TE Bvwg Erkenntnis 2021/12/1 W133 2243279-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.12.2021
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Entscheidungsdatum

01.12.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W133 2243276-1/8E

W133 2243277-1/8E

W133 2243274-1/8E

W133 2243279-1/8E

W133 2243280-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1.)       XXXX , geboren am XXXX ,

2.)       XXXX , geboren am XXXX ,

3.)       XXXX , geboren am XXXX ,

4.)       XXXX , geboren am XXXX , und

5.)       XXXX , geboren am XXXX ,

alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, die minderjährigen Kinder vertreten durch die Mutter XXXX , alle vertreten durch die XXXX gegen die Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 16.04.2021,

1.)      Zl. 1264720609/201271919 (betreffend XXXX ),

2.)      Zl. 1264720707/201271749 (betreffend XXXX ),

3.)      Zl. 1264720805/201272028 (betreffend XXXX ),

4.)      Zl. 1264721007/201271951 (betreffend XXXX und

5.)      Zl. 1264720903/201271978 (betreffend XXXX ),

nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.08.2021 zu Recht:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird

XXXX , geboren am XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 sowie XXXX , geboren am XXXX , XXXX , geboren am XXXX , XXXX , geboren am XXXX , und XXXX , geboren XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass allen fünf oben genannten Beschwerdeführenden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist in allen fünf Fällen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführenden. Die Beschwerdeführenden, alle Staatsangehörige Afghanistans, stellten am 16.12.2020 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

Anlässlich ihrer Erstbefragung am 17.12.2020 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachten die Beschwerdeführenden zu ihren Fluchtgründen befragt vor, dass sie im Iran geboren bzw. aufgewachsen seien und dort zuletzt bei einem Christen gelebt und für diesen gearbeitet hätten. Die Familie sei aus diesem Grund beschuldigt worden, zum christlichen Glauben konvertiert zu sein. Aus Angst vor diesen falschen Beschuldigungen seien sie geflüchtet. Der Zweitbeschwerdeführer gab überdies zu Protokoll, dass sein Vater vor 16 Jahren in Afghanistan von seinem Cousin getötet worden sei. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte der Zweitbeschwerdeführer, ebenfalls von diesem Cousin getötet zu werden. In Bezug auf die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführenden verneinte die Erstbeschwerdeführerin das Vorliegen eigener Fluchtgründe.

Am 23.03.2021 fanden die Einvernahmen der Erst- bis Drittbeschwerdeführenden vor der nunmehr belangten Behörde, dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), statt. Darin brachten sie vor, dass sie während des letzten Jahres im Iran in einem Haus mit Garten gewohnt und für den Hausbesitzer, einen Christen, die Gartenarbeit erledigt hätten. Schließlich seien sie von den Dorfbewohnern – trotz ihrer Beteuerungen, dass dies nicht stimme, – verdächtig worden, ebenfalls Christen zu sein. Aus Angst, die Polizei würde von diesen Verdächtigungen erfahren, seien sie geflüchtet. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei ihnen zudem nicht möglich, weil der Zweitbeschwerdeführer von seinem Cousin gesucht und ermordet werden würde, da sein Vater im Zuge von Grundstücksstreitigkeiten einen anderen Cousin getötet habe. Aus diesem Grund sei auch schon sein Vater getötet worden. In Bezug auf die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführenden wurde das Vorliegen eigener Fluchtgründe verneint. Außerdem führte die Erstbeschwerdeführerin aus, dass sie schnell die deutsche Sprache lernen und in Zukunft arbeiten gehen wolle. Im Rahmen der Einvernahmen wurden medizinische Unterlagen der Erst- und Viertbeschwerdeführerinnen, Kopien der Tazkiras der gesamten Familie sowie ein Schülerausweis des Drittbeschwerdeführers vorgelegt.

Mit den angefochtenen Bescheiden vom 16.04.2021 wies die belangte Behörde jeweils die Anträge der Beschwerdeführenden auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkte I.), erkannte ihnen jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkte II.) und erteilte ihnen eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte (Spruchpunkte III.).

Zu den Spruchpunkten I. führte die belangte Behörde begründend im Wesentlichen aus, dass den Beschwerdeführenden in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan keine Verfolgung drohe. Selbst bei allfälliger Wahrunterstellung des Vorbringens sei es den Beschwerdeführenden möglich, der vorgebrachten, nicht von staatlicher Seite ausgehenden Verfolgungsgefahr durch eine Ansiedlung in einer anderen Provinz zu entgehen. Den Beschwerdeführenden drohe auch aus sonstigen in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen keine Verfolgung.

