TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/5 W158 2194044-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.11.2021
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Entscheidungsdatum

05.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W158 2194044-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Yoko KUROKI-HASENÖHRL über die Beschwerde des S XXXX B XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.03.2018, Zl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und S XXXX B XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird S XXXX B XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.

III. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 19.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Tags darauf wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Niederösterreich niederschriftlich erstbefragt. Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, er habe sich der Aufforderung der Taliban, sich ihnen anzuschließen, verweigert und sei deswegen geschlagen und entführt worden.

I.3. Am 15.01.2018 wurde der BF vom zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich einvernommen. Der BF wurde dabei u.a. zu seinem Gesundheitszustand, seiner Identität, seinen Lebensumständen in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die den BF bewogen hätten, seine Heimat zu verlassen, gab er an, er sei gemeinsam mit zwei weiteren Dorfbewohnern von Taliban entführt worden. Dort habe er sich geweigert mit ihnen zu kämpfen und sei deswegen geschlagen worden. Er habe dann flüchten können, da die Taliban in eine Schießerei verwickelt worden seien.

I.4. Mit Bescheid vom 08.03.2018, dem BF am 15.03.2018 durch Hinterlegung zugestellt, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA aus, das Vorbringen des BF sei nicht glaubhaft. Dem BF sei eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz aber auch nach Kabul möglich und zumutbar. Der Antrag des BF sei damit abzuweisen gewesen. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, da die Voraussetzungen nicht vorlägen. Letztlich hätten auch keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr des BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen würde, weswegen auch eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

I.5. Mit Verfahrensanordnung vom 12.03.2018 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.6. Am 11.04.2018 erhob der BF Beschwerde in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Er beantragte, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen und ihm den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und dem BF einen Aufenthaltstitel (aus verschiedenen Gründen) zu erteilen, in eventu den Bescheid zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

Begründend wurde im Wesentlichen die Beweiswürdigung bekämpft. Dem BF sei daher der Status des Asylberechtigten zu gewähren. Der BF sei darüber hinaus entgegen den Annahmen des BFA nicht gesund. Er habe Schmerzen und könne keine körperliche Arbeit verrichten. Unabhängig von der Glaubhaftigkeit der Angaben des BF hätte das BFA daher und unter Beachtung der Länderinformationen zum Schluss kommen müssen, dass dem BF eine Rückkehr weder möglich noch zumutbar sei.

I.7. Am 30.04.2018 langte die gegenständliche Beschwerde samt dem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.

I.8. Am 28.09.2021 nahm der BF Stellung und führte aus, aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan sei eine Rückkehr jedenfalls nicht möglich. Außerdem sei der BF gut integriert.

I.9. Am 29.09.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu u.a. zu seiner Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle und die vom BF vorgelegten Unterlagen;

-        Befragung des BF im Rahmen der Beschwerdeverhandlung am 29.09.2021;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführte Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

-        Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.

II. Feststellungen:

II.1. Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen S XXXX B XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung an. Seine Muttersprache ist Paschtu. Er ist ledig und kinderlos.

Der BF wurde in M XXXX im Distrikt K XXXX S XXXX in der Provinz Parwan geboren. Er ist dort mit seiner Familie aufgewachsen. Der BF hat keine Schule besucht. Er ist in seiner Muttersprache Analphabet. Der BF hat als Hirte gearbeitet. Außerdem hatte die Familie eine Landwirtschaft, auf der auch der BF arbeitete.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig, nachdem ihm im Juni 2016 eine Niere operativ entfernt wurde. Er ist strafrechtlich unbescholten.

II.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF wurde nicht von den Taliban entführt und zur Mitarbeit aufgefordert. Der BF wird in Afghanistan nicht von den Taliban gesucht.

Es drohen dem BF bei einer Rückkehr individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein gezielt gegen seine Person gerichteter Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen einer ihm drohenden Lebensgefahr verlassen.

