Entscheidungsdatum
23.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W184 2183680-2/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.09.2021, Zl. 1103770806/210532991, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gemäß § 68 AVG als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. stattgegeben und der beschwerdeführenden Partei gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird der beschwerdeführenden Partei eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Vorverfahren:
Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 29.01.2016 im Familienverband einen Antrag auf internationalen Schutz ein.
Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 06.12.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Der beschwerdeführenden Partei wurde gemäß §§ 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurden gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
Eine gegen den Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.07.2019, W105 2183680-1/13E, als unbegründet abgewiesen.
Begründend wurde ausgeführt, dass die beschwerdeführende Partei mit seinem Vorbringen zur Furcht vor Verfolgung im Herkunftsstaat eine asylrelevante Bedrohung nicht darzutun vermocht habe. Der Eindruck, dass es sich bei der ins Treffen geführten Fluchtgeschichte um keine der Wirklichkeit entsprechenden Umstände handele, ergebe sich schließlich auch aus dem Umstand, dass das weitere Vorbringen der beschwerdeführenden Partei mit teilweise gravierenden Widersprüchen behaftet sei. In einer Gesamtschau seien die von Beschwerdeseite zum gegenständlichen Fluchtgrund vorgebrachten Angaben widersprüchlich und unglaubhaft. Es sei der Beschwerdeseite somit nicht gelungen, eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen in den Herkunftsstaat in ausreichendem Maße substantiiert vorzubringen und glaubhaft zu machen.
Die Entscheidung erwuchs am 05.05.2020 in Rechtskraft.
Gegenständliches Verfahren:
Am 22.04.2021 stellte die beschwerdeführende Partei einen Folgeantrag und brachte auf die Frage, wieso er nunmehr einen neuerlichen Asylantrag stelle, vor, dass er mit der österreichischen Polizei zusammenarbeite und für diese als Informant tätig sei. Er werde von einem Zeugen bedroht, was er auch bei der Polizei bereits angezeigt habe. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde er von der Familie des Mannes umgebracht werden. Auf Vorhalt, dass seine Gefährdung in Österreich ebenfalls sehr hoch sei, gab die beschwerdeführende Partei an, dass ihn im Bundesgebiet im Gegensatz zu Afghanistan der Rechtsstaat schützen könne. Überdies würde er bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Ungläubiger betrachtet werden, da er viele Jahre in Österreich gelebt habe.
Die beschwerdeführende Partei wurde am 05.07.2021 vom BFA niederschriftlich einvernommen und gab dabei zu Protokoll, dass er in Pakistan geboren, aber in der Provinz Helmand in Afghanistan aufgewachsen sei. Er könne einen afghanischen Reisepass und eine Tazkira in Vorlage bringen. Befragt, welche Integrationsschritte er bereits im Bundesgebiet gesetzt habe, brachte die beschwerdeführende Partei vor, dass er bei der Diakonie gearbeitet habe und mit der Polizei zusammenarbeite, was er auch belegen könne. Er arbeite und könne diesbezüglich einen Arbeitsvertrag vorlegen. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Zur Frage, wie er seine wirtschaftliche und finanzielle Situation im Heimatland vor seiner Flucht beschreiben würde, gab die beschwerdeführende Partei an, dass es seiner Familie schlecht gegangen sei, da sein älterer Bruder von den Taliban getötet worden sei und es Feindschaften gegeben habe. Er wisse nicht, ob er in Afghanistan noch Angehörige habe. In Österreich würden seine Tante und sein Onkel sowie sein Bruder leben, zu seiner Tante habe er jedoch keinen Kontakt. Zuletzt habe er mit seiner Mutter im Jahr 2017 telefoniert. Nachgefragt, welche Ausbildungen