TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/22 W252 2191245-1

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Veröffentlicht am 22.11.2021
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Entscheidungsdatum

22.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W252 2191245-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!


Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Elisabeth SCHMUT LL.M. über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, gegen Spruchpunkt I. des Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 12.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.07.2021, zu Recht erkannt: XXXX A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin (in Folge: „BF“), eine weibliche Staatsangehörige Somalias, stellte am 14.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am darauf folgenden Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Erstbefragung der BF statt. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen befragt zusammengefasst an, dass es in Somalia nicht sicher sei und sie psychische Probleme habe.

3. Am 14.06.2017 und 09.01.2018 fanden niederschriftliche Einvernahmen der BF vor dem Bundesamt statt. Dabei gab sie an, dass sie in XXXX geboren und aufgewachsen sei. Sie habe in einem Flüchtlingslager gearbeitet und deshalb Drohungen erhalten. Im April 2015 habe die Al-Shabaab eine Handgranate in ihr Haus werfen lassen, wodurch Kinder von ihr umgekommen seien und sie im Spital behandelt worden sei. Da sie weiterhin Drohungen erhalten habe, sei sie geflohen.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 12.03.2018 wies das Bundesamt den Antrag der BF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) ab. Gemäß § 8 Abs 1 AsylG wurde ihr der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die BF ihre Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Das Vorbringen der BF sei weder schlüssig noch plausibel.

5. Die BF erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass die belangte Behörde ihrer amtswegigen Ermittlungspflicht nicht nachgekommen sei. Die BF habe ihre Fluchtgründe glaubhaft und vollständig dargelegt. Der Bescheid bestehe jedoch nur aus selektiven Zitaten und Textbausteinen und habe keinen Begründungswert. Die BF werde in ihrem Herkunftsstaat asylrelevant verfolgt, weshalb ihr der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen sei.

6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 21.07.2021 eine mündliche Verhandlung durch. Den Verfahrensparteien wurde im Zuge eines Parteiengehörs das einschlägige Länderberichtsmaterial vorgehalten und die Möglichkeit gegeben, hierzu Stellung zu nehmen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der BF:

Die BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX . Sie ist somalische Staatsangehörige, bekennt sich zum muslimischen Glauben und spricht Somali als Muttersprache. Die BF wurde in XXXX geboren und wuchs dort auf. Die BF ist Angehörige des Clans XXXX Subclan XXXX , Subsubclan XXXX Subsubsubclan XXXX . Sie ist traditionell verheiratet und hat mehrere Kinder, eines davon in Österreich. Die BF hat sporadischen Kontakt zu ihrer Familie nach Somalia (AS 1; AS 119, 121, 347; OZ 12, S 5, 8, 9f).

Die BF ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellte am 14.08.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich (AS 3).

Die BF ist psychisch krank. Sie leidet an einer schizoaffektiven Störung sowie an einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion. Die BF ist seit dem Jahr 2002 psychisch krank und in psychiatrischer Behandlung und wurde bereits mehrfach sowohl in Somalia als auch in Österreich stationär in einem Krankenhaus behandelt (zuletzt 24.-29.09.2020 im Krankenhaus Hietzing). Sie hört Stimmen und benötigt eine regelmäßige medikamentöse Behandlung. Hinzu kommt, dass die BF Diabetes mellitus II hat. Eine Heilung ist derzeit nicht absehbar. Die BF erhält Unterstützung durch ihren Lebensgefährten in Wien (AS 255ff; OZ 8, S 15ff; OZ 12, S 4ff, Beilagenkonvolut).

1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

Der BF droht im Falle einer Rückkehr nach Somalia aufgrund ihrer wahrnehmbaren psychischen Beeinträchtigung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im gesamten Staatsgebiet individuell und konkret Lebensgefahr sowie ein Eingriff in ihre körperliche Integrität.

Weitere Feststellungen bezüglich einer von der Al-Shabaab ausgehenden Bedrohung waren nicht notwendig, da sie aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigung der sozialen Gruppe der weiblichen psychisch Kranken angehört und schon deswegen in Somalia von Verfolgung bedroht ist.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Aus den ins Verfahren eingeführten Länderinformationen:

?        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Somalia, Version 3 vom 21.10.2021 (in der Folge: LIB)

?        ACCORD Anfragebeantwortung zu Somalia: Behandlung, Umgang und Stigmatisierung von psychisch kranken oder alkoholabhängigen Menschen vom 19.04.2021

ergibt sich Folgendes:

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen - allgemein

Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Scharia wird ausschließlich von Männern angewendet, die oftmals zugunsten von Männern entscheiden (USDOS 30.3.2021, S. 31f). Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts, die Frauen tendenziell benachteiligen. Entsprechend gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z. B. halbe Erbquote). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, diese gelten auch in Somaliland (AA 18.4.2021, S. 16f).

Die von Männern dominierte Gesellschaft und ihre Institutionen gestatten es somalischen Männern Frauen auszubeuten. Verbrechen an Frauen haben nur geringe oder gar keine Konsequenzen (SIDRA 6.2019b, S. 6). Gemäß einer aktuellen Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft; wirtschaftliche Möglichkeiten; Politik; und Bildung (SLS 6.4.2021).

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Diskriminierung: Die Diskriminierung von Frauen ist gesetzlich verboten (USDOS 30.3.2021, S. 32). Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär (AA 18.4.2021, S. 15). Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Sie genießen nicht die gleichen Rechte wie Männer und werden systematisch benachteiligt. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung (USDOS 30.3.2021, S. 32; vgl. SIDRA 6.2019b, S. 2).

Andererseits ist es der Regierung gelungen, Frauenrechte etwas zu fördern: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst wächst (ICG 27.6.2019, S. 3). Frauen sind das ökonomische Rückgrat der somalischen Gesellschaft und mittlerweile oft die eigentlichen Brotverdiener der Familie (SIDRA 6.2019b, S. 2). Daher ist es üblich, in einer Stadt wie Mogadischu Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen (TE 11.3.2019; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 11, FIS 5.10.2018, S. 24).

Politik: Viele traditionelle und religiöse Eliten stellen sich vehement gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen im politischen Leben (AA 18.4.2021, S. 16). Auch die vorgesehene 30 %-Frauenquote für Abgeordnete im somalischen Parlament wurde als gefährlich bezeichnet; zuletzt betrug die Frauenquote im Parlament immerhin 24 %, 2012 waren es nur 14 % gewesen (USDOS 30.3.2021, S. 26; vgl. FH 3.3.2021a, B4). Außerdem sind 4 von 26 Bundesministern weiblich. Belet Weyne hat seit Mai 2019 eine Bürgermeisterin (USDOS 30.3.2021, S. 26). Im puntländischen Parlament findet sich nur eine Frau; im Regionalparlament von Galmudug finden sich bei 89 Abgeordneten 6 Frauen; im SWS sind es 15 von 95 (CMI 7.2020, S. 3).

Auch wenn Gewalt gegen Frauen gesetzlich verboten ist (USDOS 30.3.2021, S.31), bleiben häusliche (USDOS 30.3.2021, S. 31; vgl. AA 18.4.2021, S. 16) und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem. Bezüglich Gewalt in der Ehe – darunter auch Vergewaltigung – gibt es keine speziellen Gesetze (USDOS 30.3.2021, S. 29/31).

Sexuelle und geschlechtspezifische Gewalt bleiben ein großes Problem – speziell für IDPs (FH 3.3.2021a, G3; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 29ff, ÖB 3.2020, S. 11). Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt werden häufig als Kavaliersdelikte abgetan, eine Verurteilung der Täter mithilfe von Bestechung oder Kompensationszahlungen verhindert (AA 18.4.2021, S. 15). 76 % aller Vergehen von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen IDPs. Dabei umfasst die Kategorie geschlechtsspezifische Gewalt wiederum in erster Linie physische Übergriffe (rd. 69 % der Vergehen) und erst an zweiter Stelle sexuelle Gewalt (rd. 11 %) (SIDRA 6.2019b, S. 5). Nach anderen Angaben gab es im ersten Halbjahr 2020 insgesamt 4.324 registrierte Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt; dabei handelte es sich bei knapp 50 % um Körperverletzungen, bei 20 % um Vergewaltigungen, bei 17 % um sexuelle Übergriffe und bei 5 % um Zwangsheirat (AA 18.4.2021, S. 15). Im Jahr 2020 gab es eine 80-prozentige Zunahme an Fällen sexueller Gewalt. Die Zahl der Fälle, die al Shabaab zugeschrieben wird, hat sich verdoppelt und die Verstöße von Clanmilizen fast verdreifacht (BAMF 9.8.2021).

