TE Bvwg Erkenntnis 2021/12/1 W267 2171044-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.12.2021
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Entscheidungsdatum

01.12.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W267 2171044-2/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. ESSL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, em. RA Dr. Lennart Binder sowie RA Dr. Alois Eichinger, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.07.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.10.2020 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 09.07.2020 wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Sämtliche übrigen Spruchpunkte betreffend wird der Bescheid vom 09.07.2020 in Erledigung der Beschwerden behoben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 02.12.2022 erteilt.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Vorverfahren

1.1.    Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 15.04.2016 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz.

1.2.    In der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 16.04.2016 gab der Beschwerdeführer unter anderem an, afghanischer Staatsangehöriger und aus der Provinz Kabul zu sein. Befragt dazu, warum er seinen Heimatstaat verlassen hätte, gab er an, er habe Afghanistan aufgrund von Feindschaften verlassen. Sein Vater habe gemeinsam mit einem Bekannten namens XXXX einen Autohandel betrieben, wo der Beschwerdeführer als Buchhalter tätig gewesen sei. Er sei von dem Bekannten seines Vaters bedroht worden, weil dieser Geld gewollt habe. Zu seinen Familienangehörigen befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass seine Eltern, sieben Brüder und eine Schwester sowie seine Verlobte in Afghanistan leben würden. Sein Bruder Ahmad Jawed sei verstorben.

1.3.    Am 21.06.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge auch: BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, in der Provinz Kabul, Distrikt Paghman, geboren und aufgewachsen zu sein. Seine Verlobte lebe in der Stadt Kabul, ebenso wie seine Schwester, sein Schwager und seine Mutter. Alle acht Brüder des Beschwerdeführers seien getötet worden. Zu den Gründen seiner Ausreise im Jahr 2015 befragt, brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, der oben erwähnte Bekannte seines Vaters, welcher Teilhaber am Autohandel war, habe das Grundstück, das Haus und die Autos, die im Besitz der Familie des Beschwerdeführers gewesen seien, mit einem gefälschten Dokument an sich reißen wollen und darüber hinaus behauptet, die Familie des Beschwerdeführers schulde ihm Geld. Jener XXXX sei zudem der Neffe von XXXX , einem Kriegsherrn, der sowohl mit dem Staat als auch den Taliban kooperiere. Der Beschwerdeführer und sein Bruder Jawed seien am 20.10.2015 von dessen Bodyguards verprügelt worden, der Beschwerdeführer habe in der Folge sogar im Krankenhaus behandelt werden müssen. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus sei der Beschwerdeführer von XXXX Männern mitgenommen und 40 Tage festgehalten worden. Man habe von ihm die Originaldokumente betreffend die Grundstücke seiner Familie gefordert. Der Beschwerdeführer sei freigelassen worden, als er sich damit einverstanden erklärt habe, diese Dokumente herbeizuschaffen. Er sei mit einer Augenbinde versehen in einer wüstenähnlichen Gegend ausgesetzt und von einem Hirten gefunden worden, der ein Mietfahrzeug organisiert habe, mit dem der Beschwerdeführer nach Hause gefahren sei. Dort sei ihm erzählt worden, dass sein Bruder Jawed von unbekannten Personen ermordet worden sei. Der Beschwerdeführer habe sich dann mit seiner Familie besprochen, welche beschlossen habe, dass es für die anderen Familienangehörigen besser wäre, wenn er wegginge. Sein Bruder Nahim habe daraufhin einen Schlepper organisiert und der Beschwerdeführer sei mit seiner Tazkira von Kabul nach Herat geflogen, wo er in eine Schlepperunterkunft und von dort nach Pakistan gebracht worden sei. Zwei Monate nach der Ausreise des Beschwerdeführers seien sein Vater und seine Brüder von Unbekannten getötet worden, seine Mutter sei in dieser Nacht nicht zu Hause, sondern beim Onkel des Beschwerdeführers gewesen und habe daher überlebt.

1.4.    Das BFA wies mit Bescheid vom 30.08.2017, Zl.: XXXX , den (ersten) Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Für eine freiwillige Ausreise wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt IV.).

1.5.    Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, die jedoch vom Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG) mit Erkenntnis vom 29.01.2019, Zl. W135 2171044-1/14E, abgewiesen wurde. Dieses Erkenntnis wurde mit 07.02.2019 rechtskräftig.

