TE Bvwg Erkenntnis 2021/12/1 W123 2186936-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.12.2021
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Entscheidungsdatum

01.12.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W123 2186936-1/16E


IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Wolfgang AUNER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.01.2018, Zl. 10704470109-150548742, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 22.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Im Rahmen der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, dass er aufgrund seiner Tätigkeit als „Computer-Lehrer“ von den Taliban bedroht worden sei und deswegen Afghanistan verlassen habe.

3.       Am 03.10.2017 fand die Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) statt. Zu seinem Fluchtgrund erneut befragt, gab der Beschwerdeführer Folgendes wortwörtlich an (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…]

A: Ich habe in Afghanistan gearbeitet. Ich wollte die Frauen unterstützen und helfen indem ich sie im Technikbereich schule. Ich leitete Schulungen. Die Taliban waren gegen unsere Arbeit und gegen unser Ziel, Frauen zu unterstützen. Sie dachten, wir wären Ungläubige. Daher wollten die Taliban, dass ich nicht weiterarbeite. Die Taliban dachten, sie müssten uns bedrohen, damit diese Kurse und Unterstützungen für Frauen aufhören. Das war der Plan der Taliban. Daher bedrohten sie mich. Sie haben mich angerufen und mir SMS geschickt. Am Anfang hatte ich noch keine Angst, bis ich den Drohbrief bekam. Nachdem ich den Brief bekam, sorgten sich meine Eltern um mich und ich habe Afghanistan verlassen. […]

F: Was würde Sie konkret erwarten, wenn Sie jetzt in ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

A: Ich hätte zwei Probleme. Die Taliban bedrohen mich mit dem Tod und wenn ich aus Europa komme, heißt es, ich bin ein Ungläubiger.

[…]“

Der Beschwerdeführer legte seine Tazkira (afghanisches Personaldokument), Nachweise betreffend seine (Schul-)Bildung in Afghanistan und seine Integration in Österreich samt Empfehlungsschreiben sowie Beweismittel für sein Fluchtvorbringen vor. Jene Dokumente in Dari bzw. Paschtu ließ das BFA in der Folge übersetzen.

4.       Mit dem angefochtenen Bescheid vom 19.01.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (in der Folge BFA-VG) wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG) eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkte IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte V. und VI.).

5.       Gegen den obgenannten Bescheid der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 13.02.2018 fristgerecht Beschwerde ein. In der Beschwerdebegründung wurde das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers zusammengefasst wiederholt. Dabei wurden das Vorgehen der belangten Behörde sowie der angefochtene Bescheid in mehreren Punkten kritisiert. So seien in den zwei vorgelegten Drohbriefen Todesdrohungen enthalten. Weiters stehe dem Beschwerdeführer aufgrund der prekären Sicherheitslage und der Möglichkeit der Taliban, ihn in ganz Afghanistan aufzuspüren, eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht offen. Auch sei der Sicherheitsapparat Afghanistans ineffektiv und könne den Beschwerdeführer nicht schützen. Es folgten Auszüge aus diversen Berichten zu Afghanistan. Dem Beschwerdeführer hätte Asyl aus politischen Gründen, zumindest subsidiärer Schutz gewährt werden müssen.

6.       Auf Grund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes wurde die gegenständliche Rechtssache der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.

7.       Am 28.10.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentlich mündliche Verhandlung statt, in der der Beschwerdeführer einvernommen wurde und der beigezogene Dolmetscher die zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers vorliegenden Belege übersetzte.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen und wurde am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und verlobt. Er spricht Paschtu, Dari, Englisch und Deutsch.

Der Beschwerdeführer ist im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar geboren und aufgewachsen. In seiner Heimatprovinz hielt er sich bis zu seiner Flucht nach Europa auf. Insgesamt zwölf Jahre besuchte er die Grundschule und studierte ab 2009 vier Jahre Informatik an der Universität in Nangarhar. Berufserfahrung sammelte er als Security im vollbeschäftigten Ausmaß zwischen 2007 und 2009. Dieser Beschäftigung ging er auch während seines Informatikstudiums in Teilzeit nach. Nach Abschluss seines Studiums im Jahr 2013 arbeitete der Beschwerdeführer für das Unternehmen XXXX in der Stadt Jalalabad.