II.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Im Heimatdorf des BF wohnen vermutlich die Mutter und ein Bruder des BF. Außerdem wohnen dort wohl auch ein Onkel und zwei Tanten. Der Onkel des BF hat eigene Felder und Tiere. Derzeit hat der BF seit fünf Monaten keinen Kontakt mit seinen Familienangehörigen in Afghanistan. Ein Kontakt kann derzeit nicht aufgebaut werden. Der BF kann von seinen Familienangehörigen bei einer Rückkehr nicht unterstützt werden.

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage, den Versorgungsengpässen sowie der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, derzeit nicht befriedigen, ohne in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Es ist dem BF derzeit nicht möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten bei einer Ansiedlung in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

II.4. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

II.4.1. Politische Lage (Stand 16.09.2021)

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (1.3.2021): Afghanistan: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/politisches-portraet/204718, Zugriff 9.9.2021

•        AJ - Al Jazeera (24.8.2021): What the Taliban may be getting wrong about Islamic governance, https://www.aljazeera.com/amp/opinions/2021/8/24/what-the-taliban-may-be-getting-wrong-about-islamic-governance?__twitter_impression=true, Zugriff 9.9.2021

•        AJ - Al Jazeera (23.8.2021): Explainer: The Taliban and Islamic law in Afghanistan, https://www.aljazeera.com/news/2021/8/23/hold-the-taliban-and-sharia-law-in-afghanistan, Zugriff 10.9.2021

•        AZ - Abendzeitung (17.8.2021): Taliban übernehmen wichtigste Behörden in Afghanistan, https://www.abendzeitung-muenchen.de/politik/taliban-uebernehmen-langsam-behoerden-in-afghanistan-art-750083, Zugriff 9.9.2021

•        BBC - British Broadcasting Corporation (8.9.2021a): Afghanistan: A new order begins under the Taliban's governance, https://www.bbc.com/news/world-asia-58495112, Zugriff 9.9.2021

•        BBC - British Broadcasting Corporation (8.9.2021b): Afghanistan: Don't recognise Taliban regime, resistance urges, https://www.bbc.com/news/world-asia-58484155, Zugriff 9.9.2021

•        BZ - Berliner Zeitung (8.9.2021): USA und Deutschland: Keine baldige Anerkennung von Taliban-Regierung, https://www.berliner-zeitung.de/news/usa-und-deutschland-keine-baldige-anerkennung-von-taliban-regierung-li.181782, Zugriff 9.9.2021

•        CH - Chatham House (24.8.2021): Afghanistan: Money can be the milk of Taliban moderation, https://www.chathamhouse.org/publications/the-world-today/2021-08/afghanistan-money-can-be-milk-taliban-moderation, Zugriff 9.9.2021

•        FA - Foreign Affairs (23.8.2021): How Will the Taliban Rule?, https://www.foreignaffairs.com/articles/afghanistan/2021-08-23/how-will-taliban-rule, Zugriff 24.8.2021

•        FP – Foreign Policy (23.8.2021): What a Taliban Government Will Look Like, https://foreignpolicy.com/2021/08/23/taliban-government-afghanistan/, Zugriff 24.8.2021

•        FR - Frankfurter Rundschau (18.8.2021): Machtübernahme in Afghanistan: Wer sind die Anführer der Taliban, https://www.fr.de/politik/taliban-afghanistan-anfuehrer-regierung-krieg-mudschaheddin-islamisten-90923873.html, Zugriff 15.9.2021

•        ICG - International Crisis Group (24.8.2021): Taliban Rule Begins in Afghanistan, https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/taliban-rule-begins-afghanistan, Zugriff 9.9.2021

•        IT - India Today (8.9.2021): Resistance Front likely to declare parallel govt in Afghanistan, calls Taliban rule illegitimate, https://www.indiatoday.in/world/story/resistance-front-taliban-rule-illegitimate-declare-parallelafghanistan-1850525-2021-09-08, Zugriff 10.9.2021

•        JS - Just Security (7.9.2021): Between Legitimacy and Control: The Taliban’s Pursuit of Governmental Status, https://www.justsecurity.org/78051/between-legitimacy-and-control-the-talibans-pursuit-of-governmental-status/, Zugriff 9.9.2021

•        NSIA - National Statistics and Information Authority [Afghanistan] (1.6.2020): Estimated Population of Afghanistan 2020-21, https://www.nsia.gov.af:8080/wp-content/uploads/2020/06/??????-????-????-????-????-???.pdf, Zugriff 28.9.2020