Mit Verfahrensanordnungen vom 19.04.2021 teilte das BFA den Beschwerdeführenden mit, dass ihnen die „ XXXX als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt wird.

Gegen die jeweiligen Spruchpunkte I. dieser Bescheide erhoben die Beschwerdeführenden im Wege ihrer Rechtsvertretung mit E-Mail vom 25.05.2021 fristgerecht gemeinsame Beschwerden. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass das Verfahren mit Mangelhaftigkeit belastet sei, insbesondere habe sich die belangte Behörde nicht mit den relevanten Länderfeststellungen auseinandergesetzt. Der Zweitbeschwerdeführer falle gemäß der UNHCR-Richtlinien unter das Risikoprofil jener Personen, die von Blutrache und Landstreitigkeiten betroffen seien und zähle überdies zur Risikogruppe der Hazara, weshalb er in Afghanistan jedenfalls einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Darüber hinaus seien auch die beweiswürdigenden Ausführungen der belangten Behörde in sich widersprüchlich und den Beschwerdeführenden stünde überdies keine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Der Beschwerde wurden die von den Beschwerdeführenden bzw. der gesetzlichen Vertreterin gezeichneten Vollmachten vom 20.05.2021 zugunsten der rechtlichen Vertretung beigelegt.

Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 10.06.2021 vom BFA vorgelegt.

Das Bundesverwaltungsgericht brachte den Beschwerdeführenden im Rahmen der Ladungen zur mündlichen Verhandlung zur Kenntnis, dass es beabsichtigt, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, die EASO-Länderleitlinien Afghanistan, den EASO-Bericht Afghanistan Netzwerke, den OCHA Strategic Situation Report: COVID-19 sowie FEWS NET Afghanistan der Entscheidung zu Grund zu legen.

Am 12.08.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der die Beschwerdeführenden, deren Rechtsvertreterin und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zu den Beschwerdeführenden

Die Beschwerdeführenden tragen die im Spruch angeführten Namen und wurden an den jeweiligen im Spruch angeführten Geburtsdaten geboren. Ihre Identität steht nicht zweifelsfrei fest. Die Beschwerdeführenden stammen ursprünglich aus der afghanischen Provinz Parwan. Die Erstbeschwerdeführerin und die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführenden wurden allerdings im Iran geboren und sind bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2020 dort aufgewachsen. Der Zweitbeschwerdeführer wurde hingegen in Afghanistan in der Provinz Parwan geboren. Im Alter von etwa acht Jahren reiste er gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Großvater aus Afghanistan aus und lebte fortan ebenfalls im Iran.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind traditionell verheiratet. Die Hochzeit fand vor etwa 23 Jahren unter Anwesenheit zweier Zeugen in der iranischen Stadt Teheran statt. Die Ehe ist gültig.

Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführenden sind die gemeinsamen minderjährigen Kinder des Ehepaares. Der Ehe entstammen zudem zwei weitere Kinder: die 22-jährige Tochter des Ehepaares ist bereits verheiratet und lebt im Iran. Der nunmehr 18-jährige Sohn des Ehepaares reiste bereits im Jahr 2015 nach Österreich ein. Ihm war bereits mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.12.2017, zu AZ: W265 2151832-1, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden.

Die Beschwerdeführenden sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Dari.

Vor ihrer Ausreise aus dem Iran lebte die Familie in den Städten XXXX und XXXX der iranischen Provinz XXXX sowie im letzten Jahr vor ihrer Ausreise in der Stadt XXXX der iranischen Provinz XXXX . Schließlich reiste die Familie Ende des Jahres 2019 aus dem Iran aus und begab sich auf ihren Weg nach Österreich. Im Zuge ihrer Reise waren sie etwa ein Jahr lang in Griechenland aufhältig.

Anschließend reisten die Beschwerdeführenden im Jahr 2020 illegal nach Österreich ein und stellten am 16.12.2020 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführenden haben – bis auf einen Cousin des Zweitbeschwerdeführers, der in der afghanischen Provinz Parwan lebt und zu dem der Zweitbeschwerdeführer keinen Kontakt hat, – keine Verwandten in Afghanistan.

Die Beschwerdeführenden sind gesund.

Die Erst- bis Viertbeschwerdeführenden sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Der Fünftbeschwerdeführer ist noch nicht strafmündig.

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.