Die Eltern des Beschwerdeführers, drei seiner Brüder, fünf seiner Onkel sowie seine Verlobte leben in der Heimatregion Beschwerdeführers. Ein weiterer Bruder ist in Amerika wohnhaft. Mit seiner Kernfamilie und seiner Verlobten steht der Beschwerdeführer in Kontakt. Sein Vater arbeitet in Afghanistan als Verkäufer in einer Apotheke. Die finanziellen Verhältnisse seiner Familie sind durchschnittlich.

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 22.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer arbeitete von Juni 2013 bis Oktober 2014 als Trainer im Bereich Informatik für das Unternehmen XXXX , das Projekte von ausländischen NGOs umsetzte. Im Zuge seiner Tätigkeit schulte der Beschwerdeführer Männer und Frauen, wobei der Fokus des Unternehmens auf dem Training von Frauen lag.

Nachdem der Beschwerdeführer schon länger als ein Jahr bei dem Unternehmen beschäftigt war, wurde er mehrmals per SMS aufgefordert, seine Tätigkeit dort zu beenden, weil diese nicht dem Islam entspreche und er für Ungläubige arbeite. Anfangs nahm der Beschwerdeführer diese Nachrichten nicht ernst, reagierte nicht auf sie und ging weiterhin seiner Arbeit nach. Später bekam der Beschwerdeführer einen Anruf von jemandem, der sich als Mitglied der Taliban vorstellte und sich auf die übermittelten Nachrichten bezog. Es folgten noch weitere Anrufe in Abständen von einigen Tagen. Eine Woche später erhielt der Beschwerdeführer den ersten Drohbrief, datiert mit dem 17.07.1393 (= 09.10.2014). Der zweite Drohbrief, den er bekam, ist mit dem 28.07.1393 (= 20.10.2014) datiert. Bereits in dem ersten Drohbrief wurde der Beschwerdeführer mit dem Tode bedroht. Ab diesem Zeitpunkt war er sehr verängstigt und richtete am 10.10.2014 ein Schreiben an den Vorsitz seines Unternehmens, in dem er erklärte, dass er von den Taliban gewarnt und bedroht worden sei, dass er seine Tätigkeit als Trainer aufgeben solle. Am selben Tag noch meldete sein Arbeitgeber den Vorfall der Sicherheitskommandantur der Provinz Nangarhar. An diese richtete das Unternehmen erneut ein Schreiben am 13.10.2014. In weiterer Folge erstattete der Beschwerdeführer eine Anzeige beim Gouverneur der Provinz Nangarhar und ersuchte in dieser, die zuständige Sicherheitsbehörde aufzufordern, sich um seinen Schutz und seine Sicherheit zu kümmern, sodass er ohne Angst um sein Leben seiner Arbeit nachgehen könne. Anschließend daran teilte der Sicherheitskommandant des Bezirks XXXX schriftlich mit, dass kein Personal zum Schutz des Beschwerdeführers zur Verfügung stehe. Bis zu seiner Ausreise im November 2014 versteckte sich der Beschwerdeführer.

Der Beschwerdeführer ist aus der glaubhaften Furcht heraus, von den Taliban aufgrund seiner Tätigkeit für das obgenannte Unternehmen und aufgrund der ihm unterstellten politischen Gesinnung getötet zu werden, aus Afghanistan geflohen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der Beschwerdeführer daher Gefahr, Bedrohungs- und Gewalthandlungen von Seiten der Taliban ausgesetzt zu sein. Eine innerstaatliche Fluchtalternative ist im gegenständlichen Fall, insbesondere vor dem Hintergrund der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan, ausgeschlossen.