er absolviert habe, entgegnete die beschwerdeführende Partei, dass er weder in Afghanistan noch in Pakistan die Schule besucht habe und auch keinen Beruf erlernt habe. Zur weiteren Frage, wie er sich seinen Lebensunterhalt finanziere, erklärte die beschwerdeführende Partei, dass er am XXXX tätig sei und einen monatlichen Lohn erhalte. Er freue sich, wenn er einer Tätigkeit nachgehen könne. Zum Vorhalt, dass er bereits einen Asylantrag gestellt habe, und befragt, wann das gewesen sei und wie entschieden worden sei, replizierte die beschwerdeführende Partei, dass er im Jahr 2018 oder 2019 den ersten Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, dieser jedoch negativ entschieden worden sei. Seitdem habe er Österreich jedoch nicht verlassen. Auf den weiteren Vorhalt, dass er seinen ersten Asylantrag gemeinsam mit seinem Vater gestellt habe, und auf die Frage, wo sich dieser derzeit befinde, entgegnete die beschwerdeführende Partei, dass dieser mit ihm zusammenlebe. Er habe vergessen, ihn zu erwähnen. Sein Vater habe jedoch keinen weiteren Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Auf Aufforderung, den genauen Fluchtgrund zu nennen, aufgrund dessen er einen Folgeantrag gestellt habe, führte die beschwerdeführende Partei an, dass in Afghanistan derzeit Krieg herrsche und er nicht wisse, an wen er sich wenden sollte. Er wisse nicht, wo sich seine Familie derzeit aufhalte, da er sich bereits seit fünf Jahren in Österreich befinde. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde man ihm die Ungläubigkeit unterstellen. Da er jemanden bei der Polizei verraten habe, suche nunmehr dessen gesamte Familie nach ihm. Er werde von dieser Familie sowohl in Afghanistan als auch hier verfolgt. Die erwähnte Familie stamme aus Kabul. Auf Vorhalt, dass Kabul eine Millionenstadt ohne Meldewesen sei, weshalb die Chance, ihn dort zu finden, sehr gering sei, erwiderte die beschwerdeführende Partei, dass die Möglichkeit, gefunden zu werden, theoretisch auch in ein bis zwei Jahren gegeben sei. Auf Nachfrage, ob sich gegenüber seinem ersten Asylantrag etwas geändert habe oder ob die Fluchtgründe dieselben seien, erklärte die beschwerdeführende Partei, dass in Afghanistan Krieg herrsche und er sich in Österreich ein Leben aufbauen wolle. Er wolle einer Erwerbstätigkeit nachgehen und keine staatliche Unterstützung erhalten. Befragt, ob er nun alle seine Fluchtgründe geschildert habe, brachte die beschwerdeführende Partei vor, dass er in Afghanistan noch in eine Feindschaft mit den Taliban verwickelt sei und er von den Taliban mit einem Gewehrkolben geschlagen worden sei. Er könne von diesem Angriff auch noch eine Narbe vorweisen. Er wolle in Österreich bleiben, da es in Österreich eine Demokratie gebe. Auf Nachfrage, was für ihn Demokratie bedeute, brachte die beschwerdeführende Partei vor, dass es keine Unterschiede zwischen den Religionen gebe und man seine Freiheit ausleben könne. Die Frage, ob er mit den staatlichen Behörden in Afghanistan Probleme gehabt habe, wurde von der beschwerdeführenden Partei verneint. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan hätte er Probleme, da man ihm aufgrund seiner langjährigen Abwesenheit Ungläubigkeit unterstellen würde. In einer anderen Provinz im Herkunftsstaat könnte er alleine nicht leben. Auf die Frage, ob er in einem Verein oder einer Organisation tätig sei, gab die beschwerdeführende Partei an, dass er einen Fitnessclub besuche und ein Informant für die Polizei sei. Auf weiteren Vorhalt, dass er bereits zwei Anträge auf internationalen Schutz gestellt habe und auch zweimal von einem österreichischen Landesgericht wegen Suchtgifthandels rechtskräftig verurteilt worden sei, gab die beschwerdeführende Partei an, dass er bereits bei seiner zweiten Verurteilung angegeben habe, einen Fehler begangen zu haben, und bekräftigt habe, so eine Tat nicht mehr zu begehen. Er bereue sein straffälliges Verhalten.
Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme wurden von der beschwerdeführenden Partei eine Tazkira, ein ambulanter Bericht einer Klinik vom 18.12.2020 mit den Diagnosen „idiopathisch generalisierte Epilepsie“ sowie „generalisierter Juckreiz“ in Kopie, ein Arbeitsvorvertrag als Verkäufer vom 04.07.2021, eine Anzeigebestätigung gegen einen unbekannten Täter vom 19.03.2021 und ein Aktenvermerk des Landeskriminalamtes Wien vom 06.03.2021 über Amtshandlungen der beschwerdeführenden Partei auf freiwilliger Basis, im Zuge derer 10 Kilogramm Cannabiskraut und mehrere tausend Euro Bargeld sichergestellt worden seien, vorgelegt.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung getroffen:
„I. Der Antrag auf internationalen Schutz vom 22.04.2021 wird hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
II. Gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG wird der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen.
III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.
IV. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.
V. Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG in Verbindung mit § 50 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan nicht zulässig ist.
VI. Gemäß § 53 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Z 1 FPG wird ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
VII. Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wird gemäß § 18 Abs. 1 Z 2, 6 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.
VIII. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG besteht keine Frist für die freiwillige Ausreise.
IX. Gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 haben Sie Ihr Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 13.02.2020 verloren.“
In der Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Fluchtgründe der beschwerdeführenden Partei nicht glaubhaft und nachvollziehbar seien. Die beiden rechtskräftigen Verurteilungen der beschwerdeführenden Partei würden auf der gleichen schädlichen Neigung basieren und er habe eine weitere Tat in offener Probezeit begangen. Der Umstand, dass er trotz rechtskräftiger Verurteilung und noch während der offenen Probezeit erneut straffällig geworden sei, unterstreiche seinen mangelnden Besserungsvorsatz und sein Persönlichkeitsprofil. Durch sein Verhalten bestehe der begründete Verdacht, dass er die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährde. Somit stelle er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar und sei von einer negativen Zukunftsprognose auszugehen.
Gegen diesen Bescheid wurde vollumfänglich Beschwerde erhoben und ausgeführt, dass die belangte Behörde den Grundsatz der amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhaltes verletzt und das Verfahren dadurch mit Mangelhaftigkeit behaftet habe. Die beschwerdeführende Partei sei aufgrund seiner Epilepsie auf Medikamente angewiesen. Die belangte Behörde habe es gänzlich unterlassen, jegliche Ermittlungen zum Gesundheitszustand der beschwerdeführenden Partei anzustellen, weshalb sie das Ermittlungsverfahren mangelhaft geführt habe. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und würden sich nicht mit der konkreten aktuellen Situation der beschwerdeführenden Partei befassen, weshalb sie als Begründung unzureichend seien. Rückkehrende aus dem westlichen Ausland seien bereits vor der Machtübernahme stigmatisiert und als Ungläubige wahrgenommen worden, weshalb dies nunmehr nach der Machtübernahme der Taliban umso mehr zutreffe. Die medizinische Versorgung und der Erhalt der für die beschwerdeführende Partei notwendigen Medizin sei bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht gesichert, wodurch sich sein Gesundheitszustand verschlechtern würde, was die Zunahme der epileptischen Anfälle zur Folge hätte. Allein aufgrund der seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung gegen die beschwerdeführende Partei vom 15.07.2019 stark verschlechterten Sicherheitssituation in Afghanistan könne nicht von einem identischen Sachverhalt bzw. einer unveränderten Rechtslage ausgegangen werden. Der Anknüpfungspunkt zur GFK sei in der politischen und religiösen Verfolgung durch die an der Macht stehenden Taliban zu sehen. Der Spruchpunkt I. sei daher aufgrund von erheblichen Verfahrensfehlern und einer unrichtigen Rechtsanwendung erlassen worden. Die beschwerdeführende Partei verfüge in Afghanistan über kein unterstützungswilliges bzw. unterstützungsfähiges Netz und habe über vier Jahre keinen Kontakt mehr zu Angehörigen in Afghanistan gehabt. Beantragt wurden die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die beschwerdeführende Partei stellte im österreichischen Bundesgebiet am 29.01.2016 im Familienverband mit seinem Bruder sowie seinem Vater einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 06.12.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen wurde. Der beschwerdeführenden Partei wurde gemäß §§ 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
Eine Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde mit rechtskräftigem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.07.2019, W105 2183680-1/13E, abgewiesen.