Im Rahmen der Beweiswürdigung hielt das BVwG im oberwähnten Verfahren unter anderem fest, dass dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers im Ergebnis nicht nur die Glaubwürdigkeit abzusprechen, sondern dass auch dessen Kernvorbringen als äußerst unplausibel zu werten sei. Dem Beschwerdeführer sei es auch nach nochmaliger Gelegenheit zur Darlegung seiner Fluchtgründe im Rahmen der mündlichen Verhandlung und eingehender Befragung durch die Richterin nicht gelungen, eine schlüssige oder nachvollziehbare Verfolgungssituation zu schildern. Die mangelnde Plausibilität seiner Angaben habe das Vorbringen in hohem Maße unverständlich erscheinen lassen und habe das Gericht in der Annahme bestärkt, dass es sich beim Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers lediglich um ein gedankliches Konstrukt zwecks Asylerlangung handle.

2.       Gegenständliches Verfahren

2.1.    Nach Erhalt des oberwähnten Erkenntnisses des BVwG vom 29.01.2019 verließ der Beschwerdeführer eigenen Angaben zufolge das Bundesgebiet, um zunächst über die Tschechische Republik zu einem Freund in die Türkei zu reisen, und von dort weiter in den Iran. Dort sei er von der Polizei aufgegriffen und nach Afghanistan abgeschoben worden. Von der iranischen Grenze sei er nach Nimroz gebracht worden, von wo er mit dem Bus nach Kabul gefahren sei. In der Folge habe er sich von April bzw. Mai 2019 bis Ende 2019 in Afghanistan aufgehalten (AS 19).

2.2.    Der Beschwerdeführer reiste angeblich am 03.02.2020 neuerlich, wiederum irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 04.02.2020 einen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 23 Asylgesetz 2005.

2.3.    In seiner Erstbefragung am 04.02.2020 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der LPD Niederösterreich, Niederösterreich Fremden- und Grenzpolizeiliche Abteilung (FGA), Polizeiinspektion Schwechat Fremdenpolizei-FGP, gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an: Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, moslemischen Glaubens sunnitischer Ausrichtung , ledig und in Kabul in Afghanistan geboren. Er spreche Dari, Pashtu und Englisch in Wort und Schrift.

2.4.    Der Beschwerdeführer gab an, er habe nach der rechtskräftigen Entscheidung seines ersten Asylantrages das Bundesgebiet verlassen.

2.5.    Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der Beschwerdeführer an, seine alten Fluchtgründe würden aufrecht bleiben. Als er nach Afghanistan zurückgekehrt sei, wäre er von „ XXXX “, einem Dschihadisten, wegen Grundstückstreitigkeiten mit dem Tod bedroht worden. Er sei in Afghanistan gezwungenermaßen ein Mitglied der politischen Partei „Junbish“ gewesen. Von dieser Partei sei er beauftragt gewesen, anderen Leuten ihre Grundstücke wegzunehmen und Geld einzutreiben. Der Beschwerdeführer gab an, wenn er diese Partei verlassen hätte, wäre er getötet worden, weswegen er die Flucht vorgezogen habe.

2.6.    Bei seiner Einvernahme am 05.03.2020 vor dem BFA, EAST Ost, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Rechtsvertreterin des Vereins Menschenrechte Österreich (VMÖ), gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er habe sich vom 02.05.2019 bis Ende Dezember 2019 in Afghanistan aufgehalten. Der Beschwerdeführer sei schlepperunterstützt von Prag über die Türkei nach Afghanistan gereist und habe dann im siebenten Bezirk in Kabul gelebt. In seinem Heimatland lebe noch seine Mutter, er wüsste jedoch nicht, wo sich diese zur Zeit aufhielte.

Der Beschwerdeführer gab weiters an, er sei 2015 politisch bei der Volksbewegung aktiv gewesen. Nach der Rückkehr nach Afghanistan sei er beschattet worden und vier ihm unbekannte Personen der Volksbewegung hätten ihn anlässlich eines gemeinsamen Essens bei seiner Mutter aufgefordert, wieder arbeiten zu kommen. Nachdem er abgelehnt habe, sei er von diesen bedroht worden, dass das Leben seiner Verwandten nicht mehr sicher wäre, wenn er sich weiter weigerte, wieder mit ihnen zu arbeiten.