•        NYT - New York Times, The (1.9.2021): Will the World Formally Recognize the Taliban?, https://www.nytimes.com/2021/09/01/world/asia/taliban-un-afghanistan-us.html, Zugriff 9.9.2021

•        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (8.9.2021): Wer ist der mysteriöse neue Emir, der als Ober-Mullah über die Taliban wacht?, https://www.nzz.ch/international/afghanistan-ein-religioeser-fuehrer-nach-dem-vorbild-irans-ld.1643391?kid=nl165_2021-9-7&mktcid=nled&ga=1&mktcval=165_2021-09-08, Zugriff 8.9.2021

•        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (7.9.2021): Die Taliban bilden eine Regierung – und darin sitzen weder andere politische Kräfte noch Frauen, https://www.nzz.ch/international/die-taliban-bilden-eine-regierung-und-darin-sitzen-weder-andere-politische-kraefte-noch-frauen-ld.1644387?kid=nl165_2021-9-7&mktcid=nled&ga=1&mktcval=165_2021-09-08&trco=, Zugriff 8.9.2021

•        ORF - Österreichischer Rundfunk (7.9.2021): Gesuchter Terrorist wird Innenminister, https://orf.at/stories/3227772/, Zugriff 9.9.2021

•        REU - Reuters (8.9.2021): Resistance leaders Massoud, Saleh still in Afghanistan, diplomat says, https://www.reuters.com/world/asia-pacific/resistance-leaders-massoud-saleh-still-afghanistan-diplomat-says-2021-09-08/, Zugriff 13.9.2021

•        RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (6.8.2021): Who's Who In The Taliban: The Men Who Run The Extremist Group And How They Operate, https://gandhara.rferl.org/a/taliban-leadership-structure-afghan/31397337.html, Zugriff 3.9.2021

•        TAG - Tagesschau (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff 3.9.2021

•        TD - The Diplomat (10.9.2021): What the Taliban’s Interim Government Means for Afghanistan’s Neighbors, https://thediplomat.com/2021/09/what-the-talibans-interim-government-means-for-afghanistans-neighbors/, Zugriff 13.9.2021

•        UNGASC - United Nations General Assembly Security Council (2.9.2021): The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060189/sg_report_on_afghanistan_september_2021.pdf, Zugriff 13.9.2021

•        WoM - Worldometers (o.D.): Afghanistan Population, https://www.worldometers.info/world-population/afghanistan-population/, Zugriff 9.9.2021

II.4.2. Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban (Stand 16.09.2021)

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).

Quellen:

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•        AAN - Afghanistan Analysts Network (17.8.2021): Afghanistan Has a New Government: The country wonders what the new normal will look like, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/afghanistan-has-a-new-government-the-country-wonders-what-the-new-normal-will-look-like/, Zugriff 14.9.2021

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (19.7.2021): Afghan-Taliban peace talks fail to reach breakthrough, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/afghan-taliban-peace-talks-fail-to-reach-breakthrough/2308518, Zugriff 3.9.2021

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (1.5.2021): As US troops withdraw, what next for war and peace in Afghanistan?, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/as-us-troops-withdraw-what-next-for-war-and-peace-in-afghanistan/, Zugriff 3.9.2021

•        AI - Amnesty International (7.4.2021): Afghanistan - Report on the human rights situation covering 2020, https://www.ecoi.net/en/document/2048577.html, Zugriff 3.9.2021

•        AJ - Al-Jazeera (5.10.2020): Afghan president Ghani arrives in Qatar as peace talks drag on, https://www.aljazeera.com/news/2020/10/5/afghan-president-ghani-arrives-in-qatar-as-peace-talks-drag-on, Zugriff 3.9.2021

•        AJ - Al Jazeera (7.5.2020): US Afghan envoy to meet Taliban in Qatar in new efforts for peace, liegt im Archiv der Staatendokumentation auf

•        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (17.5.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw20-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2, Zugriff 3.9.2021

