seines fast einjährigen Aufenthalts außerhalb der Russische Föderation weder Verfolgung noch sonst psychische oder physische Gewalt.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat:

1.3.1. Der Beschwerdeführer kann nach Dagestan oder auch an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zB nach Saratov, Moskau, Omsk, Stawropol oder Wladiwostok zurückkehren.

Der Beschwerdeführer könnte im Falle seiner Rückkehr wieder in einer Wohnung wohnen, wie er es vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation tat.

1.3.2. Er verfügt über ein familiäres Netz in seinem Heimatstaat, das ihn früher bereits unterstützt hat, ist arbeitsfähig und gesund. Er lebte sein gesamtes Leben bis zur Ausreise im Jahr 2006 in der Russischen Föderation und spricht fließend Lakisch und Russisch auf Schulniveau. Er schloss in seinem Herkunftsstaat eine 8-jährige Grundschule ab und fing danach ein College für Mechaniker an, dass er nicht abschloss. Er erlernte den Beruf als Goldschmied und verfügt über eine mehrjährige Arbeitserfahrung in diesem Bereich. Der Beschwerdeführer kann nach der Rückkehr seinen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit sichern und wird in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es wird ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen. Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. Überdies kann er auf das staatliche Sozialsystem oder auf die Unterstützung seiner Geschwister oder Mutter zurückgreifen.

Der Beschwerdeführer ist mit den russischen und dagestanischen Gepflogenheiten vertraut und wurde mit diesen sozialisiert. Zu seinen sozialen Kontakten in Österreich zählen auch weiterhin russische „Landsleute“.

1.3.3. Im Falle der Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der Beschwerdeführer nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Der Beschwerdeführer leidet an keiner lebensbedrohenden physischen oder psychischen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankung und es besteht bei der Überstellung keine Gefahr, dass er in einen lebensbedrohenden Zustand gerät oder sich sein Zustand lebensgefährlich verschlechtert.

Er gehört auch keiner COVID-19-Risikogruppe an.

1.4. Zur Situation des Beschwerdeführers in Österreich:

1.4.1. Der Beschwerdeführer stellte nach seiner illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 06.09.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt wies den Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 25.07.2017 (zugestellt am 01.08.2017) sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab. Unter einem erteilte es keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation zulässig ist. Dagegen erhob er rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde. Seit Zulassung dieses Verfahrens verfügt er über ein vorläufiges Aufenthaltsrecht im Rahmen des Asylverfahrens. Er verfügte nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens.

1.4.2. Der Beschwerdeführer bezieht seit Beginn seines Aufenthalts im Bundesgebiet Leistungen aus der Grundversorgung und ist aktuell nicht selbsterhaltungsfähig. Er möchte seine Selbsterhaltungsfähigkeit in Zukunft erlangen, war bei einem Unternehmen bereits für 2 Monate „schnuppern“ und verfügt über eine Einstellungszusage als Möbelmonteur bei XXXX ab Dezember 2021 auf Vollzeitbasis. Er lebt zurzeit privat in einer Mietwohnung in Salzburg und verübt dort in der Wohnungsanlage seines Bekannten und Vermieters Hausmeistertätigkeiten. Er ist in der Wohnungsanlage sehr gut integriert und hat Kontakt zu den anderen in – und ausländischen Mitbewohnern. Er ist Mitglied in einem Fitnessclub und hilft seinem Nachbarn, der durch einen gerichtlichen Erwachsenenvertreter vertreten wird im Haushalt und Alltag, indem er für ihn kocht, einkaufen geht oder als Dolmetscher fungiert.

1.4.3. Er hat grundlegende Deutschkenntnisse auf Niveau A2. Fragen zu seinem Tagesablauf sowie zu seinem Aufenthaltsort ( XXXX ) und zu seiner Freizeitbeschäftigung versteht der Beschwerdeführer und kann diese Großteils auf Deutsch beantworten. Der Beschwerdeführer bestand im Juni 2017 das ÖSD Zertifikat A1, besuchte danach einen Deutschkurs für das Niveau A2 und absolvierte am 23.09.2021 die Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A2. Sonstige Aus- oder Fortbildungen besuchte er nicht.

1.4.4. In seiner Freizeit geht er seinem Hobby als Goldschmied nach, sieht fern oder geht spazieren. Sein Privatleben spielt sich aber hauptsächlich in seiner Wohnung ab. Er hat bis auf einen weitschichtigen Verwandten namens XXXX mit dem er regelmäßig telefoniert, keine weiteren familiären oder sonstige verwandtschaftlichen bzw. familienähnlichen sozialen Bindungen im Bundesgebiet. Seine sozialen Kontakte beschränken sich auf Bekannte aus der Nachbarschaft sowie auch in Österreich auf russische Freunde. Seine Freunde und Landsleute wohnen hauptsächlich in Wien und deshalb fährt der Beschwerdeführer ca. alle vier oder fünf Monate von Salzburg nach Wien zu Besuch, vor allem zu islamischen Feiertagen. Freundschaftlichen Kontakt hält der Beschwerdeführer auch zu dem Zeugen und österreichischen Staatsbürger XXXX .