Der Beschwerdeführer gab an, dass seine Familie wohlhabend gewesen sei, und er selbst eine Ausbildung zum Elektroingenieur absolviert habe. Nach der Erkrankung des Vaters habe dessen Geschäftspartner das Vermögen an sich gerissen. Der Beschwerdeführer würde jedoch keine finanziellen Probleme haben, denn sein Schwager und seine Schwester könnten ihn ausreichend unterstützen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der Beschwerdeführer zunächst an, der neue Freund seiner Verlobten hätte ihn bedroht. Der Beschwerdeführer habe von dem Heiratswunsch Abstand genommen. Der Vater der Verlobten und die Familie würden jedoch auf die Heirat bestehen. Der Liebhaber seiner Verlobten sei so mächtig, dass der Schwiegervater den Beschwerdeführer nicht beschützen könne.

Ein weiterer Fluchtgrund sei der Rekrutierungsversuch des Kommandanten Qaisari der Volksbewegung gewesen. Dieser Kommandant kandidiere für die Präsidentschaft. Der Beschwerdeführer habe Qaisari erst 2019 kennengelernt, diese Bekanntschaft dauerte bis zu seiner neuerlichen Ausreise etwa 3 bis 4 Monate.

Der Beschwerdeführer gab an, dass vor etwa eineinhalb Monaten seine Schwester, zwei Nichten und ein Neffe von bewaffneten Männern des Kommandanten Qaisari mit einer Axt getötet worden seien. Über Nachfrage gab der Beschwerdeführer an, seine Schwester sei etwa einen Monat nach seiner Ausreise getötet worden, er habe im Fernsehen seinen Schwager sowie den Onkel mütterlicherseits erkannt, die darüber berichtet hätten. Sein Onkel mütterlicherseits hätte dem Beschwerdeführer ferner bei einem Telefonanruf darüber erzählt.

2.7.    Im Rahmen einer weiteren Einvernahme am 16.06.2020 vor dem BFA, EAST Ost, gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Rechtsberaterin des VMÖ an, er habe zwischenzeitlich keine Dokumente oder weiterführende Unterlagen aus Afghanistan besorgen können. Seine Mutter sei an COVID-19 erkrankt gewesen. Sie würde bei seinem Onkel mütterlicherseits leben, der sich auch an COVID-19 infiziert habe und zwischenzeitig daran verstorben sei.

Der Beschwerdeführer in der Folge gab an, er habe für die Partei „Junbesch“, nachdem er von dieser bedroht worden sei, arbeiten müssen. Er sei im Auftrag von Qaisari mit drei Personen Schutzgeld in Höhe von 15.000 Dollar eintreiben gewesen. In der darauffolgenden Nacht seien bei einem Angriff der Behörden auf die Wohnung von Qaisari 11 Personen getötet worden. Der Beschwerdeführer habe sich in Kabul versteckt und beschlossen, auszureisen. Er habe den Schlepper mit dem eingetriebenen Schutzgeld bezahlt.

Qaisari sei der erste Mann von General Dostum und noch im Amt. Nachgefragt, wie es zum persönlichen Kontakt mit Qaisari gekommen sei, erzählte der Beschwerdeführer, er hätte sich eigentlich nach der Rückkehr 2019 von dieser politischen Partei abwenden wollen, deren Mitglied er allerdings bereits im Jahr 2015 gewesen sei. Er habe seine Kollegen aus 2015 getroffen, welche den Beschwerdeführer zur Zusammenarbeit gezwungen hätten. Sie hätten ihm mitgeteilt, dass sie nunmehr wüssten, wo seine Mutter, seine Schwester und sein Neffe wohnten. Der Beschwerdeführer habe bis zum Angriff auf Qaisari mit diesem zusammenarbeiten müssen, denn es seien Wahlen gewesen und er habe mit Qaisari die Seite von General Dostum unterstützt. Der Beschwerdeführer führte aus, er persönlich sei kein höheres Parteimitglied der „Junbesch“-Partei gewesen, er habe jedoch mit den „geheimen Sachen“ in dieser Partei zu tun gehabt. Der Beschwerdeführer sei der Sekretär von Qaisari gewesen und habe um „alle Geheimnisse“ gewusst.

