TE Bvwg Beschluss 2021/11/30 W186 2238724-1

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Veröffentlicht am 30.11.2021
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Entscheidungsdatum

30.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3

Spruch


W186 2238724-1/4E
W186 2238726-1/4E

W186 2238725-1/4E

W186 2238728-1/4E
W186 2238729-1/4E
W186 2238730-1/4E
W186 2238727-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch die Richterin Mag. Judith PUTZER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , 2. XXXX , geboren am XXXX , 3. XXXX , geboren am XXXX , 4. XXXX , geboren am XXXX , 5. XXXX , geboren am XXXX , 6. XXXX , geboren am XXXX , 7. XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörige von Somalia, alias Äthiopien, alle vertreten durch BBU, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.11.2020, 1. Zl. 1186940404 – 200866116, 2. Zl. 1186942409 – 200866230, 3. Zl. 1186944000 – 200866256, 4. Zl. 1186944403 – 200866302, 5. Zl. 1186944904 – 200866315, 6. Zl. 1186944708 – 200866337, 7. Zl. 1186944806 – 200866167 folgenden Beschluss:

A) Die angefochtenen Bescheide werden hinsichtlich Spruchpunkt I. aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) zur Erlassung von neuen Bescheiden an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

XXXX (Bf1) ist die leibliche Mutter der anderen Beschwerdeführer. Mit Ausnahme der Zweitbeschwerdeführerin sowie des Drittbeschwerdeführers sind die anderen Beschwerdeführer (Bf4 bis Bf7) minderjährig.

Die Beschwerdeführer reisten am 10.09.2020 legal mit einem Einreisetitel nach § 35 AsylG 2005 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 15.09.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge der am selben Tag erfolgten formularhaft durchgeführten Erstbefragung vor der Landespolizeidirektion Vorarlberg führten die Beschwerdeführer zu den Gründen ihrer Antragsstellung befragt aus, dass XXXX , geboren am XXXX , Ehemann der Bf1 sowie leiblicher Vater der Bf2 bis Bf7, über den Status eines subsidiär Schutzberechtigten verfüge, weshalb auch die Beschwerdeführer denselben Schutz wie dieser in Österreich beantragen würden. Mit Ausnahme der Bf1 sowie des Bf7, welcher von seiner Mutter als dessen gesetzliche Vertreterin vertreten wurde, gaben alle Beschwerdeführer formelhaft (mittels Ankreuzen) an, sie hätten eigene Fluchtgründe. In der niederschriftlichen Erstbefragung gaben die Beschwerdeführer weiters formelhaft (mittels Ankreuzen) zu Protokoll, mit einer Entscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl auf Basis dieser Angaben einverstanden zu sein und auf eine weitere Einvernahme zu verzichten.

Mit gegenständlichen Bescheiden des Bundesamtes vom 13.11.2020 wurde der Antrag der aller Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 15.09.2020 zwar hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihnen jedoch gem. § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und der Bf1 sowie der Bf5 die befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 01.11.2022 erteilt (Spruchpunkt III.). Den anderen Beschwerdeführern wurde ebenfalls eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, wobei das Ende der Frist im Spruch nicht festgesetzt wurde (Spruchpunkt III.). Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die Beschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht hätten und amtswegig auch keine Fluchtgründe festgestellt worden seien.

Gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide richtet sich die vorliegende Beschwerde der Beschwerdeführer. Die belangte Behörde habe das Parteiengehör der Beschwerdeführer verletzt, weil eine Einvernahme der Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu einem etwaigen Vorliegen eigener Fluchtgründe unterblieben sei. Die belangte Behörde habe keine Ermittlungen hinsichtlich der Volksgruppenzugehörigkeit der Beschwerdeführer getätigt. Die Beschwerdeführer würden einem Minderheitenclan angehören, weshalb eine asylrelevante Verfolgung vorliegen würde. Die getroffenen Länderfeststellungen seien unzureichend. Weiters habe die belangte Behörde es unterlassen, hinsichtlich der Bf4 und Bf5 zu prüfen, ob eine Beschneidung dieser bereits erfolgt sei, zumal Genitalverstümmelung asylrelevant sei. Auch das Kindeswohl sei unberücksichtigt geblieben. Die Beschwerdeführer beantragen daher die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung sowie der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide stattzugeben und den Beschwerdeführern den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

Am 18.01.2021 wurde die Beschwerde aller Beschwerdeführer inklusive der mit ihr in Bezug stehenden Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen und Beweiswürdigung

Die unter Punkt I. als Verfahrensgang dargelegten Ausführungen werden als Feststellungen der vorliegenden Entscheidung zugrunde gelegt. Diese ergeben sich aus dem unzweifelhaften Akteninhalt.

