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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
ABGB §1332Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, in der Revisionssache des M M, vertreten durch Dr. Bettina Windisch-Altieri, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Heinrichsgasse 4/5, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Mag. Nora Huemer-Stolzenburg, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Schüttaustraße 69/46, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Dezember 2019, W122 2216649-1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
I. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird abgewiesen.
II. Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 In der gegenständlichen Asylangelegenheit wurde dem Revisionswerber mit hg. Beschluss vom 17. Februar 2020, Ra 2020/18/0049-2, die Verfahrenshilfe zur Erhebung einer außerordentlichen Revision gegen das oben angeführte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) bewilligt.
2 Mit Bescheid vom 21. Februar 2020 bestellte die Rechtsanwaltskammer Wien die Verfahrenshelferin als Rechtsvertreterin.
3 Am 11. Juni 2020 wurde die vorliegende außerordentliche Revision beim BVwG eingebracht. Zur Rechtzeitigkeit führt sie aus, der Bescheid der Rechtsanwaltskammer Wien vom 21. Februar 2020 sei der Verfahrenshelferin am 2. März 2020 zugestellt worden. Die Revisionsfrist sei am 22. März 2020 noch offen gewesen und habe daher gemäß dem COVID-19-VwBG am 1. Mai 2020 neu zu laufen begonnen, sodass die Einbringung der Revision rechtzeitig erfolgt sei.
4 Mit Eingabe vom 9. Dezember 2021 äußerte sich der Revisionswerber über Vorhalt des Verwaltungsgerichtshofes erneut zur Rechtzeitigkeit der Revision und brachte vor, anders als im Fall, der dem Beschluss VwGH 17.3.2021, Ra 2020/11/0098, zugrunde gelegen sei, erfolge im vorliegenden Fall die Erhebung der Revision sehr wohl in einem beim Verwaltungsgerichtshof bereits anhängigen Verfahren, weil hier vor Revisionserhebung bereits ein Antrag auf Verfahrenshilfe gestellt worden sei, sodass die Revisionsfrist gemäß dem COVID-19-VwBG nicht bloß gehemmt, sondern unterbrochen worden und die Revision rechtzeitig eingebracht worden sei.
5 Vorsorglich stellte der Revisionswerber in dieser Eingabe auch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist. Die Rechtsvertreterin des Revisionswerbers sei zu der Rechtsauffassung, dass es im vorliegenden Fall zu einer Unterbrechung der Revisionsfrist gekommen sei, aufgrund einer „rechtlichen Auseinandersetzung mit den Bestimmungen des COVID-19-VwBG“ gekommen. Ihre Rechtsansicht, dass bereits mit der Stellung eines Antrages auf Verfahrenshilfe das außerordentliche Revisionsverfahren als beim Verwaltungsgerichtshof anhängig anzusehen sei, werde formal dadurch bestätigt, dass das Revisionsverfahren unter derselben Geschäftszahl wie das Verfahren über den Antrag auf Verfahrenshilfe (weiter-)geführt werde. Der Rechtsvertreterin könne nicht der Vorwurf gemacht werden, dass sie ein auffallend sorgloses oder besonders nachlässiges Verhalten zu dieser Auffassung gelangen hätte lassen.
6 Zu Spruchpunkt I:
7 Gemäß § 46 Abs. 1 VwGG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, dass sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.
8 Die Frist zur Erhebung der Revision wurde versäumt (vgl. unten zu Spruchpunkt II.).
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat eine Partei, die einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung einer Frist stellt, den behaupteten Wiedereinsetzungsgrund im Wiedereinsetzungsantrag glaubhaft zu machen. Das Vorliegen von Wiedereinsetzungsgründen ist nur im Rahmen der Behauptungen des Wiedereinsetzungswerbers zu untersuchen (vgl. etwa VwGH 10.9.2020, Ra 2020/14/0230, mwN).
10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann auch mangelnde Rechtskenntnis oder ein Rechtsirrtum ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstellen, welches eine Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen kann. Wird ein solcher Wiedereinsetzungsgrund geltend gemacht, ist im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob die Partei an der Unkenntnis der Rechtslage bzw. am Rechtsirrtum ein über den minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden trifft (vgl. etwa VwGH 20.10.2015, Ra 2015/18/0190, mwN).
11 Der Begriff des minderen Grades des Versehens ist dabei als leichte Fahrlässigkeit im Sinn des § 1332 ABGB zu verstehen. Der Wiedereinsetzungswerber darf also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht in besonders nachlässiger Weise außer Acht gelassen haben. Das Verschulden des Parteienvertreters trifft nach ständiger Rechtsprechung die von diesem vertretene Partei, wobei an berufliche und rechtskundige Parteienvertreter ein strengerer Maßstab anzulegen ist als an rechtsunkundige Personen (vgl. etwa VwGH 17.2.2021, Ra 2021/20/0004, mwN).
12 Unkenntnis einer neuen Gesetzeslage durch einen beruflichen Parteienvertreter stellt in der Regel keinen minderen Grad des Versehens dar, weil vor allem eine rezente Änderung der Rechtslage besondere Aufmerksamkeit verdient (vgl. VwGH 26.4.2018, Ra 2018/21/0030, mwN).