2.8.    Mit dem bekämpften Bescheid vom 09.07.2020 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 04.02.2020 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gem. § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den Beschwerdeführer gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gem. §°46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt VI). Es bestand gem. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG keine Frist für eine freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.) und der Beschwerdeführer hatte gem. § 15b Abs. 1 AsylG ab 06.03.2020 in einem vorgegebenen Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt VII).

Begründend führte das BFA in seinem Bescheid insbesondere aus, der Beschwerdeführer hätte keinen glaubhaften, nach dem rechtskräftigen Abschluss des Erstverfahrens neu entstandenen asylrelevanten Sachverhalt vorgebracht. Wenn der Beschwerdeführer tatsächlich nach Erhalt des ersten negativen Asylbescheides das Gebiet des Schengenraums verlassen habe wollen, so sei nicht nachvollziehbar, warum er die Rückkehrhilfe des Bundes sowie den bequemen Reiseweg mit dem Flugzeug nicht in Anspruch genommen und stattdessen privat auf eigene Kosten und Gefahren per Schlepper eine Reise über viele tausend Kilometer gewählt habe.

In der Einvernahme am 05.03.2020 habe der Beschwerdeführer mehrmals nachweislich falsche Behauptungen in den Raum gestellt. So habe dieser beispielsweise angegeben, dass es außerhalb des Bundesgebietes keine irgend gearteten Internetverbindungen gäbe, um den Kontakt zur Familie aufrechtzuerhalten oder dass der Vater seiner Verlobten als Makler in Kabul bei eigenem Gefallen in die von ihm zu vermittelnden Wohnungen einziehen würde, um wie ein Einsiedlerkrebs zu leben, sodass er schwer auffindbar sei.

Seine Schwester betreffend habe der Beschwerdeführer zunächst angegeben, sie könne ihn weiterhin unterstützen. Später jedoch habe er in der Einvernahme ausgeführt, dass seine Schwester und zwei Nichten und ein Neffe mit einer Axt erschlagen worden wären.

In der Befragung am 16.06.2020 habe der Beschwerdeführer zusammenfassend angegeben, er sei der persönliche Sekretär des Kommandanten und Politikers Qaisari gewesen. Der Beschwerdeführer habe behauptet, bei dem Angriff auf Qaisari im Dezember 2019 dabei gewesen zu sein, der allerdings in Mazar-e Sharif stattgefunden hat. Der Beschwerdeführer habe zuvor jedoch behauptet, er hätte sich bei seiner Mutter in Kabul aufgehalten. Aufgrund dieser zahlreichen Widersprüche wäre das Vorbringen des Beschwerdeführers daher nicht glaubhaft.

2.9.    Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 04.08.2020 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das BVwG, mit dem der Bescheid seinem gesamten Umfang nach angefochten wurde. Geltend gemacht wurden unrichtige Feststellungen, die Mangelhaftigkeit des Verfahrens und die unrichtige rechtliche Beurteilung.

Der Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, dass er in Afghanistan aus ethnischen/politischen Gründen bzw. als Zugehöriger zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werde, weil seit dem Abschluss des Vorverfahrens neue Verfolgungsmomente aufgetreten seien. Er sei zudem aus Afghanistan völlig entwurzelt und aufgrund nicht zuletzt der Verschlechterung der Lage in Afghanistan nicht imstande, eine menschenwürdige Existenz zu führen.

2.10.   Mit der Beschwerdevorlage, beim BVwG eingelangt am 07.08.2020, beantragte die belangte Behörde, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

2.11.   Mit Beschluss vom 14.08.2020, W267 2171044-2/4Z, wurde der Beschwerde gem. § 17 Abs. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

2.12.   Das BVwG führte am 02.10.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari durch, in deren Rahmen der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines Vertreters ausführlich zu seinen neuen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil.

