Entscheidungsdatum
06.12.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W102 2172939-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner ANDRÄ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Nadja LORENZ, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, vom 06.09.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.07.2021 zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschike, stellte am 25.07.2015 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung am 26.07.2015 gab der Beschwerdeführer zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, er sei verfolgt und bedroht worden von seiner Generation. Er sei Polizist gewesen und deshalb von den Taliban bedroht worden.
In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 17.05.2017 führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, sei als Polizist in Kabul tätig gewesen und habe am 15.11.1392 eine Familienstreitigkeit bearbeitet. Eine minderjährige Mutter habe sich von ihrem Mann scheiden lassen wollen. Der Beschwerdeführer sei angewiesen worden, sie in ein Frauenhaus zu bringen und den Ehemann zur Streitschlichtung zu kontaktieren. Der Beschwerdeführer sei von dem Ehemann bedroht worden. Dieser sei Talibanmitglied gewesen und habe drei weitere Ehefrauen gehabt. Zwei Monate später habe er vom Ehemann der Frau erfahren, dass es eine Gerichtsverhandlung und ein Säumnisurteil gegeben habe. Danach sei die Frau mit ihrem Kind nach Logar gezogen und vom Mann ermordet worden. Am 28.02.1393 sei der Beschwerdeführer nochmals angerufen worden, der Anrufer habe ein Wort wie „Todesschütze“ gesagt. An diesem Tag sei er mit dem Dienstfahrzeug unterwegs gewesen, dann habe ein Kollege das Fahrzeug übernommen. Als der Kollege ausgestiegen sei und sich vom Auto entfernt habe, habe der Fahrer bemerkt, dass etwas nicht passte und sei auch ausgestiegen, um unter das Fahrzeug zu sehen. Er sei von einer unter dem Auto montierten Mine im Rückenbereich verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert worden. Daraufhin habe das Telefon des Beschwerdeführers geläutet und er habe schimpfen gehört, weil sie gewusst hätten, dass er nicht tot sei. Dazwischen sei ein Verdächtiger festgenommen worden und der Beschwerdeführer habe mit seinem Vorgesetzten und dem für die Sicherheit zuständigen gesprochen. Er habe daraufhin mehrere Fälle gehabt und sei von den Häftlingen, die er ins Gefängnis geschickt habe, mit dem Tode bedroht worden. Er habe ca. 1.500 Fälle bearbeitet, die mit einer Scheidung oder kriminellen Tätigkeiten zu tun gehabt hätten. Er habe diesen Drohungen nicht mehr standhalten können und habe Angst um sein Leben gehabt.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 06.09.2017, zugestellt am 08.09.2017, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Begründend führte die belangte Behörde aus, es sei nicht glaubhaft, dass gegen den Beschwerdeführer persönlich ein Sprengstoffanschlag durchgeführt worden sei. Ein zeitlicher Zusammenhang zwischen behaupteter Bedrohung und Ausreise sei nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer habe in Kabul ein starkes soziales Netzwerk, kenne die Stadt durch seine berufliche Tätigkeit gut und verfüge über eine Schul- und Berufsausbildung und jahrelange Erfahrung in der Polizeiarbeit. Er könne nach Kabul zurückkehren oder sich in Mazar-e Sharif niederlassen.
3. Gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.09.2017 richtet sich die am 19.09.2017 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde, in der im Wesentlichen ausgeführt wird, der Beschwerdeführer halte seine Aussage inhaltlich aufrecht, aus seinem Vorbringen ergebe sich ein Fluchtgrund. Er sei seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen und habe wahrheitsgemäße Angaben gemacht. Er sei von den Taliban bedroht worden, weil er seiner Tätigkeit als Polizeibeamter nachgegangen sei.
Am 31.01.2019 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein, in der im Wesentlichen ausgeführt wird, der Beschwerdeführer werde aufgrund seiner Tätigkeit als Polizist in Afghanistan von den Taliban verfolgt. Das von der belangten Behörde durchgeführte Verfahren sei mangelhaft. Der Beschwerdeführer sei verwestlicht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei unzumutbar. Der Beschwerdeführer sei mittlerweile mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet.
Am 13.07.2021 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein, in der im Wesentlichen ausgeführt wird, dass die für die Beschwerdeführer erforderliche medizinische Versorgung in Afghanistan nicht sichergestellt sei.
Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 16.07.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, sein bevollmächtigter Rechtsvertreter, zwei Vertrauenspersonen des Beschwerdeführers und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.
Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und seiner Rückkehrsituation befragt und hielt sein Vorbringen, er werde wegen seiner Tätigkeit als Polizist von den Taliban verfolgt, im Wesentlichen aufrecht.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.10.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der bis dahin zugewiesenen Gerichtsabteilung abgenommen und in der Folge der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.
Am 02.12.2021 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein, in der im Wesentlichen ausgeführt wird, aktuelle Berichte würden eine systematische Verfolgung regierungsnaher Personen, insbesondere solcher, die dem Sicherheitsbereich zuzuordnen gewesen seien, durch die Taliban nahelegen. Es werde von schweren Vergeltungsmaßnahmen berichtet. Verwiesen wird hierzu unter anderem auf die aktuelle EASO, Country Guidance: Afghanistan von November 2021 und das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Version 5, Stand 16.09.2021. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr nach Kabul in das Visier der Taliban gerate. Ihm drohe asylrelevante Verfolgung. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei nicht verfügbar.
Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Fotos
? Deutschkursbestätigungen
? Bestätigung über ehrenamtliche Tätigkeit
? Empfehlungsschreiben
? Gemeinnützige Tätigkeit
? Afghanischer Führerschein
? Polizeiausweis
? Tazkira
? Schulabschlussbestätigung
? Dienstkarte
? Medizinische Unterlagen
? Heiratsurkunde, Auszug aus dem Heiratseintrag
? Teilnahmebestätigungen für Deutschkurse
? Integrationsprüfungszeugnis A2
? Integrationsprüfungszeugnis A1
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, geboren im Jahr XXXX und ist Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er versteht auch Paschtu und spricht Deutsch auf dem Niveau A2 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer leidet an einer Arteriovenösen Malformation (angeborene Fehlbildung von Hirngefäßen). Damit einher gehen generalisierte epileptische Anfälle. Der Beschwerdeführer erhält deshalb eine antiepileptische Medikation. Außerdem besteht die Gefahr einer Hirnblutung und die Indikation zur Embolisation (künstlicher Verschluss von Blutgefäßen). Konkretes Ausmaß und Dauer der erforderlichen Behandlung (etwa Anzahl der neurochirurgischen Eingriffe, anschließende Behandlung, etc.) ist noch nicht abschätzbar. Pandemie-bedingt können die erforderlichen Eingriffe aktuell nicht durchgeführt werden.
Der Beschwerdeführer ist zudem Träger von Hepatitis B.
Die Familie des Beschwerdeführers stammt aus Kapisa. Der Beschwerdeführer wurde in einem Dorf in der Provinz Kapisa, Distrikt Nirjab geboren, wuchs jedoch in Kabul auf und hat dort zwölf Jahre die Schule besucht. Anschließend bewarb er sich bei der Polizei und war nach der Grundausbildung bis zu seiner Ausreise als Polizist in Kabul tätig. Der Beschwerdeführer hat zwei Brüder und eine Schwester. Auch der Vater des Beschwerdeführers war als Polizist tätig.
In Österreich hat der Beschwerdeführer laufend Deutschkurse besucht und auch informelle Lern- und Integrationsangebote wahrgenommen. Außerdem war der Beschwerdeführer in seiner Asylunterkunft ehrenamtlich als Reinigungskraft tätig und hat gemeinnützige Hilfstätigkeiten geleistet. Der Beschwerdeführer hat die Integrationsprüfung für das Niveau A1, sowie für das Niveau A2 bestanden. Auch zuletzt hat er einen Deutschkurs besucht.
Am 21.11.2018 hat der Beschwerdeführer geheiratet und lebt im Haushalt mit seiner Ehefrau und seinen Schwiegereltern. Er hat sich zudem in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer war in Afghanistan ab etwa dem Jahr 2001 bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 als Polizeibeamter in Kabul tätig und hat zuletzt Familienstreitigkeiten bearbeitet bzw. war im Bereich Gewaltschutz tätig.
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv und haben Afghanistan von 1996 bis 2001 regiert. Seit 2001 haben sie einige Grundprinzipien bewahrt, u. a. eine strenge Auslegung des Scharia-Rechts in den von ihr kontrollierten Gebieten.