1.3. Zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 16.09.2021, Version 5 (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Sicherheitslage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“ (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021). […]

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Taliban zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021). […]

Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung: 16.09.2021

Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021; vgl. DW 20.8.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.8.2021).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.8.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.8.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 6.9.2021; vgl. ROW 20.8.2021, SKN 27.8.2021).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.8.2021, vgl. MMM 20.8.2021).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“)-Geräte] (TIN 18.8.2021; vgl. HO 8.9.2021, SKN 27.8.2021). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenministeriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 8.9.2021; vgl. SKN 27.8.2021)

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“ (TT 4.9.2021).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.8.2021).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt (POL 26.8.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.8.2021). […]

Taliban

Letzte Änderung: 14.09.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.5.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.2.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.8.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 7.9.2021).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.8.2021). […]

Struktur und Führung

Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020), die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an (NZZ 17.8.2021). Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001 (IT 16.8.2021). Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat (UNSC 1.6.2021), sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (RFE/RL 6.8.2021).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten (IT 16.8.2021). Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021). Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde (FR 18.8.2021). Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen (RFE/RL 6.8.2021) bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten (FR 18.8.2021) ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks (RFE/RL 6.8.2021) und der Miran Shah-Schura ist (UNSC 1.6.2021). Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der „Übergangsregierung“ die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister (NZZ 7.9.2021). Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021; vgl. TN 3.9.2021).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban (UNSC 1.6.2021). Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet (HT 5.9.2021; BAMF 6.9.2021), was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (DS 6.9.2021).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation (TWN 20.4.2020). Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken) (GN 31.8.2021). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). […]

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 14.09.2021

Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. „Scharia“ bedeutet auf Arabisch „der Weg“ und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen (AJ 23.8.2021; vgl. NYT 19.8.2021).

Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden (NYT 19.8.2021). Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (AJ 23.8.2021).

Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft (AJ 23.8.2021; vgl. WTN 3.9.2021). Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (AJ 23.8.2021; vgl. VOA 24.8.2021).

Weitergehende Informationen zum konkreten Rechtssystem und Justizwesen unter der im Entstehen begriffenen Talibanregierung sind zum aktuellen Zeitpunkt mit September 2021 noch nicht bekannt. […]

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 14.09.2021

Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.8.2021). Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (BBC 20.8.2021; vgl. AP 3.9.2021). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien (BBC 20.8.2021).

Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 2.9.2021; vgl. REU 3.9.2021). […]“

1.3.2. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 30.08.2018:

„[…] Personen, die aus Afghanistan fliehen, können einem Verfolgungsrisiko aus Gründen ausgesetzt sein, die mit dem fortwährenden bewaffneten Konflikt in Afghanistan oder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen, oder aufgrund einer Kombination aus beiden Gründen. UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren der nachstehend aufgeführten Risikoprofile entsprechen, internationalen Flüchtlingsschutz benötigen können, jeweils abhängig von den persönlichen Umständen ihres Falles.

(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen

(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen

(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext von Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung

(4) Zivilisten, die verdächtigt werden, regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) zu unterstützen

(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen

(6) Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen […]“

1.3.3. UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan von August 2021:

„Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen. […]“

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in die Akten der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes sowie in die von dem Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden.

2.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zu den Sprachkenntnissen, Familienverhältnissen sowie den Lebensumständen des Beschwerdeführers in Afghanistan (sein Aufwachsen, Bildungsstand und seine Berufserfahrung) stützen sich auf seine diesbezüglich gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde, in dem Beschwerdeschriftsatz und in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf die im Verfahren vorlegten Unterlagen, die mit seinen Angaben im Einklang stehen. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers aufkommen lässt.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer verlobt ist, ergibt sich aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung am 28.10.2021. Die Feststellung betreffend den bestehenden Kontakt des Beschwerdeführers zu seiner Kernfamilie und seiner Verlobten beruht ebenfalls auf dessen Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Die Feststellungen zur Einreise des Beschwerdeführers nach Österreich und zum Datum der Stellung seines Antrages auf internationalen Schutz ergeben sich aus dem Akteninhalt.


2.2.    Zum Fluchtgrund des Beschwerdeführers:

Das Bundesverwaltungsgericht erachtet das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat aufgrund der Bedrohung durch die Taliban als glaubhaft:

Der Beschwerdeführer brachte gleichbleibend im gesamten Verfahren vor, dass er aufgrund seiner Tätigkeit als Trainer im Informatikbereich für das Unternehmen XXXX , das Projekte von internationalen NGOs ausgeführt und bei dem der Beschwerdeführer vorwiegend Schulungen für Frauen abgehalten habe, von den Taliban bedroht worden sei und im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung befürchte.