II:      Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch

?        Einsichtnahme in die dem erkennenden Gericht vorliegenden Akten des BFA und des BVwG samt jeweiliger Vorakten, insbesondere in die Niederschriften der Erstbefragung vom 16.04.2016 und 04.02.2020, die Einvernahmen des Beschwerdeführers vor dem BFA vom 21.06.2017, 05.03.2020 und 16.06.2020, die Bescheide des BFA vom 30.08.2017, Zl. XXXX , und vom 09.07.2020, Zl. XXXX , das Erkenntnis des BVwG vom 29.01.2019, Zl. W135 2171044-1/14E, sowie in die gegenständliche Beschwerde vom 04.08.2020, ferner durch

?        Einsichtnahme in die in die Dokumentationsquellen des BFA betreffend Afghanistan (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA idF der Gesamtaktualisierung vom 16.09.2021, Version 5, sowie die Sonderkurzinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan), in die EASO Country Guidance zu Afghanistan, das EASO Security Situation Update 09/2021, sowie in die UNHCR Guidelines-Afghanistan, durch

?        Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich und das zentrale Melderegister, durch

?        Einsichtnahme in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden, ferner durch

?        Einsichtnahme in aktuelle Medienberichte und in das offene Internet sowie durch

?        Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 02.10.2020.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, er beherrscht jedoch auch Pashtu und Englisch in Wort und Schrift.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan in der Provinz Kabul geboren und ist dort aufgewachsen. Im Jahr 2015 verließ er seine Herkunftsprovinz, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 15.04.2016 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan zwölf Jahre die Schule besucht und verfügt über einen Studienabschluss in Elektrotechnik. Er verfügt ferner über eine mehrjährige Berufserfahrung als Buchhalter im familieneigenen Autohaus.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer psychische Beschwerden hätte. Er ist gegen COVID-19 geimpft bzw. hätte seit seiner Einreise in das Bundesgebiet jedenfalls ausreichend Möglichkeit gehabt, sich gegen COVID-19 voll immunisieren zu lassen.

1.2.    Zum Vorverfahren

Der Beschwerdeführer stellte am 04.02.2020 einen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 23 Asylgesetz 2005. Sein nach der irregulären Einreise am 15.04.2016 gestellter erster Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des BFA vom 30.08.2017, XXXX , hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG sowie des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Für eine freiwillige Ausreise wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt IV.).

Das gegen diesen Bescheid vom Beschwerdeführer fristgerecht erhobene Rechtsmittel der Beschwerde wurde vom BVwG mit Erkenntnis vom 29.01.2019, Zl. XXXX abgewiesen. Begründet wurde dies in erster Linie mit der mangelnden Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers. Dieses Erkenntnis wurde mit 07.02.2019 rechtskräftig.

1.2.    Zu den verfahrensgegenständlichen Antragsgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer hat seit dem Erlass des Erkenntnisses des BVwG vom 29.01.2019 das Bundesgebiet gar nicht verlassen. Die von ihm sohin seinen Aufenthalt in Afghanistan im Jahre 2019 betreffenden, ausschließlich auf angebliche dortige Vorkommnisse beruhenden Fluchtgründe sind sohin nicht gegeben.

Die vom Beschwerdeführer bereits im dg Vorverfahren geltend gemachten Fluchtgründe betreffend sind die im Erkenntnis des BVwG vom 29.01.2019 getroffenen Feststellungen präjudiziell. Es kann sohin insbesondere nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer mit dem Geschäftspartner seines Vaters, XXXX , wegen des Besitzes seiner Familie Probleme hatte, er von XXXX bzw. dessen Männern verprügelt, entführt und 40 Tage festgehalten wurde. Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass XXXX nach der Ausreise des Beschwerdeführers dessen Vater und dessen sieben Brüder umbringen ließ. Es kann jedoch auch nicht festgestellt werden, dass die Schwester und zwei Nichten des Beschwerdeführers nach seiner Ausreise aus Kabul im Jahre 2015 getötet worden wären.

Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt des dg Vorverfahrens verlobt. Seine in Kabul lebende Verlobte hat jedoch einen neuen Freund, sodass der Beschwerdeführer eigenen Angaben zufolge von seinem Heiratswunsch Abstand genommen hat. Er ist derzeit nicht mehr verlobt. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Vater der Verlobten und die Familie noch auf einer Eheschließung bestehen. Deren neuer Freund hat den Beschwerdeführer jedenfalls nie ernsthaft bedroht.

Nizamuddin Qaisari war vor der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, sohin im Zeitraum des letzten behaupteten Aufenthaltes des Beschwerdeführers dort, Helfer bzw. enger Mitarbeiter von (General bzw. Marschall) Abdul Rashid Dostum. Sowohl Qaisari als auch Dostum gehören der Volksgruppe der Usbeken an.