Als Haupttäter geschlechtsspezifischer Gewalt finden sich die Ehemänner (73 %) (SIDRA 6.2019b, S. 5). Auch weibliche Angehörige von Minderheiten sind häufig unter den Opfern von Vergewaltigungen. NGOs haben eine diesbezügliche Systematik dokumentiert. Die Vergewaltiger sind u.a. Regierungssoldaten, Milizionäre und uniformierte Männer (USDOS 30.3.2021, S. 30). Eine Aufschlüsselung ergab für das Jahr 2018 folgendes Täterbild: 31 % unbekannte Bewaffnete, 18 % Soldaten, 13 % al Shabaab, 12 % Clanmilizen, 10 % Sicherheitskräfte Jubaland, 6 % Polizisten, 3 % Sicherheitskräfte Galmudug, 3 % Sicherheitskräfte SWS, 2 % Liyu-Police, 1 % Sicherheitskräfte Puntland. Bei den Opfern handelte es sich (gerundet) um 92 % Mädchen, 7 % Frauen und 1 % Buben (UNSC 1.11.2019, S. 42). Frauen und Mädchen werden Opfer, wenn sie Wasser holen, Felder bewirtschaften oder auf den Markt gehen. Klassische Muster sind: a) die Entführung von Mädchen und Frauen zum Zwecke der Vergewaltigung oder der Zwangsehe. Hier sind die Täter meist nicht-staatliche Akteure; und b) Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen durch staatliche Akteure, assoziierte Milizen und unbekannte Bewaffnete. Nach anderen Angaben wiederum ereignet sich der Großteil der Vergewaltigungen - über 50 % - im eigenen Haushalt oder aber im direkten Umfeld; das heißt, Täter sind Familienmitglieder oder Nachbarn der Opfer. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass die Zahl an Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt aufgrund der COVID-19-Maßnahmen zugenommen hat. Alleine im September 2020 wurden von der UN 323 Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt dokumentiert - darunter auch Vergewaltigungen und versuchte Vergewaltigungen. Es wird angenommen, dass die Dunkelziffer viel höher liegt (USDOS 30.3.2021, S. 30f).

Sexuelle Gewalt - Gesetzeslage und staatlicher Schutz: Vergewaltigung ist gesetzlich verboten (AA 18.4.2021, S. 16). Die Strafandrohung beträgt 5 - 15 Jahre, vor Militärgerichten auch den Tod (USDOS 30.3.2021, S. 29). Das Problem im Kampf gegen sexuelle Gewalt liegt insgesamt nicht am Mangel an Gesetzen – sei es im formellen Recht oder in islamischen Vorschriften. Woran es mangelt, ist der politische Wille der Bundesregierung und der Bundesstaaten, bestehendes Recht umzusetzen und Täter zu bestrafen (SIDRA 6.2019b, S. 5ff).

Da bestehende Gesetze nicht effektiv durchgesetzt werden (USDOS 30.3.2021, S. 29), gibt es bei Vergewaltigungen de facto auch keinen Rechtsschutz (FIS 5.10.2018, S. 32) bzw. kann von staatlichem Schutz nicht ausgegangen werden (ÖB 3.2020, S. 11). Generell herrscht Straflosigkeit (USDOS 30.3.2021, S. 30; vgl. ÖB 3.2020, S. 11). Strafverfolgung wegen Vergewaltigung ist rar (AA 18.4.2021, S. 16). In Einzelfällen wurden verurteilte Täter hingerichtet (AA 18.4.2021, S. 16). Insgesamt hat sich aber aufgrund von Chaos und Gesetzlosigkeit seit 1991 eine Kultur der Gewalt etabliert, in welcher Männer Frauen ungestraft vergewaltigen können (TE 11.3.2019). Frauen und Mädchen bleiben daher den Gefahren bezüglich Vergewaltigung, Verschleppung und systematischer sexueller Versklavung ausgesetzt (AA 18.4.2021, S. 15).

Die Tabuisierung von Vergewaltigungen führt u. a. dazu, dass kaum Daten zur tatsächlichen Prävalenz vorhanden sind (SIDRA 6.2019b, S. 2). Außerdem leiden Vergewaltigungsopfer an Stigmatisierung (USDOS 30.3.2021, S. 31). Meldet eine Person sexuelle Gewalt, dann ist es wahrscheinlicher, dass diese Person wegen Verleumdung verhaftet wird, als dass der eigentliche Täter belangt wird (NLMBZ 3.2020, S. 43). Opfer, die sich an Behörden wenden, werden oft angefeindet; in manchen Fällen sogar getötet (TE 11.3.2019). Aus Furcht vor Repressalien und Stigmatisierung wird folglich in vielen Fällen keine Anzeige erstattet (ÖB 3.2020, S. 11). Zudem untersucht die Polizei Fälle sexueller Gewalt nur zögerlich; manchmal verlangt sie von den Opfern, die Untersuchungen zu ihrem eigenen Fall selbst zu tätigen (USDOS 30.3.2021, S. 31). Allerdings gibt es nunmehr spezifische Ausbildungsmaßnahmen für Richter und Staatsanwälte bezüglich sexueller Gewalt (UNSC 13.2.2020, Abs. 57).

Insgesamt werden Vergewaltigungen aber nur selten der formellen Justiz zugeführt (USDOS 30.3.2021, S. 31). Zum größten Teil (95 %) werden Fälle sexueller Gewalt – wenn überhaupt – im traditionellen Rechtsrahmen erledigt. Dort getroffene Einigungen beinhalten Kompensationszahlungen an die Familie des Opfers (SIDRA 6.2019b, S. 5ff) oder aber das Opfer wird gezwungen, den Täter zu ehelichen (TE 11.3.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 31). Das patriarchalische Clansystem und Xeer an sich bieten Frauen also keinen Schutz, denn wird ein Vergehen gegen eine Frau gemäß Xeer gesühnt, wird der eigentliche Täter nicht bestraft (SEM 31.5.2017, S. 49; vgl. UNSC 1.11.2019, S. 42; ÖB 3.2020, S. 11, SIDRA 6.2019b, S. 5ff).

Sexuelle Gewalt - Maßnahmen: Es gibt kleinere Fortschritte dabei, Opfern den Zugang zum formellen Justizsystem zu erleichtern. Einerseits wurden Staatsanwältinnen eingesetzt; andererseits werden Kräfte im medizinischen und sozialen Bereich ausgebildet, welche hinkünftig Opfern zeitnah vertrauliche Dienste anbieten können werden (UNSC 13.5.2020, Abs. 56f). Zusätzlich kommt es zu Ausbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, um diese hinsichtlich konfliktbezogener sexueller Gewalt und den damit verbundenen Menschenrechten zu sensibilisieren (AMISOM 3.3.2019; UNSOM 3.2019, S. 2, UNSC 13.11.2020, Abs. 49).

Bei der Armee wurden einige Soldaten wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung verhaftet (USDOS 30.3.2021, S. 30). In Puntland wurden zwei Zivilisten (Vergewaltigung und Mord) und in Baidoa ein Polizist (Vergewaltigung einer Schwangeren) – nach Verurteilung – exekutiert (UNSC 13.5.2020, Abs. 48/58). Im Mai 2021 wurden drei Verdächtige festgenommen, die als Sicherheitskräfte Frauen vergewaltigt haben sollen. Ihre DNA-Proben wurden zur Untersuchung nach Garoowe geschickt – dort befindet sich das einzige dafür ausgerüstete Labor Somalias (UNSC 10.8.2021, Abs. 48).