Am 22.04.2021 stellte die beschwerdeführende Partei einen Folgeantrag und dieser wurde mit dem angefochtenen Bescheid hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (IV.) Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG in Verbindung mit § 50 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan nicht zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 53 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Z 1 FPG wurde ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 2, 6 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.) Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestand keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VIII.). Gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 wurde ausgesprochen, dass die beschwerdeführende Partei ihr Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 13.02.2020 verloren habe (Spruchpunkt IX.).
Die beschwerdeführende Partei, ein Staatsangehöriger Afghanistans, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischen Bekenntnisses.
Die beschwerdeführende Partei wurde in Pakistan geboren und wuchs in der Provinz Helmand auf. Er hat keine Schulbildung in Afghanistan genossen und war in Helmland als Verkäufer tätig. Seine Muttersprache ist Paschtu.
Die beschwerdeführende Partei machte bis zum Abschluss des ersten Asylverfahrens in Österreich keine Krankheiten oder gesundheitlichen Probleme geltend. Seit dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens wurden bei ihm eine idiopathisch generalisierte Epilepsie sowie ein generalisierter Juckreiz festgestellt. Es wurden eine medikamentöse Therapie und eine neurologische Kontrolle verordnet. Es sind im Verfahren keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass die beschwerdeführende Partei arbeitsunfähig wäre.
In dem ersten Verfahren wurde auf das von der beschwerdeführenden Partei geltend gemachte Vorbringen, dass es eine Feindschaft mit den Taliban gebe und er von diesen geschlagen worden sei, bereits ausführlich eingegangen. Diesbezüglich führte das Bundesverwaltungsgericht im (materiellen) Erkenntnis vom 15.07.2019 insbesondere begründend aus, dass das Vorbringen der beschwerdeführenden Partei mit teilweise gravierenden Widersprüchen behaftet gewesen sei. Wenn die beschwerdeführende Partei nunmehr erstmalig vorbringt, dass er als Informant für die österreichische Polizei tätig sei, ist dem entgegenzuhalten, dass er aufgrund seiner Straftaten im Suchtmittelbereich von der Polizei für Einsätze herangezogen wurde, um weiteres Suchtgift sicherstellen zu können. Diese Tätigkeit entfaltet jedoch jedenfalls keine wesentliche, entscheidungsrelevante Änderung des maßgeblichen Sachverhaltes.
Die beschwerdeführende Partei erstattete kein neues Vorbringen, sondern bekräftigte nur Fluchtgründe, die er bereits im ersten Verfahren geltend machte. Die beschwerdeführende Partei bezog sich zudem auf Umstände, die bereits im Zeitraum der Anhängigkeit des ersten Verfahrens verwirklicht gewesen wären. Sein Vorbringen weist keinen glaubhaften Kern auf.
Die beschwerdeführende Partei wurde in Österreich seit rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens bereits zweimal rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt, nämlich 1) am 10.02.2020 wegen unerlaubten Umganges mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 2a SMG und 2) am 18.01.2021 wegen versuchten unerlaubten Umganges mit Suchtgiften gemäß §§ 27 Abs. 2a, 3 SMG § 15 StGB.