Der Beschwerdeführer war bereits seit 2015 Mitglied der Partei Hezb-e Jonbesch („Junbesch“). Er hat sich jedoch im Jahre 2019 in Afghanistan weder mit ehemaligen Parteikollegen getroffen, die ihn erneut zur Mitarbeit nötigten, noch in der Partei oder für Qaisari (mit)gearbeitet. Der Beschwerdeführer war 2019 weder der (persönliche) Sekretär des Qaisari noch hatte er bei diesem eine besondere Vertrauensstellung inne und wusste über all seine Geheimnisse Bescheid.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer ist nach seinem neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz vom 04.02.2020 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung des Bundes, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist um seine Integration in Österreich bemüht. Er hat bereits mehrere Deutschkurse besucht und verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache auf B1-Niveau. Er hat während seines bisherigen Aufenthaltes in Österreich bis Anfang 2019 mehrere gemeinnützige und freiwillige Tätigkeiten (wie Ortsbild- und Grünraumpflege, Mitarbeit bei der Caritas) verrichtet, hat ehrenamtlich bei der Freiwilligen Feuerwehr mitgearbeitet und pflegt lose, meist telefonische freundschaftliche Kontakte zu österreichischen Staatsbürgern.

Eine außergewöhnliche und nachhaltige soziale und berufliche Integration des Beschwerdeführers in Österreich ist nicht erkennbar.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Die Eltern, sieben Brüder und eine Schwester des Beschwerdeführers wohnen derzeit in Kabul, wo dieser im Falle seiner Rückkehr wohl auch vorübergehend unterkommen könnte. Zu seiner in der Stadt Kabul lebenden Familie hat der Beschwerdeführer Kontakt. Die wirtschaftliche Situation seiner in Kabul lebenden Familie ist gut. Der Beschwerdeführer hätte im Falle seiner Rückkehr grundsätzlich keine finanziellen Probleme, denn zum einen könnten ihn, eigenen Angaben aus dem Vorjahr zufolge, sein Schwager und seine Schwester – jedenfalls vorübergehend – ausreichend unterstützen. Zum anderen verfügt er über mehrere Ausbildungen, darunter einen Studienabschluss in Elektrotechnik, was auch in schwierigen Zeiten nahezu in jedem Land der Welt, sohin auch in seinem Heimatstaat, ein Garant für die rasche Aufnahme einer den Lebensunterhalt sichernden selbständigen oder unselbständigen Tätigkeit ist.

Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig, gesund und kann problemlos einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Er ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut. Der Beschwerdeführer hat zumindest gute Ortskenntnisse betreffend Kabul. Er hat dort bereits seit vielen Jahren gelebt, ihm sind städtische Strukturen bekannt.

Die vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt jedoch, dass aufgrund – und lediglich für die Zeit – der momentan äußerst angespannten Wirtschaftslage in Afghanistan, der Nahrungsmittelkrise sowie der COVID-19-pandemiebedingten Probleme des Arbeitsmarktes wie des Gesundheitssystems in Kombination mit der Währungskrise und der de facto-Zahlungsunfähigkeit des Afghanischen Staates nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Beschwerdeführer in Kabul Fuß fassen und durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit die Befriedigung grundlegender und notwendiger Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft sicherstellen wird können. Ihm würde derzeit daher drohen, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohten dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen.

Dem Beschwerdeführer drohte bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Tadschiken konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Der Beschwerdeführer wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre der Beschwerdeführer zudem einer weitaus geringeren Gefahr der Erkrankung durch COVID-19 bzw. eines lebensbedrohlichen oder Langzeitschäden verursachenden Verlaufes derselben ausgesetzt als die überwiegende Mehrheit der dort lebenden Menschen. Gleiches gilt für das Risiko einer Hospitalisierung aufgrund einer solchen Erkrankung.

Im Falle einer ausreichenden Entspannung der wirtschaftlichen Lage in Afghanistan wird es dem Beschwerdeführer jedoch durchaus möglich sein, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.5.    Verfahrensrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

1.5.1.  Poltische Lage

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

1.5.2. Sicherheitslage

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“ (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021).