Sexuelle Gewalt - Unterstützung: Insgesamt gibt es für Opfer sexueller Gewalt beachtliche Hürden, um notwendige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können (USDOS 30.3.2021, S. 31). Sogenannte One-Stop-Centers, die von lokalen und internationalen Organisationen sowie vom Gesundheitsministerium betrieben werden, bieten Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt (auch FGM) rechtliche Hilfe und andere Dienste (UNICEF 29.6.2021). Es gibt von UN-Agenturen oder nationalen und internationalen NGOs organisierte Zufluchtsstätten. Angeboten werden medizinische und psycho-soziale Unterstützung, Rechtsberatung und materielle Unterstützung sowie Schutzunterkünfte (UNFPA 8.2018, S. 2).

Ein Beispiel für eine NGO, die Zuflucht, Unterkunft und andere Unterstützung für Opfer anbietet, ist das Elman Peace and Human Rights Center über die Aktion „Sister Somalia“. Die NGO Safe Somali Women and Children betreibt ein Krisenzentrum für Opfer sexueller Gewalt (NLMBZ 3.2019, S. 45). In Lower Shabelle stellen etwa ein Dutzend NGOs und andere Akteure für Vergewaltigungsopfer medizinische Behandlung, Beratung und andere Dienste zur Verfügung (USDOS 30.3.2021, S. 30).

Frauen - al Shabaab: In den von ihr kontrollierten Gebieten gelingt es al Shabaab, Frauen und Mädchen ein gewisses Maß an physischem Schutz zukommen zu lassen. Die Gruppe interveniert z. B. in Fällen häuslicher Gewalt (ICG 27.6.2019, S. 2/6). Es sind Fälle bekannt, wo sich vergewaltigte Frauen an Gerichte der al Shabaab gewendet haben (FIS 5.10.2018, S. 33). Al Shabaab hat Vergewaltiger – mitunter zum Tode – verurteilt (USDOS 30.3.2021, S. 31). Dies ist auch ein Grund dafür, warum es in den Gebieten der al Shabaab nur vergleichsweise selten zu Vergewaltigungen kommt (ICG 27.6.2019, S. 6; vgl. DI 6.2019, S. 9).

Andererseits legen Berichte nahe, dass sexualisierte Gewalt von al Shabaab gezielt als Taktik im bewaffneten Konflikt eingesetzt wird (AA 18.4.2021, S. 16). Es kommt zu Zwangsehen (USDOS 30.3.2021, S. 31). Dabei zwingt al Shabaab Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren zur Ehe. Diese sowie deren Familien haben generell kaum eine Wahl. Solche Zwangsehen gibt es nur in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten (USDOS 30.3.2021, S. 31; vgl. BS 2020, S. 19). Nach anderen Angaben werden die meisten Ehen mit Mitgliedern der al Shabaab freiwillig eingegangen, auch wenn der Einfluss von Eltern und Clan sowie das geringe Alter bei der Eheschließung nicht gering geschätzt werden dürfen. Eine solche Ehe bietet der Ehefrau und ihrer Familie ein gewisses Maß an finanzieller Stabilität, selbst Witwen beziehen eine Rente (ICG 27.6.2019, S. 8). Demgegenüber stehen Berichte, wonach viele Eltern ihre Töchter in Städte gebracht haben, um sie vor dem Zugriff durch al Shabaab in Sicherheit zu bringen (DI 6.2019, S. 9).

Al Shabaab schränkt die Freiheit und die Möglichkeiten von Frauen auf dem Gebiet unter ihrer Kontrolle signifikant ein (TE 11.3.2019). Die Anwendung einer extremen Form der Scharia resultiert in einer entsprechend weitergehenden Diskriminierung von Frauen (AA 18.4.2021, S. 16). Diese werden etwa insofern stärker ausgeschlossen, als ihre Beteiligung an ökonomischen Aktivitäten als unislamisch erachtet wird (USDOS 30.3.2021, S. 33). In einigen Gegenden wurden Frauen geschlagen, weil sie ohne männlichen Verwandten das Haus verlassen haben (BS 2020, S. 19). Nach anderen Angaben hat al Shabaab einen pragmatischen Zugang. Da immer mehr Familien vom Einkommen der Frauen abhängig sind, tendiert die Gruppe dazu, sie ihren wirtschaftlichen Aktivitäten nachgehen zu lassen. Und dies, obwohl Frauen nominell das Verlassen des eigenen Hauses nur unter Begleitung eines männlichen Verwandten (mahram) erlaubt ist (ICG 27.6.2019, S. 11).

Eheschließung: Bei Eheschließungen gilt das Scharia-Recht. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung (ÖB 3.2020, S. 9). Es gibt keine Zivilehe (LI 14.6.2018, S. 7). Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38). Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (LI 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. „nobler“ Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).

Ehe-Alter / Kinderehe: Generell sind die Ausdrücke "Erwachsener" und "Kind" in Somalia umstritten und de facto gesetzlich nicht explizit definiert (SPA 1.2021). Zwar ist gemäß somalischem Zivilrecht für eine Eheschließung ein Mindestalter von 15 Jahren vorgesehen (ICG 27.6.2019, S. 8), doch Scharia und Tradition nehmen eine Heiratsfähigkeit bei Erreichen der Pubertät an (LI 14.6.2018, S. 7). Laut Gesetzen sollen beide Ehepartner das "age of maturity" erreicht haben; als Kinder werden Personen unter 18 Jahren definiert. Außerdem sieht die Verfassung vor, dass beide Ehepartner einer Eheschließung freiwillig zustimmen müssen (USDOS 30.3.2021, S. 34). Trotzdem ist die Kinderehe verbreitet (USDOS 30.3.2021, S. 34; vgl. FH 3.3.2021a, G3) – gerade in ärmeren, ländlichen Gebieten (ICG 27.6.2019, S. 8; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27, LI 14.6.2018, S. 7). Oft werden Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren verheiratet, wobei die Eheschließung von den Eltern schon sehr früh vereinbart wird. Die eigentliche Hochzeit erfolgt, wenn das Mädchen die Pubertät erreicht (FIS 5.10.2018, S. 27). Bei einer Umfrage im Jahr 2017 gaben ca. 60 % der Befragten an, dass eine Eheschließung für Mädchen unter 18 Jahren kein Problem ist (AV 2017, S. 33).

Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (LI 14.6.2018, S. 9f). Erwachsene Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 18.4.2021, S. 16). Nach Angaben einer Quelle sind Zwangsehen in Somalia normal (SPA 1.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr (USDOS 30.3.2021, S. 34). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (LI 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. LI 14.6.2018, S. 10).

Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (LI 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. LI 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (LI 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der „runaway marriages“, bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden (LI 14.6.2018, S. 11).

Durch eine Scheidung wird eine Frau nicht stigmatisiert, und Scheidungen sind in Somalia nicht unüblich (LI 14.6.2018, S. 18f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f). Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist (LI 14.6.2018, S. 18). Die Zahlen geschiedener Frauen und von Wiederverheirateten sind gestiegen. Bei einer Scheidung bleiben die Kinder üblicherweise bei der Frau, diese kann wieder heiraten oder die Kinder alleine großziehen. Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene aber meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten (FIS 5.10.2018, S. 27f). Bei der Auswahl eines Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung (LI 14.6.2018, S. 19). Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (ICG 27.6.2019, S. 9).

In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes (LI 14.6.2018, S. 10). Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (FIS 5.10.2018, S. 27).

Medizinische Versorgung

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Das somalische Gesundheitssystem ist das zweitfragilste weltweit (WB 6.2021, S. 32). Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft (AA 18.4.2021, S. 23). Die Infrastruktur bei der medizinischen Versorgung ist minimal und beschränkt sich meist auf Städte und sichere Gebiete (HIPS 5.2020, S. 38). Die Ausrüstung reicht nicht, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend abdecken zu können (HIPS 5.2020, S. 38; vgl. AA 3.12.2020). Es mangelt an Geld, Personal, Referenzsystemen, Diagnoseeinrichtungen, an Ausbildungseinrichtungen, Regulierungen und Managementfähigkeiten (HIPS 5.2020, S. 38). 2021 betrug das Budget des Gesundheitsministeriums 33,6 Millionen US-Dollar (AI 18.8.2021, S. 19). Allerdings zeigt sich in Aufwärtstrend: 2020 wurden 1,3 % des Budgets für den Gesundheitsbereich ausgegeben, 2021 wurden dafür 5 % veranschlagt (WB 6.2021, S. 19).