Sie bewegt sich in Österreich alleine im öffentlichen Raum, geht hier alleine einkaufen, fährt mit dem Bus und geht alleine spazieren bzw. joggen. Sie ist auch sehr darum bemüht, die deutsche Sprache zu erlernen. Sie konnte in Österreich zwar bislang noch keinen Deutschkurs besuchen, sie ist für diesen aber bereits angemeldet. In der Zwischenzeit bemüht sie sich erfolgreich, über die Internet-Plattform „YouTube“ bzw. gemeinsam mit der Viertbeschwerdeführerin Deutsch zu lernen. Trotz der noch relativ kurzen Aufenthaltsdauer hat die Erstbeschwerdeführerin dabei schon gute Fortschritte gemacht, sie kann insbesondere bereits sehr gut verständlich Deutsch lesen und auch schon ein wenig und gut verständlich Deutsch sprechen, lediglich das gesprochene Wort zu verstehen, ist ihr noch schwer möglich. Die Erstbeschwerdeführerin hat ein sehr selbstbewusstes Auftreten, sie äußert offen ihre Meinung und sie bewegt sich frei im öffentlichen Raum. Sie hat konkrete Berufspläne und würde in Österreich künftig gerne im Kindergarten arbeiten und in diesem Bereich eine Ausbildung machen. Sie hat auch bereits im Iran heimlich gearbeitet. Insgesamt ist die Erstbeschwerdeführerin äußert anpassungs-, lern- und arbeitswillig. Die Erstbeschwerdeführerin ist muslimischen Glaubens, jedoch nicht streng gläubig. Ihr Wunsch wäre es, dass ihre Kinder ihre eigene Kultur kennenlernen, sie aber in Bezug auf deren Religion und deren Lebensstil ihre eigenen Entscheidungen treffen. Insbesondere hat sie auch kein Problem damit, dass ihre Kinder ihre zukünftigen Lebenspartner selbst auswählen. Die Erstbeschwerdeführerin möchte zudem auch gerne die österreichische Kultur besser kennenlernen. Die Erstbeschwerdeführerin trägt in Österreich keine traditionelle Kleidung, ihr Kleidungsstil ist vielmehr westlich geprägt. Sie trägt noch ein locker über dem Kopf hängendes Kopftuch, dies allerdings aus eigenem Wunsch bzw. aus alter Gewohnheit. Sie versucht auch bereits hin und wieder, sich ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zu zeigen, wobei sie sich dabei jedoch noch etwas unsicher fühlt.

Die Erstbeschwerdeführerin wuchs im Iran in einem eher strengen und konservativen Familienverband auf, von ihrem Vater wurde sie auch geschlagen. Im Iran musste sie immer lange schwarze Kleidung und ein festes Kopftuch tragen, da kein Teil ihres Haares sichtbar sein durfte.

Die Erstbeschwerdeführerin lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab, sie hat ihre Kinder frei von Zwängen erzogen und kann sich nicht vorstellen, nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben, wobei auch der in Österreich aufhältige Zweitbeschwerdeführer ihr westliches Leben unterstützt. Insbesondere ist auch das Familienleben der Beschwerdeführenden nicht von dem traditionellen afghanischen Rollen- und Geschlechterverständnis geprägt: Der Zweitbeschwerdeführer befürwortet das eigenständige Leben der Erstbeschwerdeführerin, er lässt sie über ihr zukünftiges Leben in Österreich selbst bestimmen und unterstützt die Erstbeschwerdeführerin auch im Haushalt.

Die selbständige Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil im Leben der Erstbeschwerdeführerin geworden. Sie ist eine selbstbestimmte, energische und engagierte Frau, die ihre Möglichkeiten als Frau in einer demokratischen Gesellschaft leben möchte und zu schätzen weiß. Eine Rückkehr in ein eingeschränktes Leben nach dem Frauenbild der afghanischen Gesellschaft wird von ihr strikt abgelehnt. Sie möchte ihre Freiheiten auch Weiterhin leben können.

Die Erstbeschwerdeführerin würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld daher als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden, weshalb sie in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt wäre. Die von der Erstbeschwerdeführerin in Österreich angenommene westliche Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Es kann von ihr daher nicht erwartet werden, diese Lebensweise in Afghanistan zu unterdrücken oder überhaupt abzulegen, um dort nicht physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein.

Bei der Viertbeschwerdeführerin handelt es sich hingegen (noch) nicht um ein besonders auf Eigenständigkeit bedachtes junges Mädchen, die in ihrer persönlichen und identitätsprägenden Wertehaltung und in ihrer Lebensweise noch nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten („westlichen“), die traditionelle afghanische Gesellschafts- und Geschlechterordnung ablehnenden Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist, und die deshalb im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wegen abweichender Lebens- und Verhaltensweisen (noch) nicht von Gewaltakten bedroht wäre.