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021). Einem BBC-Artikel vom 29. Oktober zufolge sind die Taliban-Kräfte in Jalalabad fast täglich ISKP-Angriffen ausgesetzt. Der ISKP setzt dabei dieselben überfallartigen Methoden, etwa Straßenbomben oder unangekündigte Anschläge, ein, wie die Taliban sie einst gegen die vergangene Regierung eingesetzt hat. Derselbe Bericht bezeichnet die Lage in Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban zum Zeitpunkt der Berichterstattung jedoch insgesamt auch als friedlicher. (BBC, 29. Oktober 2021)

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt zwar insgesamt volatil. Es finden seit der Machtübernahme durch die Taliban allerdings nahezu keine aktiven Kampfhandlungen mehr statt, auch Bombenanschläge sind selten geworden und beschränken sich primär auf militärische oder politische Ziele. Die normale Bevölkerung ist davon bei Einhaltung der gebotenen Umsicht nahezu nicht mehr betroffen.

1.5.3   Erreichbarkeit

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen (TD 5.12.2017). Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet (TD 26.1.2018). Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.) (STDOK 4.2018; vgl. TD 5.12.2017), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (STDOK 4.2018; vgl. USAID o.D.a, WB 17.1.2020, ESRI 13.4.2020, ArN 11.11.2020, TD 8.1.2019, TN 25.5.2019, CWO 26.8.2019).

Jährlich sterben Hunderte von Menschen bei Verkehrsunfällen auf Straßen im ganzen Land - vor allem durch unbefestigte Straßen, überhöhte Geschwindigkeit und Unachtsamkeit (GIZ 7.2019; vgl. AT 23.11.2019, PAJ 12.12.2019, ABC News 1.10.2020). Die Präsenz von Aufständischen, Zusammenstöße zwischen diesen und den afghanischen Sicherheitskräften sowie die Gefahr von Straßenraub und Entführungen entlang einiger Straßenabschnitte beeinflussen die Sicherheit auf den afghanischen Straßen, unter anderem auch auf den Highway 1 (Ring Road) (USDOS 24.6.2020; vgl. EASO 9.2020). Einige Beispiele dafür sind die Straßenabschnitte Kabul-Kandahar (TN 17.1.2020; vgl. ST 24.4.2019), Herat-Kandahar (TN 17.1.2020; vgl. PAJ 5.1.2019), Kunduz-Takhhar (KP 20.8.2018; vgl. CBS News 20.8.2018) und Ghazni-Paktika (AAN 30.12.2019).

Transportwesen

Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gab [vor der Machtübernahme der Taliban] einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans (IE o.D.). Die Kernfrage bleibt nach wie vor die Sicherheit (IWPR 26.3.2018). Es existierten einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, He- rat, Jalalabad und Bamyan miteinander verbinden; Beispiele dafür sind Bazarak Panjshir, Herat Bus, Khawak Panjshir, Ahmad Shah Baba Abdali (vertrauliche Quelle 14.5.2018; vgl. IWPR 26.3.2018).

Aus Bequemlichkeit bevorzugen Reisende, die es sich leisten können, die Nutzung von Gemeinschaftstaxis nach Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan (vertrauliche Quelle 14.5.2018).

Der Mangel an Bussen insbesondere während der Stoßzeit in Kabul-Stadt ist eine Herausforderung für die afghanische Regierung. Im Laufe der Jahre wurde versucht, dieses Problem zu lösen, indem Indien dem Transportsystem in Kabul hunderte Busse zur Verfügung stellte (TD 8.1.2019). Es gab [vor der Machtübernahme der Taliban] einige Busverbindungen zwischen Mazar-e Sharif und Kabul. Bis zu 50 unterschiedliche Unternehmen boten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, Fahrten von und nach Kabul an (STDOK 4.2018).

Flugverbindungen

Mit der Machtübernahme der Taliban Mitte August 2021 wurden internationale Flüge eingestellt. Der Internationale Flughafen Hamid Karzai [Internationaler Flughafen Kabul] liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt (HKA o.D.). Die Taliban haben Katar um technische Hilfe bei der Wiederaufnahme des Flughafenbetriebs auf dem Hamid-Karzai-Flughafen gebeten, der bei der überstürzten Evakuierung von mehr als 120.000 Menschen nach dem Abzug der amerikanischen Truppen am 30. August schwer beschädigt worden war. Vertreter aus Katar erklärten Anfang September, der Flughafen von Kabul sei zu 90 % wieder betriebsbereit (GN 11.9.2021; vgl. AJ 9.9.2021).