Dennoch zählt die Gesundheitslage zu den schlechtesten der Welt (ÖB 3.2020, S. 15). Die durchschnittliche Lebenserwartung ist zwar von 45,3 Jahren im Jahr 1990 auf heute 57,1 Jahre beträchtlich gestiegen, bleibt aber immer noch niedrig (WB 6.2021, S. 29). Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder zu hinreichenden sanitären Einrichtungen (AA 18.4.2021, S. 23); daran sterben jährlich 87 von 100.000 Einwohnern (Äthiopien: 44) (HIPS 5.2020, S. 24). Die Quoten von Mütter- und Säuglingssterblichkeit sind unter den höchsten Werten weltweit (AA 18.4.2021, S. 23). Eine von zwölf Frauen stirbt während der Schwangerschaft, eines von sieben Kindern vor dem fünften Geburtstag (Äthiopien: 17). Bei der hohen Kindersterblichkeit schwingt Unterernährung bei einem Drittel der Todesfälle als Faktor mit (ÖB 3.2020, S. 15; vgl. HIPS 5.2020, S. 21ff). Selbst in Somaliland und Puntland werden nur 44 % bzw. 38 % der Mütter von qualifizierten Geburtshelfern betreut (ÖB 3.2020, S. 15). Al Shabaab hat die medizinische Versorgung eingeschränkt – etwa durch die Behinderung zivilen Verkehrs, die Vernichtung von Medikamenten und die Schließung von Kliniken (USDOS 11.3.2020, S.14). Insgesamt haben nur ca. 15 % der Menschen in ländlichen Gebieten Zugang zu medizinischer Versorgung (AI 18.8.2021, S. 5). Die Rate an grundlegender Immunisierung für Kinder liegt bei Nomaden bei 1 %, in anderen ländlichen Gebieten bei 14 %, in Städten bei 19 % (WB 6.2021, S. 31). Zudem gibt es für medizinische Leistungen und pharmazeutische Produkte keinerlei Qualitäts- oder Sicherheitsstandards (WB 6.2021, S. 27).

Es mangelt an Personal für die medizinische Versorgung. Besonders akut ist der Mangel an Psychiatern, an Technikern für medizinische Ausrüstung und an Anästhesisten. Am größten aber ist der Mangel an einfachen Ärzten (HIPS 5.2020, S. 42). Insgesamt kommen auf 100.000 Einwohner nur zwei im medizinischen Bereich ausgebildete Personen (Standard weltweit: 25 pro 100.000) (UNOCHA 31.3.2020, S. 2). Nach anderen Angaben kommen auf 10.000 Einwohner 4,28 medizinisch ausgebildete Personen (Subsaharaafrika: 13,3; WHO-Ziel: 25) (WB 6.2021, S. 34). Nach wieder anderen Angaben kommen auf 100.000 Einwohner fünf Ärzte, vier Krankenpfleger und eine Hebamme. Dabei herrscht jedenfalls eine Ungleichverteilung: In Puntland gibt es 356 Ärzte, in Jubaland nur 54 und in Galmudug und im SWS je nur 25 (HIPS 5.2020, S. 27/44ff). Die Weltbank hat das mit 100 Millionen US-Dollar dotierte "Improving Healthcare Services in Somalia Project / Damal Caafimaad" genehmigt. Damit soll die Gesundheitsversorgung für ca. 10 % der Gesamtbevölkerung Somalias, namentlich in Gebieten von Nugaal (Puntland), Bakool und Bay (SWS), Hiiraan und Middle Shabelle verbessert werden (WB 22.7.2021).

Nach anderen Angaben gibt es in ganz Somalia 11 öffentliche und 50 andere Spitäler. In Mogadischu gibt es 4 öffentliche und 46 andere Gesundheitszentren (FIS 7.8.2020, S. 31). Jedenfalls müssen Patienten oft lange Wegstrecken zurücklegen, um an medizinische Versorgung zu gelangen (HIPS 5.2020, S. 39). In Mogadischu gibt es mindestens zwei Spitäler, die für jedermann zugänglich sind. In manchen Spitälern kann bei Notlage über die Ambulanzgebühr verhandelt werden (FIS 5.10.2018, S. 36). Im Gegensatz zu Puntland werden in Süd-/Zentralsomalia Gesundheitseinrichtungen vorwiegend von internationalen NGOs unter Finanzierung von Gebern betrieben (HIPS 5.2020, S. 39). Das Keysaney Hospital wird von der Somali Red Crescent Society (SRCS) betrieben. Zusätzlich führt die SRCS Rehabilitationszentren in Mogadischu und Galkacyo (SRCS 2020, S. 8). Die Spitäler Medina und Keysaney (Mogadischu) sowie in Kismayo und Baidoa werden vom Roten Kreuz unterstützt (ICRC 7.2020). Das Rote Kreuz unterstützt die Somali Red Crescent Society beim Betrieb von 29 Erstversorgungseinrichtungen (20 feste und 9 mobile Kliniken). Auch vier Spitäler mit insgesamt 410 Betten in Mogadischu (Keysaney, Medina), Baidoa und Kismayo werden unterstützt (ICRC 13.9.2019). Insgesamt gibt es im Land nur 5,34 stationäre Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohnern (WHO-Ziel: 25 Betten) (WB 6.2021, S. 34).

Allerdings sind die öffentlichen Krankenhäuser mangelhaft ausgestattet (AA 18.4.2021, S. 23; vgl. FIS 7.8.2020, S. 31f), was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht (AA 18.4.2021, S. 23). Dabei ist der Standard von Spitälern außerhalb Mogadischus erheblich schlechter (FIS 5.10.2018, S. 36). Zudem bietet die Mehrheit der Krankenhäuser nicht alle Möglichkeiten einer tertiären Versorgung (HIPS 5.2020, S. 38). Speziellere medizinische Versorgung – etwa Chirurgie – ist nur eingeschränkt verfügbar – in öffentlichen Einrichtungen fast gar nicht, unter Umständen aber in privaten. So werden selbst am Banadir Hospital – einem der größten Spitäler des Landes, das über vergleichsweise gutes Personal verfügt und auch Universitätsklinik ist – nur einfache Operationen durchgeführt (FIS 5.10.2018, S. 35). Relativ häufig müssen daher Patienten von öffentlichen Einrichtungen an private verwiesen werden (FIS 7.8.2020, S. 31). Immerhin stellt der private Sektor 60 % aller Gesundheitsleistungen und 70 % aller Medikamente. Und auch in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen wird der Großteil der Dienste über NGOs erbracht (WB 6.2021, S. 27f).

Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt und ist für Patienten kostenfrei. Allerdings muss manchmal für Medikamente bezahlt werden (FIS 5.10.2018, S. 35f; vgl. ACCORD 31.5.2021, S. 20). Oft handelt es sich bei dieser Primärversorgung um sogenannte "Mother Health Clinics", von welchen es in Somalia relativ viele gibt. Diese werden von der Bevölkerung als Gesamtgesundheitszentren genutzt, weil dort die Diagnosen eben kostenlos sind (ACCORD 31.5.2021, S. 20). Private Einrichtungen, die spezielle Leistungen anbieten, sind sehr teuer. Schon ein kleiner operativer Eingriff kostet 100 US-Dollar. Am Banadir-Hospital in Mogadischu wird eine Ambulanzgebühr von 5-10 US-Dollar eingehoben, die Behandlungsgebühr an anderen Spitälern beläuft sich auf 5-12 US-Dollar. Medikamente, die Kindern oder ans Bett gebundenen Patienten verabreicht werden, sind kostenlos. Üblicherweise sind die Kosten für eine Behandlung aber vom Patienten zu tragen (FIS 5.10.2018, S. 35f). Am türkischen Spital in Mogadischu, das als öffentliche Einrichtung wahrgenommen wird, werden nur geringe Kosten verrechnet, arme Menschen werden gratis behandelt (MoH/DIS 27.8.2020, S. 73). Generell gilt, wenn z.B. ein IDP die Kosten nicht aufbringen kann, wird er in öffentlichen Krankenhäusern auch umsonst behandelt. Zusätzlich kann man sich auch an Gesundheitseinrichtungen wenden, die von UN-Agenturen betrieben werden. Bei privaten Einrichtungen sind alle Kosten zu bezahlen (FIS 7.8.2020, S. 31/37). Es gibt keine Krankenversicherung (MoH/DIS 27.8.2020, S. 73); nach anderen Angaben ist diese so gut wie nicht existent, im Jahr 2020 waren nur 2 % der Haushalte hinsichtlich Ausgaben für Gesundheit versichert (WB 6.2021, S. 34).

Aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten musste die SRCS ihre mobilen und stationären Kliniken von 129 auf 72 reduzieren (57 stationäre und 15 mobile). Als Ziel wird die Abdeckung des Bedarfs von rund 1,6 Millionen Menschen angegeben. Im Jahr 2019 konnten mehr als 850.000 Patienten behandelt werden. Davon waren 45 % Kinder und 40 % Frauen. Die häufigsten Behandlungen erfolgten in Zusammenhang mit akuten Atemwegserkrankungen (26 %), Durchfallerkrankungen (9,2 %), Anämie (13 %), Hautkrankheiten (5,2 %), Harnwegsinfektionen (11,6 %) und Augeninfektionen (4,4 %) (SRCS 2020, S. 9f). Die am öftesten diagnostizierten chronischen Krankheiten sind Diabetes und Bluthochdruck (WB 6.2021, S. 30).

Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen unterbrochen werden (AA 18.4.2021, S. 23).

Psychiatrie: Es gibt in ganz Süd-/Zentralsomalia und Puntland nur einen Psychiater, elf Sozialarbeiter für psychische Gesundheit sowie 19 Pflegekräfte.

An psychiatrischen Spitälern gibt es nur zwei, und zwar in Mogadischu; daneben gibt es drei entsprechende Abteilungen an anderen Spitälern und vier weitere Einrichtungen. Dabei gibt es eine hohe Rate an Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung (WHO Rizwan 8.10.2020). Psychische Probleme werden durch den bestehenden Konflikt und den durch Instabilität, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit verursachten Stress gefördert. Schätzungen zufolge sind 30 % der Bevölkerung betroffen (FIS 5.10.2018, S. 34; vgl. ÖB 3.2020, S. 16), die absolute Zahl wird mit 1,9 Millionen Betroffenen beziffert (HIPS 5.2020, S. 26). Nach anderen Angaben (Stand 2020) wurden bei 4,3 % der Bevölkerung durch einen Arzt eine Geisteskrankheit diagnostiziert während man von einer Verbreitung von 14 % ausgeht (WB 6.2021, S. 31).

Psychisch Kranken haftet meist ein mit Diskriminierung verbundenes Stigma an. Nach wie vor ist das Anketten psychisch Kranker eine weitverbreitete Praxis. Dies gilt selbst für psychiatrische Einrichtungen – etwa in Garoowe (WHO Rizwan 8.10.2020). Aufgrund des Mangels an Einrichtungen werden psychisch Kranke mitunter an Bäume gebunden oder zu Hause eingesperrt (USDOS 30.3.2021, S. 35). Im Zweifelsfall suchen Menschen mit psychischen und anderen Störungen Zuflucht im Glauben (ACCORD 31.5.2021, S. 38).

Verfügbarkeit:

Nur 5 % der Einrichtungen sind in der Lage, Tuberkulose, Diabetes oder Gebärmutterhalskrebs zu diagnostizieren und zu behandeln (WB 6.2021, S. 34).

?        Diabetes: Kurz- und langwirkendes Insulin ist kostenpflichtig verfügbar. Medikamente können überall gekauft werden. Die Behandlung erfolgt an privaten Spitälern (UNFPA/DIS 25.6.2020, S. 84). Rund 537.000 Menschen leiden in Somalia an einer Form von Diabetes (HIPS 5.2020, S. 26).

?        Psychische Krankheiten: Die Verfügbarkeit ist hinsichtlich der Zahl an Einrichtungen, qualifiziertem Personal und geographischer Reichweite unzureichend. Auch die Verfügbarkeit psychotroper Medikamente ist nicht immer gegeben, das Personal im Umgang damit nicht durchgehend geschult (WHO Rizwan 8.10.2020). Oft werden Patienten während psychotischer Phasen angekettet (UNFPA/DIS 25.6.2020, S. 84).

Medikamente: Grundlegende Medikamente sind verfügbar (FIS 5.10.2018, S. 37; vgl. FIS 7.8.2020, S. 31), darunter solche gegen die am meisten üblichen Krankheiten sowie jene zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Epilepsie und von Geschwüren. Auch Schmerzstiller sind verfügbar. In den primären Gesundheitszentren ländlicher Gebiete kann es bei Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten zu Engpässen kommen (FIS 5.10.2018, S. 37). Nach anderen Angaben kommt es in Krankenhäusern allgemein immer wieder zu Engpässen bei der Versorgung mit Medikamenten, Verbands- und anderen medizinischen Verbrauchsmaterialien (AA 3.12.2020). Die oben erwähnten, vom Roten Kreuz unterstützten Spitäler erhalten Medikamente vom Roten Kreuz (ICRC 13.9.2019).

Es gibt keine Regulierung des Imports von Medikamenten (DIS 11.2020, S. 73). Medikamente können ohne Verschreibung gekauft werden. Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt in erster Linie über private Apotheken. Für Apotheken gibt es keinerlei Aufsicht (FIS 5.10.2018, S. 37). Die zuständige österreichische Botschaft kann zur Medikamentenversorgung in Mogadischu keine Angaben machen (ÖB 3.2020, S. 16).

ACCORD Anfragebeantwortung zu Somalia: Behandlung, Umgang und Stigmatisierung von psychisch kranken oder alkoholabhängigen Menschen vom 19.04.2021

Allgemeine Informationen zur medizinischen Versorgung in Somalia

Laut Auskunft von Markus Höhne, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig, sei infolge des 30-jährigen Bürgerkriegs und des Zusammenbruchs des Staates das öffentliche Gesundheitssystem in Somalia weitgehend zerstört und bis heute nicht wieder umfassend aufgebaut worden. Die Qualität der Gesundheitsversorgung in Somalia sei im Allgemeinen sehr schlecht. Krankenhäuser gebe es nur in wenigen größeren Städten. Somalia liege bei der Anzahl der verfügbaren Betten pro Einwohner im weltweiten Vergleich am unteren Ende der Skala. Daten der Weltbank weisen für das Jahr 2017 für Somalia einen Wert von 0,9 Betten pro 1000 Einwohner aus. Dieser Wert habe sich zwar leicht verbessert, die Lage in Somalia sei im weltweiten Vergleich aber immer noch dramatisch schlecht. Die Zahl der Krankenhausbetten pro Person in Somalia sei zwischen 1991 und 1997 stetig auf 0,4 Betten pro 1000 Personen gesunken (vgl. World Bank, ohne Datum). Ab dem Jahr 2000 sei einiges an Infrastruktur wiederaufgebaut worden, als Somalia, insbesondere Mogadischu, etwas zur Ruhe gekommen war. Doch zwischen 2007 und 2011, als Al Shabaab, die hauptsächlich in Südsomalia tätige islamistische Miliz, und die somalische und die äthiopische Armee sowie Interventionskräfte der Afrikanischen Union (AMISOM) in der Stadt gegeneinander kämpften, sei auch viel wieder zerstört worden. In den letzten Jahren seien einige Krankenhäuser umgebaut oder neu errichtet worden, so zum Beispiel das 2015 neu eröffnete türkische Krankenhaus in Mogadischu (vgl. DIS, November 2020, S. 24). (Höhne, 8. April 2021)