•        BBC - British Broadcasting Corporation (27.4.2021): Afghan interpreters rejected for resettlement fear death after UK exit, https://www.bbc.com/news/world-asia-56831875, Zugriff 3.9.2021

•        BBC - British Broadcasting Corporation (23.4.2021): Afghanistan: Have things improved since the Taliban?, https://www.bbc.com/news/56779160, Zugriff 3.9.2021

•        BBC - British Broadcasting Corporation (15.4.2021): Afghanistan: 'We have won the war, America has lost', say Taliban, https://www.bbc.com/news/world-asia-56747158, Zugriff 3.9.2021

•        BBC - British Broadcasting Corporation (22.9.2020): Afghan-Taliban peace talks: What's next?, https://www.bbc.com/news/world-asia-54255862, Zugriff 3.9.2021

•        DP - Die Presse (31.8.2021): US-Truppenabzug aus Afghanistan abgeschlossen, https://www.diepresse.com/6027490/us-truppenabzug-aus-afghanistan-abgeschlossen, Zugriff 8.9.2021

•        DW - Deutsche Welle (18.7.2021): Afghan government, Taliban agree to further peace talks, https://www.dw.com/en/afghan-government-taliban-agree-to-further-peace-talks/a-58310322, Zugriff 3.9.2021

•        DZ - Die Zeit (7.6.2021): Taliban rufen Ortskräfte internationaler Truppen zum Bleiben auf, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-06/afghanistan-taliban-nato-streitkraefte-verbleib-forderung, 3.9.2021

•        EASO - European Asylum Support Office (8.2020a): Afghanistan: State structure and security forces, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/2020_08_EASO_COI_Report_Afghanistan_state_structure_and_security_forces.pdf, Zugriff 22.10.2020

•        HRW - Human Rights Watch (8.6.2021): Afghanistan: Exiting Forces Should Protect Interpreters, https://www.hrw.org/news/2021/06/08/afghanistan-exiting-forces-should-protect-interpreters, Zugriff 3.9.2021

•        HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Afghanistan: Events of 2020, https://www.hrw.org/world-report/2021/country-chapters/afghanistan, Zugriff 16.9.2021

•        MENAFN - Middle East North Africa Financial Network (7.6.2021): Taliban assures safety to Afghan interpreters post-withdrawal, https://menafn.com/1102227215/Taliban-assures-safety-to-Afghan-interpreters-post-withdrawal&source=30, Zugriff 3.9.2021

•        NPR - National Public Radio (6.5.2020): The Risk Of Coronavirus In Afghanistan's Prisons Is Complicating Peace Efforts, https://www.npr.org/sections/coronavirus-live-updates/2020/05/06/851197363/the-risk-of-coronavirus-in-afghanistans-prisons-is-complicating-peace-efforts?t=1589350646996, Zugriff 3.9.2021

•        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (7.9.2021): Die Taliban bilden eine Regierung – und darin sitzen weder andere politische Kräfte noch Frauen, https://www.nzz.ch/international/die-taliban-bilden-eine-regierung-und-darin-sitzen-weder-andere-politische-kraefte-noch-frauen-ld.1644387?kid=nl165_2021-9-7&mktcid=nled&ga=1&mktcval=165_2021-09-08&trco=, Zugriff 8.9.2021

•        NZZ - Neue Züricher Zeitung (20.4.2020): Taliban töten erneut fast 20 Soldaten aus regierungstreuen Kreisen - die neusten Entwicklungen nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Afghanistan, https://www.nzz.ch/international/afghanistan-die-neuesten-entwicklungen-im-friedensprozess-ld.1541939#subtitle-2-was-steht-in-dem-abkommen-second, Zugriff 3.9.2021

•        REU - Reuters (6.10.2020): Exclusive: Taliban, Afghan negotiators set ground rules to safeguard peace talks - sources, https://www.reuters.com/article/afghanistan-taliban-talks-exclusive-int-idUSKBN26R1DJ, Zugriff 3.9.2021

•        RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (19.5.2021): U.S. Lawmakers Express Concerns Over Fate Of Afghan Allies With Taliban Return, https://gandhara.rferl.org/a/u-s-lawmakers-express-concerns-over-fate-of-afghan-allies-with-taliban-return/31262511.html, Zugriff 3.9.2021