Grenzübergänge

Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 1.9.2021; vgl. NDTV 14.9.2021) oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen (DZ 1.9.2021). Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet (AnA 14.9.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 1.9.2021).

1.5.4   Internet und Mobiltelefonie

Eine schnelle Verbreitung von Mobiltelefonen, Internet und sozialen Medien hat vielen Bürgern einen besseren Zugang zu unterschiedlichen Ansichten und Informationen ermöglicht (USDOS 30.3.2021). Es gibt Mobiltelefone in 90% der afghanischen Haushalte, wobei sich oft mehrere Personen eines teilen (DFJP/SEM 30.6.2020).

Fünf GSM-Betreiber decken zwei Drittel der bevölkerungsreichsten Gebiete ab. Ungefähr jeder zweite Einwohner hat im Jahr 2020 eine aktive SIM-Karte. Weniger als einer von zehn Nutzern geht mit einem Mobiltelefon ins Internet (DFJP/SEM 30.6.2020).

Im Laufe des Jahres 2020 gab es viele Berichte über Versuche der Taliban, den Zugang zu Informationen einzuschränken, oft durch die Zerstörung oder Abschaltung von Telekommunikationsantennen und anderen Geräten (USDOS 30.3.2021).

Aus strategischen Gründen schnitten die Taliban im Zuge der Kampfhandlungen die Internetverbindungen nach Panjshir zeitweise ab (AAN 1.7.2021) und es gibt auch Berichte wonach die Taliban in Kabul das Internet an- und abschalten würden (DW 30.8.2021).

1.5.5   Grundversorgung und Wirtschaft

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die vormalige afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. AC- CORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9% (SIGAR 30.1.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.8.2021).

Da keine neuen Dollarlieferungen zur Stützung der Währung ankommen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen (DW 24.8.2021). Afghanistans Wirtschaft schrumpft in diesem Jahr nach Ansicht des Internationalen Währungsfonds (IWF) um bis zu 30 Prozent. Das ist umso dramatischer, weil das Land bereits jetzt auf extrem niedrigem Niveau wirtschaftet. Nach der Machtübernahme der Taliban ist alle nicht-humanitäre Hilfe für Afghanistan gestoppt worden, ausländische Vermögenswerte wurden weitgehend eingefroren - der IWF warnt deswegen vor einer schweren Haushalts- und Zahlungsbilanzkrise der auf Hilfe angewiesenen afghanischen Wirtschaft. Die Regierung ist nicht in der Lage, Gehälter zu zahlen. Die Banken dürfen nur sehr geringe Mengen des Afghani, der Währung des Landes, herausgeben. Millionen von Afghanen haben kein Bargeld mehr - und das in einer Zeit, in der die Preise für Grundversorgungsgüter, wie Lebensmittel, Treibstoff und Gas, immer weiter steigen. Die Stromversorgung, die zu etwa 80 Prozent durch die Nachbarländer Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und den Iran sichergestellt wird, funktioniert vorerst noch.

1.5.6   Armut und Lebensmittelunsicherheit

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2021; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (UNGASC 9.12.2020).

Da keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen (DW 24.8.2021).

Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) haben nur fünf Prozent der Haushalte in Afghanistan täglich genug zu essen. Auch die Mittelschicht hat zu kämpfen – nur zehn Prozent der Haushalte, die von einer Person mit weiterführendem Schulabschluss oder Hochschulbildung geführt werden, sind in der Lage, täglich ausreichend Nahrung für ihre Familie zu kaufen. Obwohl die Situation für weniger gebildete Menschen noch schlimmer ist, zeigt der nie zuvor dagewesene Hunger unter Familien, die bisher davon verschont geblieben waren, das Ausmaß der Krise in Afghanistan. Der Hunger in Afghanistan erfasst mittlerweile auch gut ausgebildete Städter, da Jobs und Einkommen wegbrechen.

1.5.7   Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich (STDOK 21.7.2020). Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020). Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.7.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vgl. STDOK 21.7.2020). Privat

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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