1.4.5. Der Beschwerdeführer ist kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet war nie geduldet. Er war weder Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen noch sonst Opfer von Gewalt.

1.5. Die allgemeine Lage in der Russischen Föderation stellt sich im Übrigen wie folgt dar:

Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS (Country of Origin Information-Content Management System) vom 10.06.2021-Version 3:

1.5.1. Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).

Quellen:

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?        BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf, Zugriff 17.2.2021

?        CIA – Central Intelligence Agency [USA] (5.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/, Zugriff 16.2.2021

?        Cicero (22.2.2021): EU bringt wegen Nawalny neue Russland-Sanktionen auf den Weg, https://www.cicero.de/aussenpolitik/vermoegenssperren-einreiseverbote-eu-alexej-nawalny-russland-sanktionen, Zugriff 24.2.2021

?        EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 16.2.2021

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?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 16.2.2021

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 16.2.2021

?        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

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?        Presse.com (10.12.2020): EU verlängerte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, https://www.diepresse.com/5909916/eu-verlangerte-wirtschaftssanktionen-gegen-russland, Zugriff 24.2.2021

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?        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

?        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 13.1.2020). Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten bessergestellt als Tschetschenien (AA 2.2.2021), bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands (AA 13.2.2019).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien (SWP 4.2015) und wird nicht ganz so ausgeprägt kontrolliert wie in Tschetschenien (AA 2.2.2021). Ebenso existiert – anders als in der Nachbarrepublik – zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen (SWP 4.2015). Auch die Menschenrechtslage in Dagestan ist grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien (AA 2.2.2021), obwohl auch dort mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einhergehen (AA 2.2.2021; vgl. SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew wurde das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien ausgehebelt. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden; im Nordkaukasus hatte er davon jedoch Abstand genommen. Wassiljew ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan – und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht – Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll (NZZ 12.2.2018; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Die Änderung sollte der 'Clan-Aristokratie' in der von korrupten Eliten geprägten Region entgegenwirken und war Teil einer breiteren Anstrengung zur Korruptionsbekämpfung. Problematisch stellt sich jedoch die fehlende Verbindung zwischen der nunmehrigen politischen Elite und der Bevölkerung dar (ÖB Moskau 6.2020). Der Nachfolger Wassilews ist seit Oktober 2020 Sergej Melikow. Dieser war davor Vertreter der Region Stawropol im Föderationsrat (Russland Analysen 5.10.2020).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef Abdussamad Gamidow, zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet, um die wirtschaftlich abgeschlagene und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängende Nordkaukasus-Republik auszubeuten. Kurz zuvor waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018; vgl. Standard.at 5.2.2018).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 23.2.2021

?        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (13.1.2020): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022550.html, Zugriff 17.2.2021

?        Russland Analysen (5.10.2020): Chronik: 28. September – 10. Oktober 2020, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/chronik?c=russland&d1=2020-09-28&d2=2020-10-10&t=&o=50&l=50&x=0#eintraege, Zugriff 10.3.2021

?        Dekoder (24.5.2016): Nicht-System-Opposition, https://www.dekoder.org/de/gnose/nicht-system-opposition, Zugriff 10.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan: Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351?reduced=true, Zugriff 10.3.2020

?        ÖB Moskau – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 17.2.2021

?        Standard.at (5.2.2018): Regierungsspitze in russischer Teilrepublik Dagestan festgenommen, https://www.derstandard.at/story/2000073692298/regierungsspitze-in-russischer-teilrepublik-dagestan-festgenommen, Zugriff 10.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff

1.5.2. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).

In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (7.4.2021a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536#content_0 , Zugriff 7.4.2021

?        BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (8.2.2021): Analyse: Söldner im Dienst autoritärer Staaten: Russland und China im Vergleich, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/327198/soeldner-im-dienst-autoritaerer-staaten, Zugriff 8.4.2021

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 7.4.2021

?        Deutschlandfunk (29.9.2020): An Russland kommt im Nahen Osten niemand mehr vorbei, https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-russischer-militaereinsatz-in-syrien-an.724.de.html?dram:article_id=484951, Zugriff 8.4.2021

?        DW - Deutsche Welle (29.9.2020): Russland im Syrien-Krieg: Gekommen, um zu bleiben, https://www.dw.com/de/russland-im-syrien-krieg-gekommen-um-zu-bleiben/a-55096554, Zugriff 8.4.2021

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (7.4.2021): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html#par_textimage, Zugriff 7.4.2021

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 7.4.2021

?        SN - Salzburger Nachrichten (15.10.2020): Terrorzelle in Russland ausgeschaltet, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/terrorzelle-in-russland-ausgeschaltet-94250941, Zugriff 8.4.2021

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 7.4.2021

Nordkaukasus

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).

[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).

Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 9.4.2021

?        Caucasian Knot (2.7.2020a): In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51356/, Zugriff 8.4.2021

?        Caucasian Knot (2.7.2020b): In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51357/, Zugriff 8.4.2021

?        Caucasian Knot (27.10.2020): In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52582/, Zugriff 8.4.2021

?        Caucasian Knot (24.12.2020): 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53177/, Zugriff 8.4.2021

?        Caucasian Knot (20.2.2021): In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53738/, Zugriff 8.4.2021

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Ter

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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