Dennoch hätten die sechs größten Krankenhäuser der Hauptstadt jeweils nur zwischen 25 und 200 Betten, mit Ausnahme des Benadir-Krankenhauses, das 500 Betten habe. Dies bedeute, dass in Mogadischu geschätzt nicht mehr als 1000-1200 Krankenhausbetten verfügbar sind für circa zwei Millionen Einwohner (darunter mehr als 300.000 Binnenvertriebene). Viele dieser Menschen bräuchten ärztliche Hilfe, die aber auf Grund infrastruktureller Mängel nicht gewährt werden könne. (Höhne, 8. April 2021)

Im Allgemeinen sei die Gesundheitsversorgung laut Markus Höhne in Somalia nicht kostenlos. Allerdings seien die Kosten je nach Institution sehr unterschiedlich. Öffentliche Krankenhäuser seien deutlich billiger als private Einrichtungen. Er verweist auf ihm vorliegende Informationen aus dem Jahr 2015 zu Kosten für Behandlung in Krankenhäusern in Mogadischu. Demnach hätten die Kosten für ein Zugangsticket 5 US-Dollar betragen und bis zu 400-500 Dollar für eine komplette Durchuntersuchung, sowie 200 Dollar monatlich für stationäre Behandlung zuzüglich Medikation, abhängig von der Krankheit. Höhne gibt in seiner E-Mail-Auskunft weiter an, dass ihm Ärzte in Somalia im Jänner 2020 und im April 2021 telefonisch bestätigt hätten, dass diese Kosten nach wie vor realistisch seien. Ein stationärer Aufenthalt in einem öffentlichen Krankenhaus koste demnach mindestens 5 USD pro Bett und Nacht. Essen müsse zusätzlich bezahlt werden. In den großen staatlichen Krankenhäusern wie beispielsweise dem Medina-Krankenhaus werde die vorhandene Medizin kostenlos ausgegeben. Operationen würden in den öffentlichen Krankenhäusern nicht extra kosten. Allerdings würden Kosten für Laboruntersuchungen anfallen. In privaten Krankenhäusern müsse jede Operation bezahlt werden. Eine kleinere ambulante Operation (z.B. die Entfernung einer eitrigen Geschwulst an der Hand) koste ca. 50 USD, plus 5-10 USD Zulassungsgebühr und dann noch ca. 30 USD für medikamentöse Nachversorgung. (Höhne, 8. April 2021)

Der umfassende Bericht des Danish Immigration Service (DIS) zum somalischen Gesundheitssystem vom November 2020 verweist auf das geringe Vertrauen in das öffentliche Gesundheitswesen, daher seien viele Menschen auf den privaten Gesundheitssektor angewiesen, der allerdings schlecht reguliert sei und dessen Qualität nicht einschätzbar sei. Ein kleiner Eingriff könne 100 US-Dollar kosten und sei daher für die meisten nicht leistbar (DIS, November 2020, S. 27).

Behandlung von psychischen Erkrankungen

In Bezug auf die Behandlungen von psychischen Erkrankungen seien laut Markus Höhne die Einschränkungen noch stärker. Laut einer Schätzung von 2017 gebe es im Land 0,05 Psychiater pro 100.000 Einwohner (vgl. DIS, November 2020. S. 36). Dies würde bedeuten, dass es bei ca. 14 Millionen Einwohnern in Somalia nur ca. 7 Psychiater gäbe. Allerdings nimmt Höhne nach Gesprächen mit Ärzten in Somalia an, dass es ca. 15 Psychiater im Land gebe. Es gebe in einigen großen Städten wie Mogadischu, Baydhoa, Garoowe, Bosaso und Hargeysa Krankenhäuser mit auf psychische Störungen spezialisierten Abteilungen. Allerdings seien die Kapazitäten dieser Abteilungen sehr beschränkt. Es mangle an ausgebildetem Personal und oft hätten weder Pfleger noch Ärzte in den wenigen psychiatrischen Stationen eine nennenswerte Fachausbildung. Von den wenigen Psychiatern und Psychologen würden nicht alle in den öffentlichen Kliniken arbeiten, sondern manche auch privat. (Höhne, 8. April 2021)

In einem Artikel der auf humanitäre Themen fokussierten Nachrichtenagentur The New Humanitarian (TNH) vom Juni 2019 wird erwähnt, dass Somalia nur über fünf von der WHO anerkannte Zentren für psychische Gesundheit verfüge. Der Artikel spricht von nur drei Psychiater·innen im Land, darunter Abdurahman Ali Awale, der auch als „Dr. Habeeb“ bekannt sei (TNH, 26. Juni 2019). Höhne merkte dazu an, dass „Dr. Habeeb“ kein formal ausgebildeter Mediziner sei, sondern ein Pfleger mit einer begrenzen Zusatzausbildung in Psychiatrie (Höhne, 8. April 2021; vgl. auch The Guardian, 5. April 2012 und Reuters, 2. März 2020).

Ein Artikel der britischen Zeitung The Guardian vom April 2012 bezeichnet das Habeeb-Krankenhaus als einziges öffentliches psychiatrisches Krankenhaus in Somalia mit ausgebildeten Psychiater·innen. Das Krankenhaus in Mogadischu sei mit einer hohen Anzahl von Patient·innen belegt und täglich würden mindestens 20 neue Patient·innen das Krankenhaus aufsuchen. Das Krankenhaus betreibe in Mogadischu zudem drei weitere Einrichtungen (The Guardian, 5. April 2012). Die Mission der Vereinten Nationen in Somalia (United Nations Assistance Mission in Somalia, UNSOM) berichtet im April 2018, dass Dr. Habeeb (Abdirahman Ali Awale) im Jahr 2005 mithilfe von Unterstützer·innen das Habeeb Mental Hospital eröffnet habe, das auf die Behandlung von psychischen Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen spezialisiert sei. Seither seien medizinische Praxis und Dienste über Mogadischu hinaus ausgeweitet worden. Er betreibe nun zehn weitere psychiatrische Zentren landesweit, in Buhoodle, Abudwak (Caabudwaaq), Gaalkayo, Adado (Cadaado), Belet Weyne, Marka, Beled Hawo und Kismaayo (UNSOM, 7. April 2018). Höhne merkt dazu an, dass die von „Dr. Habeeb“ betriebenen Einrichtungen privat und damit kostenintensiv seien. Zudem sei die von The Guardian erwähnte Ausbildung der Psychiater·innen in diesen Einrichtungen zweifelhaft (Gespräch zwischen Höhne und Dr. Massimiliano Reggi im Jänner 2020). Höhne weist darauf hin, dass es keine Institution in Somalia gebe, die die Qualifikation von Krankenhauspersonal im Bereich Psychiatrie (oder anderswo) überprüfe (Höhne, 8. April 2021).

Einem umfangreichen, aber bereits aus dem Jahr 2010 stammenden WHO-Bericht zufolge seien die Gesundheitsdienste in Somalia in nicht ausreichender Zahl verfügbar, von einem Mangel an Ausrüstung gekennzeichnet und die geografische Abdeckung sei für die Deckung der Bedürfnisse des Landes nur eingeschränkt vorhanden. Berichten zufolge hätten damals acht Einrichtungen existiert und diese seien für den Bericht untersucht worden (WHO, 2010, S. 8). Auch in einem Bericht von UNHCR aus dem Jahr 2016 wird auf die mangelhafte Infrastruktur und die wenigen Fachkräfte für die Behandlung von psychischen Krankheiten verwiesen. Viele private Kliniken würden von Psychiatern aus der Diaspora geleitet, die sich nur einige Wochen im Jahr vor Ort aufhalten würden und ansonsten an Gesundheitsbedienstete ohne formale Qualifikation übergeben würden (UNHCR, 2016, S. 24).