Das Strafurteil vom 10.02.2020 erging mit einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Anordnung einer Probezeit von drei Jahren und das Strafurteil vom 28.12.2020 erging mit einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten unter Anordnung einer Probezeit von drei Jahren.
Den Verurteilungen lag zugrunde, dass die beschwerdeführende Partei anderen Personen gewerbsmäßig vorschriftswidrig Suchtgift auf einer öffentlichen Verkehrsfläche überließ und öffentlich wahrnehmbar gegen Entgelt Personen Cannabiskraut verkaufte und zu überlassen versuchte, indem er weitere drei Baggies Cannabiskraut zum unmittelbar bevorstehenden Verkauf bereithielt.
Die beschwerdeführende Partei führte jedoch seit Rechtskraft des Erstverfahrens ein neues, entscheidungsrelevantes, individuelles Vorbringen betreffend die Beurteilung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten an: Es ist im Herkunftsstaat nunmehr zu einer gravierenden Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban gekommen. Es ist daher nach Rechtskraft des Erkenntnisses vom 15.07.2019 von einer maßgeblichen Änderung der Sachlage aufgrund der drastischen Gewalteskalation in Verbindung mit einem Regierungswechsel auszugehen.
Der beschwerdeführenden Partei würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der nunmehr dort vorherrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und der Machtübernahme durch die Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit der beschwerdeführenden Partei wegen der zum Entscheidungszeitpunkt volatilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Der beschwerdeführenden Partei ist es daher in weiterer Folge auch nicht mehr möglich und auch nicht zumutbar, sich im Falle seiner Rückkehr in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen, insbesondere nicht, nachdem die Städte Mazar-e Sharif, Herat und Kabul neben vielen Provinzhauptstädten nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden. In der Folge ist es ihm auch nicht möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können ohne die Gefahr, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Im Falle einer Verbringung der beschwerdeführenden Partei in seinen Herkunftsstaat droht diesem ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 EMRK.
Die beschwerdeführende Partei hat in Österreich einen Vater, einen Bruder und einen Onkel sowie eine Tante. Die beschwerdeführende Partei hat seit 2017 keinen Kontakt mehr zu seiner in Afghanistan wohnhaften Mutter. Er kann einen Arbeitsvorvertrag als Verkäufer vorweisen. Die berufliche und soziale Integration der beschwerdeführenden Partei in die österreichische Gesellschaft ist noch nicht weit fortgeschritten. Die beschwerdeführende Partei hat keine Deutschkurse besucht und ist kein Mitglied in einem Verein.
Zur Lage im Herkunftsstaat schließt sich das Bundesverwaltungsgericht den Länderfeststellungen des angefochtenen Bescheides an.
Aktuelle Lage in Afghanistan (Stand 18.08.2021):
Diese kann sich aufgrund der derzeit sehr volatilen Lage im Land jederzeit rasch ändern!
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).
Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz
einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a). Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).
Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).
Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021). Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).
Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).
Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996– 2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).
Quellen:
• BAMF (16.8.2021): Briefing Notes, per Email
• bbc.com (o.D.): Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from
countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021
• Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab,
https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegen-fluchtlinge-ab, Zugriff 17.8.2021
• IOM (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email
• orf.at (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff 16.8.2021
• orf.at (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul, https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021
• orf.at (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/, Zugriff 17.8.2021
orf.at (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff 17.8.2021
• tagesschau.de (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen,
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff 16.8.2021
• UNHCR (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021
• VB – Verbindungsbeamtin des BM.I für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021): Auskunft des VB, per Email
• VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des VB, per Email
COVID-19
Letzte Änderung: 10.06.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die
Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.
who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität:
https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda759
4740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des
öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).
Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020).
Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021). Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021). Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese, wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden.
Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste
Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im
Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAXProgramm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021). Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAXProgramm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in
Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind.
Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021). Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19- Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID- 19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im AlfalahLabor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisenoder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020
im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti- Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische
Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021). Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID- 19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA
30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021). IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).
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