•        UNGASC - United Nations General Assembly Security Council (9.12.2020): The Situation in Afghanistan and Its Implications for International Peace and Security, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042191/A_75_634_E.pdf, Zugriff 3.9.2021

•        USDOS - United States Department of State [USA] (29.2.2020): Agreement for Bringing Peace to Afghanistan between the Islamic Emirate of Afghanistan which is not recognized by the United States as a state and is known as the Taliban and the United States of America, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/Agreement-For-Bringing-Peace-to-Afghanistan-02.29.20.pdf, Zugriff 3.9.2021

•        VIDC - Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (26.4.2021): Afghanistans Friedensgespräche. Ein Weg ins Nirgendwo?, https://www.vidc.org/regionen/naher-und-mittlerer-osten/afghanistan-friedensgespraeche-ein-weg-ins-nirgendwo, Zugriff 3.9.2021

•        VOA - Voice of America (7.6.2021): Taliban Pledge No Retaliation Against Afghans Who Worked for Foreign Troops, https://www.voanews.com/south-central-asia/taliban-pledge-no-retaliation-against-afghans-who-worked-foreign-troops, Zugriff 3.9.2021

•        WH - White House, The [USA] (14.4.2021): Remarks by President Biden on the Way Forward in Afghanistan, https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/04/14/remarks-by-president-biden-on-the-way-forward-in-afghanistan/, Zugriff 3.9.2021

II.4.3. Sicherheitslage (Stand 16.09.2021)

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefägnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielte nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 30.6.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindliche Elemente verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch Opfern von aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.5. und dem 31.7.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 2.9.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 2.9.2021; vgl. USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 2.9.2021).

Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.5. und dem 18.8.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 2.9.2021).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.5.2020, USDOD 1.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 2.9.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.1.2021): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Januar 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2043856.html, Zugriff 1.2.2021

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (1.9.2021): The Moment in Between: After the Americans, before the new regime, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/the-moment-in-between-after-the-americans-before-the-new-regime/, Zugriff 10.9.2021

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (15.8.2021): Is This How It Ends? With the Taleban closing in on Kabul, President Ghani faces tough decisions, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/is-this-how-it-ends-with-the-taleban-closing-in-on-kabul-president-ghani-faces-tough-decisions/, Zugriff 10.9.2021

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (16.8.2020): War in Afghanistan in 2020: Just as much violence, but no one wants to talk about it, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/war-in-afghanistan-in-2020-just-as-much-violence-but-no-one-wants-to-talk-about-it/, Zugriff 5.3.2021

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (25.6.2020): New World Drug Report: Opium production in Afghanistan remained the same in 2019, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/economy-development-environment/new-world-drug-report-opium-production-in-afghanistan-remained-the-same-in-2019/, Zugriff 3.12.2020

•        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (6.5.2021b): Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2050902.html, Zugriff 17.5.2021

•        AIHRC - Afghanistan Independent Human Rights Commission (28.1.2021): Summary of report on civilian casualties of armed conflict in 2020, https://www.ecoi.net/en/document/2045010.html, Zugriff 12.2.2021

•        AI - Amnesty International (19.8.2021): Afghanistan: Taliban responsible for brutal massacre of Hazara men – new investigation, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/08/afghanistan-taliban-responsible-for-brutal-massacre-of-hazara-men-new-investigation/, Zugriff 13.9.2021

•        AI - Amnesty International (16.6.2021): Afghanistan: Deliberate killing of civilians must be investigated following deadly attacks, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/06/afghanistan-deliberate-killing-of-civilians-must-be-investigated-following-deadly-attacks/, Zugriff 15.7.2021

•        AJ - Aljazeera (6.9.2021): Taliban claims ‘complete capture’ of Afghanistan’s Panjshir, https://www.aljazeera.com/news/2021/9/6/taliban-afghanistan-panjshir-resistance-nrf-ceasefire, Zugriff 10.9.2021

•        AJ - Aljazeera (2.7.2021): US forces leave Afghanistan’s Bagram airbase after 20 years, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/2/us-bagram-airbase-afghanistan-taliban, Zugriff 15.7.2021

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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