Die Beschwerdeführer wurden zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz vom 15.09.2020 durch die belangte Behörde nicht einvernommen. Dies ergibt sich ebenfalls aus dem unzweifelhaften Akteninhalt.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A)

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Nach § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. Diese Vorgangsweise setzt nach § 28 Abs. 2 Ziffer 2 voraus, dass die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

"In § 28 VwGVG 2014 ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg cit vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (Hinweis E vom 17. Dezember 2014, Ro 2014/03/0066, mwN). Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden (Hinweis E vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/22/0087, mwN). Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (Hinweis E vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0029, mwN)."

Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof in ständiger Judikatur ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer- Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (vgl. VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 m. w. N., 14.421/1996, 15.743/2000).

Die Behörde hat die Pflicht, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Die Behörde darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 10.04.2013 zu Zl. 2011/08/0169 sowie dazu Walter/Thienel, Verwaltungsverfahren Band I2, E 84 zu § 39 AVG).

Im gegenständlichen Fall liegt aus folgenden Gründen eine Mangelhaftigkeit im Sinne des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG:

Gemäß § 18 Abs. 1 1. Fall AsylG 2005 hat das Bundesamt in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

Gemäß § 19 Abs. 2 AsylG ist ein Asylwerber vom Bundesamt, soweit er nicht auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen nicht in der Lage ist, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, zumindest einmal im Zulassungsverfahren und - soweit nicht bereits im Zulassungsverfahren über den Antrag entschieden wird - zumindest einmal nach Zulassung des Verfahrens einzuvernehmen. Eine Einvernahme kann unterbleiben, wenn dem Asylwerber ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukommt (§ 12a Abs. 1 oder 3).

Bereits aus § 34 Abs. 1 AsylG ergibt sich, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen – anders als nach dem Asylerstreckungsverfahren nach dem AsylG 1997 in der Fassung BGBl. I 101/2003 – ex lege als "Antrag auf Gewährung desselben Schutzes" gilt. Die Behörde hat somit bei einem Antrag eines Familienangehörigen in jedem Fall die Bestimmungen des Familienverfahrens anzuwenden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen gesondert zu prüfen und über jeden mit gesondertem Bescheid abzusprechen ist (§ 34 Abs. 4 AsylG). Unabhängig von der konkreten Formulierung ist jeder Antrag eines Familienangehörigen überdies in erster Linie auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gerichtet. Es sind daher für jeden Antragsteller allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln. Nur wenn solche – nach einem ordnungsgemäßen, also den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden, Ermittlungsverfahren – nicht hervorkommen, ist dem Antragsteller jener Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt wurde (vgl. Putzer/Rohrböck, Asylrecht, Rz 522 ff; Frank/Anerinhofer/Filzwieser, AsylG 2005, K 13 f zu § 34; Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 2005, 496 f; Schrefler-König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht, Anm. 8 zu § 34 AsylG 2005; vgl. zur gesonderten Prüfung der Anträge von Familienangehörigen nach § 34 Abs. 4 AsylG etwa VwGH 21.10.2010, 2007/01/0164, wieder aufgenommen in VwGH 24.3.2015, Ra 2014/19/0063; 28.11.2019, Ra 2019/19/0359).

Die Einvernahme nach Zulassung des Verfahrens dient der Erforschung der Fluchtgründe, und ist auch an dieser Stelle festzuhalten, dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Angaben eines Asylwerbers im Rahmen einer Erstbefragung nicht alleinige Erkenntnisquelle für das Vorliegen von Asylgründen sein können. Gemäß § 18 Abs. 1 AsylG ist das Bundesamt zur amtswegigen Ermittlung der Fluchtgründe gehalten und präzisiert § 19 AsylG hinsichtlich der Befragung (als eine der Haupterkenntnisquellen im Asylverfahren), dass der Asylwerber persönlich von einem Organwalter des Bundesamtes einzuvernehmen ist, was im vorliegenden Beschwerdefall allerdings nicht geschehen ist. Das Bundesamt hätte eine Einvernahme auch dann durchführen müssen, wenn der jeweilige Antragsteller vermeint, keine Fluchtgründe zu haben; es ist einem rechtsunkundigen, sprachunkundigen Fremden nicht zumutbar, zu erkennen, welche Gründe zur Asylgewährung führen können und welche nicht.