Von mehreren Quellen wird als problematische häufig angewandte Behandlungsmethode das Anketten von Patient·innen beschrieben: Schon die WHO-Studie von 2010 bezieht sich auf das Anketten als eine nicht unübliche Behandlungsmethode für Patient·innen. Die Anwendung von Ketten gegenüber psychisch beeinträchtigten Personen sei unabhängig vom Geschlecht sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten verbreitet, so der WHO-Bericht. In vielen Einrichtungen zur psychischen Gesundheitsversorgung werde die Praxis als lokal akzeptierte medizinische Behandlung angewendet. Die Anwendung von Ketten werde als alternative Medizin angesehen. Es sei üblich, dass betroffene Personen nicht nur während einer “akuten Krise” angekettet seien, sondern wochen-, monate- oder sogar lebenslang. Die italienische NGO Gruppo per le Relazioni Transculturali (GRT) sei auf Patient·innen getroffen, die ununterbrochen seit acht Jahren in Ketten gelegen seien oder zusammengerechnet dreizehn Jahre ihres Lebens (WHO, 2010, S. 22-23). Der Bericht von UNHCR zur psychischen Gesundheit/Krankheit aus dem Jahr 2016 beschreibt das Verfahren ausführlich (UNHCR, 2016, S. 48).

Markus Höhne teilte mit, dass ihm Massimiliano Reggi, ein italienischer Psychiater und der Hauptautor der oben erwähnten UNHCR-Studie, im Jänner 2020 bestätigt habe, dass die Infrastruktur für die psychiatrische Versorgung in Somalia immer noch sehr einfach sei und dass aggressive Patienten nach wie vor (in Krankenhäusern oder zu Hause in der Familie) regelmäßig angekettet würden (Höhne, 8. April 2021). In seinem Jahresbericht zur Menschenrechtslage vom März 2021 (Berichtszeitraum 2020) erwähnt das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS), dass es wegen der fehlenden öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur nur wenige Dienste zur Unterstützung oder Bildung für Personen mit psychischen Behinderungen gegeben habe. Es sei weit verbreitet, dass solche Personen an einen Baum gekettet oder innerhalb ihrer Häuser festgehalten würden (USDOS, 30. März 2021, Section 6). Auch ein Artikel im Magazin Borgen aus dem Jahr 2018 beschäftigt sich ausführlich mit dem Thema (Borgen, 14. Dezember 2018).

Gesellschaftliche Wahrnehmung und Deutungsmuster sowie Stigmatisierung

Eine bereits aus dem Jahr 2010 stammende umfassende Studie der WHO zur Lage der psychischen Gesundheit in Somalia erwähnt, dass der Diskurs zu psychischer Gesundheit in Somalia streng innerhalb eines ganz besonderen Kontextes eingebettet sei und von spezifischen soziokulturellen Mustern beeinflusst werde. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen würden stigmatisiert, diskriminiert und gesellschaftlich isoliert. Herabwürdigende und gefährliche kulturelle Praktiken, wie das Anketten von Personen, seien nicht nur weit verbreitet, sondern auch gesellschaftlich und medizinisch akzeptiert. Traditionelle Heiler·innen würden eine bedeutende Rolle spielen, jedoch seien diese nicht medizinisch an einer tatsächlichen Rehabilitation der Patient·innen beteiligt. (WHO, 2010, S. 8)

Viele Somali mit psychischen Erkrankungen seien der WHO-Studie von 2010 zufolge gesellschaftlich isoliert. Der Schmerz dieser Isolation werde intensiv gefühlt, da die somalische Kultur traditionell gemeinde- und familienorientiert sei. Während eine Person mit psychischen Erkrankungen von der Gemeinde geächtet werde, könne die Angst vor Stigmatisierung noch stärker wiegen. Dadurch könne sich die psychische Erkrankung noch verschlimmern und der Heilsvorgang erschwert werden. Die Situation werde noch verschlimmert, weil Somali annehmen würden, dass eine einmal psychisch erkrankte Person sich nie wieder erholen werde. Einem somalischen Sprichwort zufolge könne sich der Zustand einer psychisch beeinträchtigten Person nur verbessern, aber die Person könne sich nicht erholen. (WHO, 2010, S. 21)

Auch Markus Höhne erwähnt in seiner Auskunft, dass eine Person, die unter psychischen Problemen gelitten hat, selbst nach einer Erholung weiter mit dem Stigma ihres früheren Zustands fertig werden müsse. Es sei für einen Mann oder eine Frau, der oder die ernsthafte psychische Probleme (oder Probleme mit Drogenmissbrauch) hatte, äußerst schwierig, Arbeit zu finden oder eine Familie zu gründen. Somalis seien äußerst sensibel in Bezug auf alle Probleme, die gegen die „gute“ Kultur verstoßen, und da psychische Störungen häufig als mit „göttlicher Bestrafung“ verbunden angesehen werden, halten gewöhnliche Menschen Abstand zu einer ehemaligen psychisch kranken Person. (Höhne, 8. April 2021)

Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR) veröffentlichte 2016 einen Bericht zu Kultur, Kontext und psychischer Gesundheit somalischer Flüchtlinge für Mitarbeiter·innen in psychischen Gesundheitsdiensten und psychosozialen Unterstützungsprogrammen. Dem Bericht zufolge würden sich Somali die Gründe für psychische Krankheiten oftmals spirituell erklären, etwa als Gottes Wille, als vorbestimmtes Schicksal. Krankheiten könnten als Bestrafung Gottes oder Test interpretiert werden. Sie könnten auch als Ergebnis einer unzureichenden Frömmigkeit angesehen werden. In diesem Sinne könnten psychische Erkrankungen als Strafe Gottes wahrgenommen werden, was die Gemeinschaft zur Annahme bringen könnte, dass die betroffene Person kein guter Muslim, keine gute Muslimin gewesen sei. Die Bestrafung könne auch auf schlechte Taten zurückgeführt werden. Die endgültige Entscheidung über Krankheiten liege laut Ansichten der Gesellschaft immer in Gottes Händen. (UNHCR, 2016, S. 38)

Es würde zudem angenommen, dass psychische Krankheiten auf „böse Geister“ zurückzuführen seien. Somali halten sich an muslimische Glaubensvorschriften und würden glauben, dass Gott verschiedene Lebensreiche, darunter körperliche, spirituelle und metaphysische Welten geschaffen habe. Es gebe demnach unterschiedliche Kreaturen: Menschen, Engel, Geister (gut oder böse) oder Teufel. Böse Geister würden im Allgemeinen mit dem Begriff Dschinn (auch jinn, gin, geni) bezeichnet. Diese würden im Koran genannt. Dschinn würden im Allgemeinen als Gründe für psychische Gesundheitsprobleme von Muslim·innen angesehen, darunter auch von Somali. Aufgrund der Anerkennung durch die islamische Theologie könnte dies zu sehr beständigen Zuschreibungen führen. (UNHCR, 2016, S. 38-39)

Elemente der prä-islamischen somalischen Kultur bestünden in Form von „saar“ (auch zar oder zaar), spiritueller Besessenheit, fort. Der Begriff saar beschreibe sowohl den Zustand der besessenen Person (der Geist nehme Besitz einer Person und wolle auf bestimmte Art befriedigt werden), als auch den heilenden Kult. In verschiedenen Teilen Somalias seien Saar-Geister unter verschiedenen Namen bekannt, als mingis, boorane, sharah, ayaamo, wadaado/ardooyin, luumbi/nuumbi, barkiin/ba’alwaan, sowie als saar-gedo, saar-habashi and beebe. „Mingis“ werde im Nordosten Somalia von einigen Autoren als bedeutendster Ausdruck einer Saar-Besessenheit eingestuft. Saar-Geister würden am häufigsten von verheirateten Frauen Besitz ergreifen. Die Art des Saar-Geistes stehe in Zusammenhang mit ihrer Clanzugehörigkeit und ihrer Heimatregion. Eine besessene Frau müsse versuchen, den Geist zu besänftigen und falls es ihr gelinge, eine friedliche Beziehung zum Saar-Geist herzustellen, werde sie wieder einen guten Gesundheitszustand und Wohlbefinden erlangen. Die Besessenheit durch einen Saar-Geist könne dem Bericht zufolge ein Weg zur Konkretisierung und Externalisierung psychologischer Schwierigkeiten sein, auf einem Weg der kulturell verständlich und akzeptiert sei. (UNHCR, 2016, S. 39; vgl. auch Höhne, 8. April 2021)

Weitere auf Deutsch zusammengefasste Details der Studie von UNHCR finden sich in einer Anfragebeantwortung von ACCORD aus dem Jahr 2020 (ACCORD, 30 April 2020).