Zum weiteren Verfolgungsvorbringen der Beschwerdeführenden

In Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan brachten die Beschwerdeführenden weiters vor, dass der Vater des Zweitbeschwerdeführers vor 16 Jahren wegen Grundstücksangelegenheiten nach Afghanistan zurückgekehrt sei. Dort sei es zu einem Streit gekommen, im Zuge dessen der Vater des Zweitbeschwerdeführers einen Cousin getötet habe. Aus diesem Grund sei auch der Vater des Zweitbeschwerdeführers anschließend von einem weiteren Cousin ermordet worden. Dieser Cousin sei nunmehr auch auf der Suche nach dem Zweitbeschwerdeführer und wolle ihn töten. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei den Beschwerdeführenden deshalb nicht möglich.

Im Hinblick auf das nunmehrige Verfahrensergebnis kann es im gegenständlichen Fall dahinstehen, ob dieser von den Beschwerdeführenden geltend gemachte Fluchtgrund den Tatsachen entspricht, weil den Beschwerdeführenden mit diesem Erkenntnis der Status der Asylberechtigten – dies allerdings nicht auf Grundlage des oben dargestellten weiteren vorgebrachten Fluchtgrundes – zuerkannt wird; diesbezüglich wird auf die nachfolgende rechtliche Beurteilung verwiesen.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Feststellungen zum Herkunftsstaat beruhen maßgeblich auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) in der aktuellsten Version 5 vom 16.09.2021, auf dem EASO-Bericht zur aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan vom September 2021 (EASO) sowie auf dem Bericht Afghanistan “Recent developments in the security situation, impact on civilians and targeted individuals“ der dänischen Immigrationsbehörde vom September 2021 (Danish Immigration Service).

Politische Lage

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Politische Lage).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam. Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB, Politische Lage).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB, Politische Lage).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB, Politische Lage).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB, Politische Lage).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB, Politische Lage).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB, Politische Lage).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (LIB, Politische Lage).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB, Politische Lage).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden. Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar. In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen. Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Abzug internationaler Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen", allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat". Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Aktuelle Sicherheitslage

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit", innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB, Sicherheitslage).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (LIB, Sicherheitslage).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (LIB, Sicherheitslage).

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB, Sicherheitslage).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen. Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren. Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (LIB, Sicherheitslage).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag. Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden. Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (LIB, Sicherheitslage).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (LIB, Sicherheitslage).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen: Eine Richterin wie auch eine Polizistin gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (LIB, Sicherheitslage).

Zentrale Akteure

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (LIB, Zentrale Akteure).

Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB, Zentrale Akteure).

Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als „regierungsfeindliche Elemente“ bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64 % der zivilen Opfer verantwortlich. 39 % aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9 % auf den ISKP und 16 % auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als „regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen“ bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2 % der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23 % der zivilen Opfer zurückgeführt (LIB, Zentrale Akteure)

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB, Taliban).

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (LIB, Struktur und Führung).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB, Struktur und Führung).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als "Ministerien" fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB, Struktur und Führung).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen", ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der "Übergangsregierung" die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (LIB, Struktur und Führung).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB, Struktur und Führung).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB, Struktur und Führung).

Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (LIB, Allgemeine Menschenrechtsverletzung). Es wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine "wahre Fundgrube an Informationen" für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien "wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber" (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine "Todesliste" gesetzt, wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Rekrutierungsstrategien

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban [vor ihrer Machtübernahme im August 2021] teilte die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert wurden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet waren (LIB, Rekrutierungsstrategien).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgte: Sie lief hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eine der Sonderkomitees der Quetta Schura war für die Rekrutierung verantwortlich. UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB, Rekrutierungsstrategien).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen in der Vergangenheit Kontrolle ausübten, gab es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren, wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden. Grundsätzlich hatten die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machten nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, waren jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB, Rekrutierungsstrategien).

Sympathisanten der Taliban waren Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive waren der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlten sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glaubten nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schlossen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven waren die wesentlichen Erklärungsgründe (LIB, Rekrutierungsstrategien).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien konnten die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternahmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten lief über religiöse Netzwerke (LIB, Rekrutierungsstrategien).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wurde berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert wurden oder in denen die Taliban stark präsent waren, de facto unmöglich war, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten.Die erweiterte Familie konnte angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien waren, die Kämpfer stellten, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen (LIB, Rekrutierungsstrategien).

Die Taliban wandten, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen, teilweise wurden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht. Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (LIB, Rekrutierungsstrategien).

Rechtsschutz und Justizwesen

Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. „Scharia“ bedeutet auf Arabisch „der Weg“ und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen. Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden. Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (LIB, Rechtsschutz/Justizwesen).

Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft. Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (LIB, Rechtsschutz/Justizwesen).

Ethnische und religiöse Minderheiten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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