Im vorliegenden Fall stützte die belangte Behörde ihre Entscheidung bezüglich der Frage des Vorliegens asylrelevanter Verfolgung der Beschwerdeführer ausschließlich auf die kurzen, formularhaften Angaben der Beschwerdeführer der niederschriftlichen Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in dem sie mittels Ankreuzen einer standardisierten Antwort angaben, keine eigenen Fluchtgründe (hinsichtlich Bf1 und Bf7) bzw. eigene Fluchtgründe (Bf2 bis Bf6) zu haben. Davon ausgehend unterließ die belangte Behörde weitere Erhebungen zu dem im vorliegenden Verfahren maßgebenden Sachverhalt und sah insbesondere davon ab, die Beschwerdeführer selbst einzuvernehmen und zu allfälligen Fluchtgründen zu befragen.

Damit übersieht die belangte Behörde jedoch, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 die Einvernahme durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung "insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden [dient] und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen [hat]". Diese Regelung bezweckt den Schutz der Asylwerber davor, sich im direkten Anschluss an die Flucht aus ihrem Herkunftsstaat vor uniformierten Staatsorganen über traumatische Ereignisse verbreitern zu müssen, weil sie unter Umständen erst vor kurzem vor solchen geflohen sind (vgl. VfGH 27.06.2012, U 98/12, unter Hinweis auf die Erläuterungen zur Regierungsvorlage, RV 952 XXII. GP, S. 44). Daraus ergibt sich auch, dass an die dennoch bei der Erstbefragung erstatteten, in der Regel kurzen Angaben zu den Fluchtgründen im Rahmen der Beweiswürdigung keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind (vgl. VfGH 20.02.2014, U 1919/2013 ua.).

Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, ist es auf dem Boden der gesetzlichen Regelung des § 19 Abs. 1 AsylG 2005 zwar weder der Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten der Erstbefragung zu späteren Angaben einzubeziehen, es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017, 0018; 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 uva).

Vor diesem Hintergrund kann auch ein bloß formelhafter Verzicht der Beschwerdeführer auf eine weitere Einvernahme in der niederschriftlichen Erstbefragung das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht von seiner in § 19 Abs. 2 AsylG 2005 normierten Verpflichtung entbinden, die gebotene ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers nur auf der Grundlage einer Einvernahme durch die Behörde selbst vorzunehmen. Das BFA hätte somit auch dann, wenn eigene Fluchtgründe in den von den Beschwerdeführern gestellten Anträgen (noch) nicht enthalten waren, das allfällige Vorliegen solcher Gründe im Wege einer Einvernahme zu prüfen gehabt. Mangels Durchführung einer Einvernahme vor dem BFA wurde den Beschwerdeführern nicht mehr die Gelegenheit zu einem diesbezüglichen Vorbringen gegeben.

Weiters ist aus den verwaltungsbehördlichen Akten ersichtlich, dass lediglich der Bf7 in Vertretung seiner Mutter (Bf1) erstbefragt wurde, obwohl die Bf4 bis Bf6 ebenfalls minderjährig sind. Mit Ausnahme der Bf1 und des Bf7, welcher von seiner Mutter vertreten wurde, gaben alle Beschwerdeführer an, eigene Fluchtgründe zu haben, zu welchen sie jedoch nicht durch die belangte Behörde gehört worden sind. Teilweise sind die im Akt befindlichen Formulare zur Erstbefragung, welche vorformuliert waren und mit Ankreuzen der zutreffenden Passagen ausgefüllt wurden, unvollständig. So ist bei der Bf6 nicht angekreuzt, welchen rechtlichen Status ihr Vater als deren Bezugsperson in Österreich habe. Hinzu kommt, dass den vorgedruckten Formularen nicht zu entnehmen ist, ob die Beschwerdeführer über die rechtlichen Folgen ihrer Angaben beraten wurden. Dass den Beschwerdeführern die Bedeutung der vorgedruckten Formulare bewusst war bzw. sie dessen Inhalt tatsächlich auch verstanden haben, und zwar im Hinblick auf den Ausgang ihrer Anträge auf internationalen Schutz, lässt sich dem Verwaltungsakt nicht zweifelsfrei entnehmen.

Vor diesem Hintergrund hätte die belangte Behörde bei Durchsicht der Akten erkennen müssen bzw. berechtigte Zweifel haben müssen, dass die Beschwerdeführer nicht über die Folgen ihrer Angaben bzw. über die Bedeutung der von ihnen gemachten Angaben ordnungsgemäß belehrt wurden, zumal es lebensfern ist, dass die Bf1 als Mutter bzw. der Bf7 als Bruder der restlichen Beschwerdeführer im Gegensatz zu diesen keine eigenen Fluchtgründe hätten.

