TE Vfgh Erkenntnis 2021/11/30 E3440/2021

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Veröffentlicht am 30.11.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AVG §68 Abs1
AsylG 2005 §8, §15b
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung eines Antrags auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und wegen Anordnung der Unterkunftnahme betreffend einen Staatsangehörigen von Indien; mangelnde Auseinandersetzung mit der (vom Heimatstaat beantragten) Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafverfolgung

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache und gegen die Anordnung der Unterkunftnahme abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein indischer Staatsangehöriger und stellte am 21. März 2019 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er wegen seiner Zugehörigkeit zur Khalistan-Bewegung verfolgt worden sei. Nach rechtskräftigem negativen Abschluss des Verfahrens über seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte der Beschwerdeführer am 9. März 2020 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, wobei er seine bisherigen Gründe aufrecht erhielt und ergänzend vorbrachte, dass er von der Polizei mit den am 4. September 2019 in Tarn Taran verübten Anschlägen in Verbindung gebracht werde und er bei einer Rückkehr nach Indien befürchte, von der Polizei festgenommen und misshandelt zu werden. Er habe auch Angst davor, dass er von Mitgliedern der gegnerischen Religion Shiv Sena getötet werde.

2. Mit Bescheid vom 29. Mai 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag hinsichtlich des Status des Asylberechtigten sowie des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I. und II.). Schließlich wurde dem Beschwerdeführer gemäß §15b Abs1 AsylG 2005 aufgetragen, ab 9. März 2020 durchgehend in einem bestimmten bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 27. Juli 2021 als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Wesentlichen aus, dass seit dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens keine Sachverhaltsänderungen eingetreten seien und dem neuen Vorbringen des Beschwerdeführers kein glaubhafter Kern innewohne. Insbesondere werde nach dem Beschwerdeführer in Indien auch nicht wegen einer Straftat gefahndet.

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Darin bringt der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes ein Auslieferungsverfahren nach Indien zur Strafverfolgung auf Basis eines Auslieferungsersuchens der indischen Behörden anhängig sei.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache und gegen die Anordnung der Unterkunftnahme richtet, ist sie begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

2.1. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind angesichts eines Folgeantrages im Asylverfahren Sachverhaltsänderungen nicht nur in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, sondern auch in Bezug auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einer Prüfung zu unterziehen (zB VfSlg 19.466/2011, 19.642/2012). Das Bundesverwaltungsgericht hat das Vorbringen des Asylwerbers auch dahingehend zu prüfen, ob ein erstmals vorgebrachter Fluchtgrund, soweit er sachverhaltsändernde Elemente enthält, einen glaubhaften Kern aufweist und ob er im Lichte des Art3 EMRK einer Rückführung aktuell entgegensteht (vgl zB VfGH 9.10.2018, E1297/2018 ua; 28.11.2019, E2006/2019 ua mwN).

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht begründet die angefochtene Entscheidung in Bezug auf die Zurückweisung wegen entschiedener Sache gemäß §68 Abs1 AVG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten insbesondere damit, dass nach dem Beschwerdeführer in Indien nicht wegen einer Straftat gefahndet werde, sodass nach seiner Rückkehr die Gefahr einer Festnahme nicht bestehe.

2.3. Mit Schreiben vom 25. Mai 2021 – und damit vor der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes – beantragten die indischen Behörden die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafverfolgung. Das Landesgericht Linz hat mit Beschluss vom 13. August 2021, Z 18 HR 77/21w, – sohin nach dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27. Juli 2021 – die Auslieferung für zulässig erachtet, wobei der Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss ein Rechtsmittel erhoben hat. Es ist anzumerken, dass sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Entscheidung bereits in Auslieferungshaft befunden hat.

2.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht das diesbezügliche Vorbringen des Beschwerdeführers für unglaubwürdig erachtet und die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen hat, hat es sein Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl VfGH 7.10.2021, E2372/2021).

B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit seine Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache und gegen die Anordnung der Unterkunftnahme abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 des BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B-VG zur Entscheidung abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, res iudicata, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung, Auslieferung, Strafrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3440.2021

Zuletzt aktualisiert am

07.02.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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