13 Wie der Verwaltungsgerichtshof (vgl. VwGH 25.8.2021, Ro 2020/05/0024, 0025) bereits ausgesprochen hat, lässt der Umstand, dass zum Zeitpunkt der Revisionserhebung noch keine hg. Rechtsprechung dazu vorlag, ob die Frist zur Einbringung einer Revision im Sinn des § 1 Abs. 1 COVID-19-VwBG „unterbrochen“ oder im Sinn des § 2 Abs. 1 leg. cit. „gehemmt“ ist, auf dem Boden der dargestellten Rechtsprechung für sich noch nicht auf einen bloß minderen Grad des Versehens schließen; ein Parteienvertreter, der sich in der Revision zur Beurteilung der Rechtzeitigkeit ohne nähere Begründung auf § 1 Abs. 1 COVID-19-VwBG gestützt hat, hätte § 2 Abs. 1 leg. cit. nicht außer Acht lassen dürfen.
14 Am Vorliegen eines nicht bloß minderen Grades des Versehens ändert auch der im Wiedereinsetzungsantrag hervorgehobene Umstand nichts, dass vor Erhebung der Revision einem Antrag auf Gewährung von Verfahrenshilfe stattgegeben wurde. Denn die Rechtsansicht der einschreitenden Rechtsvertreterin, bereits mit der Stellung eines Antrages auf Verfahrenshilfe sei das außerordentliche Revisionsverfahren als beim Verwaltungsgerichtshof anhängig anzusehen, ist unzutreffend (siehe dazu näher Rn. 18). Insbesondere konnte diese Rechtsansicht nicht ohne ein Versehen, das einen minderen Grad überschreitet, daraus abgeleitet werden, dass das Revisionsverfahren unter derselben Geschäftszahl wie das Verfahren über den Antrag auf Verfahrenshilfe (weiter-)geführt werde, zumal es sich bei der Vergabe von Geschäftszahlen lediglich um einen Akt der Justizverwaltung handelt, der keine Rückschlüsse auf die rechtliche Zuordnung der einzelnen Verfahrensarten zulässt.
15 Da das dem Antragsteller zuzurechnende Verschulden seiner Rechtsvertreterin somit den minderen Grad des Versehens übersteigt, war der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 46 Abs. 1 VwGG abzuweisen.
16 Zu Spruchpunkt II:
17 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 17. März 2021, Ra 2020/11/0098, ausgesprochen, dass die Erhebung der Revision nicht in einem bei ihm bereits anhängigen Verfahren erfolgt sei, sodass auf einen solchen Sachverhalt die Fristunterbrechung des § 1 COVID-19-VwBG nicht zur Anwendung gelangt. Vielmehr sei die Revisionsfrist als Frist für einen verfahrenseinleitenden Antrag iSd § 2 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 2 COVID-19-VwBG anzusehen und nach dieser Bestimmung daher für die dort genannte Dauer nur gehemmt worden.
18 Im Beschluss vom 14. Oktober 2021, Ra 2019/19/0548, hat der Verwaltungsgerichtshof weiters ausgesprochen, nichts anderes könne in jenen Fällen gelten, in denen vor Einbringung der Revision ein Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe gestellt wurde. Auch wenn ein solcher Antrag beim Verwaltungsgerichtshof zu stellen ist und dieser über die Gewährung von Verfahrenshilfe entscheidet, ändert das nichts daran, dass erst mit der Einbringung der Revision das Revisionsverfahren eingeleitet wird. Mit dem über den Verfahrenshilfeantrag ergehenden Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes ist das Verfahren über die Verfahrenshilfe abgeschlossen. Wird in der Folge (etwa nach Abweisung des Verfahrenshilfeantrages) keine Revision erhoben, gibt es kein Revisionsverfahren und kann auch nicht von einem „anhängigen Verfahren“ vor dem Verwaltungsgerichtshof die Rede sein. Die (auch) nach einer stattgebenden Entscheidung über einen Verfahrenshilfeantrag erhobene Revision unterscheidet sich nur in Hinblick auf den abweichenden Beginn der Revisionsfrist von der ohne vorherigen Verfahrenshilfeantrag eingebrachten Revision, sodass auch in diesem Fall nicht von einem „anhängigen Verfahren“ gesprochen werden kann.
19 Die Sach- und Rechtslage des vorliegenden Revisionsfalles ist in den maßgeblichen Punkten mit jener der genannten Beschlüsse vergleichbar, weshalb gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz iVm Abs. 9 VwGG auf die Begründung dieser Beschlüsse verwiesen wird.
20 Aus dem Gesagten folgt, dass im vorliegenden Fall die Revisionsfrist am 2. März 2020 zu laufen begann und für die Zeit vom 22. März 2020 bis 30. April 2020 gehemmt war (vgl. § 2 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 2 COVID-19-VwBG).
21 Ausgehend vom Beginn der Revisionsfrist am Montag, dem 2. März 2020, hätte die sechswöchige Frist des § 26 Abs. 1 VwGG mit Ablauf des Montags, 13. April 2020, geendet (§ 32 Abs. 2 AVG). Unter Hinzurechnung der 40-tägigen Fristhemmung vom 22. März 2020 bis 30. April 2020 hat die Revisionsfrist im vorliegenden Fall erst mit Ablauf des 25. Mai 2020 geendet.
22 Die am 11. Juni 2020 eingebrachte Revision erweist sich daher als verspätet und war somit gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 18. Jänner 2022
Schlagworte
Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020180049.L00Im RIS seit
07.02.2022Zuletzt aktualisiert am
15.02.2022