In einer 2011 veröffentlichten wissenschaftlichen Studie zu Konzepten psychischer Erkrankungen von Menschen aus Somalia wurden Somalier·innen in Schweden befragt. Viele der Befragten hätten angegeben, dass, solange eine Person keinen körperlichen Schaden anrichte, ihr Zustand innerhalb der Familie geheim gehalten werde. Das Lesen des Koran sei eine wichtige Strategie beim Umgang mit psychischer Erkrankung. Diese Leserunden würden entweder in kleineren Gruppen von Freunden und Familie stattfinden oder mit religiösen Gelehrten, die spezielle Koransuren und -verse lesen würden. Viele Befragte hätten angegeben, dass der Koran die Macht habe zu heilen. (Johnsdotter, 2011, S. 725)

Ein Artikel des offiziellen staatlichen Auslandssenders der USA, Voice of America (VOA), zitiert die Psychotherapeutin Rowda Abdullahi Olad, die aus den USA nach Somalia zurückgekehrt sei und sich dort mit der von ihr gegründeten Organisation „Maandeeq Mental Health Without Borders“ für ein Ende der Stigmatisierung in Verbindung mit psychischer Gesundheit einsetzt. Personen, die an psychischen Erkrankungen leiden, würden oftmals von der Gesellschaft und sogar ihren Familien gemieden. Schädliche Praktiken, darunter die Nutzung von Ketten, um Patient·innen ruhig zu stellen, würden im Land weiterhin angewendet. Die Stigmatisierung komme daher, weil die Menschen annehmen würden, dass man entweder verrückt sei oder nicht, entweder man sei wahnsinnig oder nicht, es gebe kein Dazwischen. (VOA, 5. März 2020)

Auch Markus Höhne verweist darauf, dass Somali meist nur zwischen „völlig verrückt“ und „im Grunde genommen in Ordnung“ unterscheiden (vgl. auch Finn Church Aid, 28. August 2019). In der somalischen Sprache gebe es nur sehr wenige Ausdrücke, die psychische Probleme betreffen. Der Ausdruck "waali" stehe für "verrückt"; er bezeichnet eine Form von psychischer Krankheit, die das normale Funktionieren einer Person im täglichen Leben vollständig hemmt. "Murug" stehe für "Depressionen" (unspezifisch: tiefe Traurigkeit) und die Wörter „jini“ oder „gini“ bezeichnen eine Art seltsames, möglicherweise paranoides Verhalten (eigentlich: Geistbesessenheit) (vgl. Carroll, 2004). Die begrenzte Terminologie im Alltag, die eine öffentliche Auseinandersetzung mit psychischen Störungen enorm einschränkt, sei Ausdruck eines Tabus in der somalischen Gesellschaft; dies sei umso dramatischer, als auf Grund der lange anhaltenden Geschichte der Gewalt im Land viele Menschen von traumatischen Ereignissen betroffen sind. (Höhne, 2011, S. 324-328; Höhne, 8. April 2021)

Ein Artikel der finnischen NGO Finn Church Aid zitiert im August 2019 ebenfalls Rowda Olad. Personen, die psychisch schwer erkranken würden, würden ins Krankenhaus gebracht und dort vergessen. Rowda erwähnt zudem, dass Therapie an sich ein neues Konzept in Somalia sei. Patient·innen, denen sie eine Therapie anbiete, würden von ihr Medikamente erwarten, nicht Diskussionen. (Finn Church Aid, 28. August 2019)

In einem im Februar 2020 veröffentlichten wissenschaftlichen Aufsatz zu psychischer Gesundheit in Somaliland wird ebenfalls erwähnt, dass Somali psychische Gesundheit binär wahrnehmen würden: jemand sei verrückt (waali) oder nicht verrückt. Das Konzept eines Spektrums psychischer Erkrankung und Gesundheit bestehe nicht. Sobald eine Person als psychisch krank abgestempelt sei, werde die Krankheit – und das damit verbundene Stigma – als beständig und unumkehrbar betrachtet. Als Ergebnis sei die Stigmatisierung tief verwurzelt und weit verbreitet. Patient·innen und deren Familien seien mit negativen Einstellungen seitens der Gesellschaft und körperlichem Schaden konfrontiert. Viele seien gesellschaftlich isoliert und vulnerabel. (Abdi Abdillahi/Adan Ismail/Singh, Februar 2020, S. 11)

Laut Markus Höhne könne eine soziale Wiedereingliederung nur aufgrund der massiven Unterstützung durch enge Familienmitglieder erfolgreich sein, die in der Lage sind, die ehemalige psychisch kranke oder gestörte Person zu schützen und zu unterstützen. Ohne eine solche familiäre Unterstützung könne es selbst für einen geheilten Patienten äußerst schwierig sein, sich in der somalischen Gesellschaft wieder zu etablieren. (Höhne, 8. April 2021)

Laut Auskunft von Markus Höhne sei häufig die erste Adresse von Angehörigen psychisch Kranker nicht ein ausgebildeter Psychologe oder Psychiater, sondern ein Religionsgelehrter. Letzterer könne eine Behandlung nach dem Koran und den Hadithen durchführen. Dazu gehöre die Dauerbeschallung mit aufgenommenen Suren oder das Trinken von Wasser, vermischt mit Tinte, mit der zuvor religiöse Texte geschrieben wurden. Zudem gebe es volkstümliche Verfahren wie Mingis, Saar oder Borane, die eine Art Besessenheitskult mit extatischen Tänzen darstellen. Als dritte Möglichkeit gebe es „dawo Soomaali“, also die Behandlung mit Pflanzen/Kräutern (vgl. WHO, 2010, S. 22-24). Die verwendeten Substanzen und ihre Wirkung sind Uneingeweihten nicht bekannt und werden von Somalis, die diese Methode der Heilung praktizieren, im Allgemeinen geheim gehalten. Die wenigen niedergelassenen Psychologen und Psychiater sowie die wenigen Krankenhäuser mit psychiatrischen Abteilungen in Somalia würden von Angehörigen der psychisch Kranken oft zuletzt um Hilfe gebeten, nachdem die eben genannten Heilungsmethoden versagt haben. (Höhne, 8. April 2021)

Der oben zitierte TNH-Artikel zitiert Abdurahman Ali Awale, der als Psychiater in Mogadischu arbeite (siehe jedoch dazu weiter oben zu „Dr. Habeeb“). Dieser habe angegeben, dass manchmal traumatisierte Patient·innen auf den Straßen Mogadischus von Mobs verfolgt und beleidigt würden. Es sei schmerzlich, die grausame Behandlung zu sehen, die diese Patient·innen seitens einiger Bevölkerungsteile erfahren würden. In der Region Somaliland sei dies ähnlich. Laut Angaben des Psychiaters Djibril Ibrahim Handuleh, (vgl. Höhne, 8. April 2021) sei die Stigmatisierung und Diskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen sehr weit verbreitet. Den Personen würde eine Behandlung verweigert oder sie würden sogar davon abgehalten. Dies würde sich auch auf Drogenentzugseinrichtungen erstrecken. Djibril Ibrahim Handuleh zufolge würden in Somaliland einige Personen, die an psychischen Problemen leiden, von ihren Verwandten ins Gefängnis gebracht. Er habe im Jahr 2014 eine Studie im Gefängnis Borama durchgeführt. Dort seien 143 der 200 Insass·innen psychische Gesundheitspatient·innen gewesen, die nicht kriminell gewesen seien („with no criminal record“). Djibril Ibrahim Handuleh und seine Mitarbeiter·innen hätten sich in Gesprächen mit Anwält·innen und Polizist·innen dafür einsetzen müssen, um sicherzustellen, dass diese freigelassen würden. (TNH, 26. Juni 2019; mit Ergänzung von Höhne, 8. April 2021)

The Guardian zitiert in einem Artikel vom April 2012 Abdi Rahman Habeeb, ein ausgebildeter psychiatrischer Pfleger und Betreiber des Habeeb-Krankenhauses in Mogadischu. Die Arbeit seine

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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