Seit dem Beginn des Abzuges internationaler Truppen am 01.05.2021 konnten die Taliban ihre Gebietskontrolle zunehmend ausweiten. So standen am 03.06.2021 90 Distrikte unter ihrer Kontrolle, während sich mit Stand 19.07.2021 229 Distrikte in Händen der Taliban befanden. Im Juli wurden auch wichtige Grenzübergänge erobert. Ende Juli/Anfang August kämpfte die Regierung gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gar und Kandahar. Im August 2021 beschleunigte sich der Vormarsch der Taliban, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen. Am 15.08.2021 haben die Taliban größtenteils friedlich Kabul eingenommen, alle Regierungsgebäude und Checkpoints der Stadt besetzt, den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Der afghanische Präsident war zuvor außer Landes geflohen. Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten.
Mit dem Vormarsch der Taliban haben Kampfhandlungen und konfliktbedingte Todesopfer drastisch zugenommen. Zwischen 01.01.2021 und 30.06.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Mitte August wurden über 3.750 zivile Opfer dokumentiert. Im Mai und Juli führte die Zunahme von Kampfhandlungen zu über 23.000 konfliktbezogenen Vorfällen, das sind beinahe doppelt so viele wie im Zeitraum Jänner bis April. Im Jahr 2021 wurden 550.000 Menschen intern vertrieben, 400.000 davon zwischen 01.05.2021 und Mitte August. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen. Im August und September kam es zu Lokalen Kampfhandlungen, z.B. in Maidan Wardak und Daikundi. Anfang September kam es zudem zu schweren Kampfhandlungen im Panjshir-Tal, das die Taliban schließlich einnahmen.
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden. Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Es kam im Zuge des Vormarsches zu Massenexekutionen an ehemaligen und aktiven ANDSF-Mitgliedern. Ehemalige ANDSF-Mitglieder und frühere Polizeikräfte zählen zu den besonders vulnerablen Personengruppen, weil diese direkt in Kämpfe gegen die Taliban involviert waren.
Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Insbesondere Befehlshaber von Polizei und Sicherheitskräften werden landesweit gesucht.
Die Taliban verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält, aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte.
Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zu Identität, Staatsangehörigkeit, Volkgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache und sonstigen Sprachkenntnissen des Beschwerdeführers beruhen auf seinen gleichbleibenden und plausiblen Angaben im Lauf des Verfahrens, die auch die belangte Behörde ihrer Entscheidung zugrunde legte. Zu seinen Deutschkenntnissen hat der Beschwerdeführer sein Integrationsprüfungszeugnis für das Niveau A2 in Vorlage gebracht (OZ 13).
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer unbescholten ist, beruht auf dem im Akt einliegenden aktuellen Auszug aus dem Strafregister.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beruhen auf den hierzu vorgelegten umfassenden medizinischen Unterlagen (OZ 9, OZ 10), die im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 16.07.2021 auch mit einer fachkundigen Zeugin erläutert wurden (OZ 14, S. 12 ff.).
Die Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat beruhen auf den gleichbleibenden und plausiblen Angaben des Beschwerdeführers im Lauf des Verfahrens. Im Hinblick auf seine Tätigkeit als Polizist wird zudem auf die Beweiswürdigung zum Fluchtvorbringen verwiesen.
Zu seinen Deutschkursen hat der Beschwerdeführer Teilnahmebestätigungen vorgelegt (AS 105-109; OZ 13), ebenso zu ehrenamtlicher (AS 111; OZ 13) und gemeinnütziger Tätigkeit (AS 117-121). Zu den wahrgenommenen informellen Lern- und Integrationsangeboten hat der Beschwerdeführer Empfehlungsschreiben in Vorlage gebracht (AS 113-115). Auch die Integrationsprüfungszeugnisse des Beschwerdeführers sind aktenkundig (OZ 13), ebenso die Heiratsurkunde des Beschwerdeführers (OZ 13) und war seine Ehefrau zudem als Vertrauensperson in der mündlichen Verhandlung am 16.07.2021 anwesend. Zum Freundes- und Bekanntenkreis des Beschwerdeführers sind mehrere Empfehlungsschreiben aktenkundig (OZ 13).