Im vorliegenden Fall tätigte das BFA daher nicht einmal ansatzweise Ermittlungen hinsichtlich des maßgebenden Sachverhalts im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, sondern hat die Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts in Wahrheit zur Gänze an das BVwG delegiert. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass, wie auch in der Beschwerde letztlich vorgebracht, gerade Mädchen in Somalia eine asylrelevante Verfolgung aufgrund einer Genitalverstümmelung drohen kann (siehe dazu VwGH 20.06.2017, Ra 2017/01/0039 und VwGH 01.03.2018, Ra 2017/19/0545) bzw. den Beschwerdeführern aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit. Beschwerdeseitig wird gerade vorgebracht, dass die Bf4 und Bf5 nur teilweise beschnitten seien, weshalb eine asylrelevante Verfolgung nicht auszuschließen ist. Auch Ermittlungen zur Nationalität der Beschwerdeführer wurden unterlassen, zumal aktenkundig die Möglichkeit bestünde, dass die Beschwerdeführer eine asylrelevante Beziehung zu Äthiopien aufweisen könnten. Die belangte Behörde hat sogar nach Beschwerdeerhebung versucht, die Beschwerdeführer zum Zwecke der Einvernahme zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz zu laden (AS 345). Die Einvernahme wurde jedoch nie ordnungsgemäß durchgeführt, da die belangte Behörde keinen Dolmetscher erreichen konnte (AS 361-363). Allein dies lässt zweifelsfrei erkennen, dass die belangte Behörde erkannt hat, kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt zu haben und diesen Fehler womöglich im Nachhinein zu sanieren versuchte. Da letztlich kein Dolmetscher erreicht werden konnte, wurde der Akt dem BVwG zur Erhebung des maßgeblichen Sachverhalts vorgelegt bzw. an das BVwG delegiert. Auch Ermittlungen hinsichtlich der Clanzugehörigkeit sind völlig außer Acht geblieben, obwohl auch die Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan unter bestimmten Umständen asylrelevant sein könnte. Dem Bundesamt müsste aufgrund seines Amtswissens bekannt sein, dass die weibliche Genitalverstümmelung in Somalia weit verbreitet ist und nicht beschnittenen Mädchen und Frauen eine solche bei einer Rückkehr drohen könnte.

Aufgrund der angestellten Erwägungen wäre die belangte Behörde daher verpflichtet gewesen, sich mit den Anträgen der Beschwerdeführer, insbesondere mit ihren eigenen Fluchtgründen, gesondert und eingehend auseinanderzusetzen. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass mit Ausnahme der Bf1 und dem Bf7, die anderen Beschwerdeführer angaben, eigene Fluchtgründe zu haben.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetztes liegen, v.a. unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als Spezialbehörde für die Ermittlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist, und weil eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden soll.

Dass eine unmittelbare Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des BFA gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG in Spruchpunkt I. aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen.

Zusammengefasst ist sohin festzuhalten, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den entscheidungswesentlichen Sachverhalt nicht ermittelt hat. Aufgrund der Unterlassung jeglicher Ermittlungstätigkeit in Bezug auf etwaige Verfolgungsgründe des minderjährigen Beschwerdeführers hat das Bundesamt willkürlich gehandelt und daher die hinsichtlich Spruchpunkt I. angefochtenen Bescheide mit Rechtswidrigkeit belastet.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wird demnach im fortgesetzten Verfahren die oben angeführten Ermittlungen durchzuführen haben, um den entscheidungswesentlichen Sachverhalt festzustellen und eine schlüssige und nachvollziehbare Entscheidung treffen zu können.

Erst auf der Basis von diesbezüglich getätigten Erhebungen und aufgrund der nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens getroffenen Feststellungen kann eine abschließende Beurteilung der Asylrelevanz erfolgen. Diesbezüglich erweist sich der Sachverhalt in Verbindung mit der Beschwerde noch als völlig ungeklärt. Die entscheidenden Ermittlungshandlungen, welche grundsätzlich von der belangten Behörde durchzuführen sind, wären demnach nahezu zur Gänze erstmals durch das Verwaltungsgericht zu tätigen.

Hinsichtlich des Antrages auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung ist darauf hinzuweisen, dass der entscheidungsrelevante Sachverhalt - nämlich das Vorliegen von mangelhaften Ermittlungen zum entscheidungsrelevanten Sachverhalt - durch die vorliegenden Bescheide unter Bedachtnahme auf die Beschwerden feststeht und daher auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet werden kann.

Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die gegenständliche Entscheidung weicht nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (vgl. VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063; 20.05.2015, Ra 2014/20/0146; 24.11.2016, Ra 2016/07/0098). Durch die genannten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes fehlt es auch nicht an einer Rechtsprechung und die zu lösende Rechtsfrage wird in der Rechtsprechung auch nicht uneinheitlich beantwortet.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht Familienverband Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Verfolgerstaat Verfolgung aus politischen Gründen Verfolgung durch Dritte Verfolgung durch Private

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W186.2238724.1.00

Im RIS seit

07.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

07.02.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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