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Dass der Beschwerdeführer mehrere Jahre als Polizeibeamter in Kabul tätig war, hat auch die belangte Behörde nicht in Zweifel gezogen. So stellt diese fest, der Beschwerdeführer habe eine Ausbildung bei der afghanischen Polizei absolviert (AS 272) und außerdem, dass der Beschwerdeführer über umfassende Berufserfahrung im Polizeidienst verfügt (AS 273). Weiter hat der Beschwerdeführer diverse Unterlagen zu seinem Polizeidienst vorgelegt, darunter auch seinen Dienstausweis (AS 127) und zahlreiche Fotos (AS 43 ff.). Auch seinen Tätigkeitsbereich hat der Beschwerdeführer gleichbleibend angegeben und im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 16.07.2021 sowie im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 17.05.2017 auch relativ detaillierte Angaben zu seiner Tätigkeit gemacht. Zudem hat der Beschwerdeführer im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme am 17.05.2017 diverse Unterlagen zu Fortbildungen zum Thema Familienprobleme, Gewalt in der Familie, etc. vorgelegt. Auch die belangte Behörde legt die vom Beschwerdeführer bei der Polizei absolvierten Ausbildungen im Übrigen ihrer Entscheidung zugrunde (AS 273).
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat sowie der aktuellen Verfolgungspraxis der Taliban beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 5, Stand 16.09.2021, insbesondere Kapitel Politische Lage und Sicherheitslage, dem EASO COI Report: Afghanistan. Security situation von September 2021 und dem COI Report: Afghanistan Recent developments in the security situation, impact on civilians and targeted individuals des Danish Immigration Service von September 2021, insbesondere Kapitel Targeted individuals, Abschnitt Members of ANDSF and pro-government militias, S. 23.
Zur Plausibilität und Seriosität der herangezogenen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsstaat ist auszuführen, dass die im Länderinformationsblatt zitierten Unterlagen von angesehen Einrichtungen stammen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Auch das European Asylum Support Office (EASO) ist nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgende Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet. Damit durchlaufen die länderkundlichen Informationen, die diese Einrichtungen zur Verfügung stellen, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat. Den UNHCR-Richtlinien ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung"), wobei diese Verpflichtung ihr Fundament auch im einschlägigen Unionsrecht findet (Art. 10 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 2013/32/EU [Verfahrensrichtlinie] und Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]; VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114) und der Verwaltungsgerichtshof auch hinsichtlich der Einschätzung von EASO von einer besonderen Bedeutung ausgeht und eine Auseinandersetzung mit den „EASO-Richtlinien“ verlangt (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405). Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich daher auf die angeführten Länderberichte.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zur Stattgebung der Beschwerde
Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.
Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Art. 6 Statusrichtlinie definiert als Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann, den Staat (lit. a), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (lit. b) und nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedeutet Staatlichkeit der Verfolgung den Missbrauch einer aus der Gebietshoheit folgenden Herrschaftsmacht zum Zweck der Verfolgung oder, bei Vornahme von Verfolgungshandlungen durch Private, die Nichtausübung der Gebietshoheit zum Schutz vor Verfolgung (VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).
Nach dem gemäß § 2 Abs. 1 Z 12 AsylG unmittelbar anwendbaren Art. 10 Abs. 1 lit. e Statusrichtlinie ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 Statusrichtlinie genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgesprochen, dass als politisch alles qualifiziert werden kann, was für den Staat, für die Gestaltung bzw. Erhaltung der Ordnung des Gemeinwesens und des geordneten Zusammenlebens der menschlichen Individuen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist (VwGH 30.09.2004, 2002/20/0293 m.w.N.; siehe auch Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 3 AsylG, K51).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeine Gefahr eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, so hat jedes einzelne Mitglied schon aufgrund seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten. Diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (zuletzt VwGH 28.03.2019, Ra 2018/14/0428 mwN).
Nach der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes reicht für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung aus, dass eine solche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird (vgl. etwa VwGH 06.05.2004, 2002/20/0156).
Gegenständlich konnte der Beschwerdeführer glaubhaft machen, dass er über zehn Jahre als Polizist in Kabul tätig war.
Zunächst gingen bereits die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender von 30.08.2018 (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, Buchstabe b) Zivile Polizeikräfte (einschließlich Angehörigen der ANP und ALP) sowie ehemalige Angehörige der ANDSF, S. 47-48 und Buchstabe l) Zusammenfassung, S. 55) davon aus, dass für (ehemalige) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor dieser Verfolgung zu bieten, bestehen kann. Auch die aktuelle EASO Country Guidance: Afghanistan von November 2021 verweisen auf die bisherige Verfolgungspraxis der Taliban gegen Angehörige der ANDSF, die bisher „prority target“ der Taliban gewesen seien. Zudem weist EASO auf die widersprüchliche und unzureichende Informationslage zu den aktuellen Strategien und Maßnahmen der Taliban hin, die eine Risikoabschätzung erschweren. EASO geht jedoch davon aus, dass unter anderem für ehemalige Angehörige der ANDSF eine Verfolgungsgefahr bestehen kann. Bei der Beurteilung des individuellen Risikos müssen die erhöhte Präsenz und Kapazität der Taliban, Individuen anzugreifen, berücksichtigt werden. Auf Grundlage der bisherigen Verfolgung und Anzeichen für fortgesetzte Angriffe geht EASO im Hinblick auf Personen, die von den Taliban bisher als „priority target“ betrachtet wurden, davon aus, dass eine Verfolgungsgefahr aus Gründen der politischen Gesinnung besteht (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel 2.1 Persons affiliated with the former Afghan government, S. 58-60).
Wie sich aus den Feststellungen ergibt, umfasst die Verfolgungspraxis der Taliban seit ihrer Machtübernahme auch ein Vorgehen gegen ehemalige Angehörige der ANDSF. Zudem verfügen die Taliban über neue technische Möglichkeiten, um ehemalige Mitarbeiter der Regierung bzw. der Sicherheitskräfte aufzuspüren und ist der Umfang ihres Zugriffes auf die Datenbanken der ehemaligen afghanischen Regierung unklar. Es gibt auch Hinweise auf „Todeslisten“. Dementsprechend weist auch UNHCR in seiner jüngsten Position zur Rückkehr nach Afghanistan von August 2021 darauf hin, dass die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen auch bei Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung in Verbindung stehen oder standen, besteht. Unter Berücksichtigung der langjährigen Tätigkeit des Beschwerdeführers als Polizist in Kabul scheint eine Furcht des Beschwerdeführers vor einer Verfolgung durch die Taliban aus Gründen der politischen Gesinnung damit gerechtfertigt.
Weiter kontrollieren die Taliban mittlerweile im Wesentlichen das gesamte Staatsgebiet und ist damit einerseits von staatlicher Verfolgung im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auszugehen und andererseits eine innerstaatliche Fluchtalternative iSd § 11 AsylG 2005 für den Beschwerdeführer nicht verfügbar.
Das Vorliegen eines Ausschlussgrundes gemäß § 6 AsylG 2005 ist gegenständlich nicht ersichtlich.
3.2. Zur Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers
Der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass § 3 Abs. 4 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016 nach § 75 Abs. 24 AsylG 2005 auf Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz vor dem 15.11.2015 gestellt haben, nicht anzuwenden ist. Nachdem der Beschwerdeführer seinen Antrag auf internationalen Schutz am 25.07.2015 gestellt hat, ist § 3 Abs. 4 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016 daher nicht anzuwenden.
Dem Beschwerdeführer war daher spruchgemäß nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Ihm kommt damit unmittelbar kraft Gesetzes (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373) eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu.
3.3. Zum Absehen von einer (erneuten) mündlichen Verhandlung
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Gegenständlich hat das Bundesverwaltungsgericht am 16.07.2021 bereits eine mündliche Verhandlung und den Beschwerdeführer umfassend zu Fluchtgründen und Lebensverhältnissen befragt. In der Folge wurde die gegenständliche Rechtssache jedoch mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.10.2021 der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer Verhandlung nicht (zwingend) erforderlich, wenn das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung ohnehin die eigenen Angaben des Fremden und die zu seinen Gunsten sprechenden Umstände zugrunde gelegt hat (VwGH 14.04.2021, Ra 2020/22/0257).
Gegenständlich ist unstrittig, dass der Beschwerdeführer mehrere Jahre in Kabul als Polizeibeamter gearbeitet hat. Auch die belangte Behörde ging bereits von diesem Sachverhalt aus. Der maßgebliche Sachverhalt ist damit aus der Aktenlage geklärt und insbesondere nicht erforderlich, sich im Zuge einer neuerlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Eine neuerliche mündliche Verhandlung konnte somit unterbleiben.
4. Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG vorliegt. Die Revision ist nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht folgt der unter 3. Umfassend zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
Schlagworte
asylrechtlich relevante Verfolgung gesamtes Staatsgebiet politische Gesinnung Polizist wohlbegründete FurchtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W102.2172939.1.00Im RIS seit
07.02.2022Zuletzt aktualisiert am
07.02.2022