Dieses Vorbringen ist durchaus nachvollziehbar und wird durch die in das Verfahren eingebrachten Beweismittel des Beschwerdeführers gestützt. Im Asylverfahren machte der Beschwerdeführer übereinstimmende Angaben betreffend seine Arbeitstätigkeit als Trainer für das Unternehmen XXXX (vgl. Seite 5 f des Verhandlungsprotokolls 28.10.2021, OZ 12) und ergibt sich diese ebenso aus seinen vorgelegten Unterlagen, insbesondere der Bestätigung des Unternehmens über das Beschäftigungsverhältnis (AS 125). Der Beschwerdeführer hat von sich aus weitere Bescheinigungsmittel, nämlich zwei Drohbriefe der Taliban in Kopie (AS 153, Übersetzung AS 169), zwei Anzeigebestätigungen seines ehemaligen Arbeitgebers (AS 143 und 145, Übersetzung AS 181 und 185), die Meldung der Drohungen durch den Beschwerdeführer an den Vorsitz seines Unternehmens (AS 147, Übersetzung AS 183) sowie an den Gouverneur der Provinz Nangarhar (AS 149, Übersetzung 175) und die Antwort des Sicherheitskommandanten des Bezirks XXXX (AS 151, Übersetzung 177) vorgelegt, aus denen sich sein Vorbringen ableiten lässt. Der Beschwerdeführer hat in dieser Hinsicht ein hohes Maß an Mitwirkung gezeigt.

Festzuhalten ist, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers durchaus detailliert ist. Seitens des Bundesverwaltungsgerichts wird aber nicht verkannt, dass es an manchen Passagen vage und widersprüchlich geblieben ist. So wies die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid bezüglich der zeitlichen Einordnung der telefonischen Bedrohung darauf hin, dass der Beschwerdeführer dazu keine Aussagen treffen konnte (vgl. Seite 98 des Bescheides). Auf Befragung in der mündlichen Beschwerdeverhandlung gab der Beschwerdeführer an, die SMS und Anrufe in der zweiten Hälfte des Jahres 2014 erhalten zu haben, genauere Angaben vermochte er nicht zu machen (vgl. Seite 5 der OZ 12). Weiters wichen seine Aussagen in der mündlichen Beschwerdeverhandlung hinsichtlich des Tätigwerdens der Sicherheitsbehörde, nachdem sein früherer Arbeitgeber die Drohungen gemeldet hatte, von seinem Vorbringen vor der belangten Behörde ab. Trotz dieser Ungereimtheiten und Widersprüche lassen sich die Geschehnisse im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers anhand seiner übrigen Angaben in Zusammenschau mit den vorgelegten Dokumenten in den wesentlichen Punkten nachvollziehen und stimmen weitgehend überein.

Manche Widersprüche konnten im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung aufgeklärt werden:

Im angefochtenen Bescheid setzte sich die belangte Behörde wiederholt mit Abweichungen in den Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich des Inhalts der Drohungen auseinander (vgl. Seite 98 ff dieses Bescheides). Im Gegensatz dazu vermochte der Beschwerdeführer deren Ablauf sowie Inhalt in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen glaubhaft und in sich schlüssig zu schildern. In diesem Zusammenhang führte die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid ebenfalls ins Treffen, dass der Beschwerdeführer konträr zu seinen Angaben in der Einvernahme im ersten Drohbrief nicht bedroht worden sei. Entgegen den Ausführungen der belangten Behörde kann eine solche Bedrohung aus der im Akt befindlichen Übersetzung des ersten Drohbriefes (AS 169), die die belangte Behörde mit Schreiben vom 27.10.2017 in Auftrag gegeben hatte, entnommen werden, wonach dem Beschwerdeführer im Fall eines Zuwiderhandelns der Tod drohe. Dies bestätigt auch die neuerliche Übersetzung im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung (vgl. Seite 10 der OZ 12, arg. „R ersucht nunmehr den D, die beiden Drohbriefe zu übersetzen [AS 153]. […] Der erste Drohbrief mit der Nummer 338 ist mit dem 17.07.1393, was den 09.10.2014 entspricht, datiert. Im Briefkopf steht: „Im Namen Gottes, Islamisches Emirat Afghanistan.“ […] D übersetzt nunmehr nach Rücksprache mit BF: „Du, XXXX und deine Freunde [Kollegen] werden hiermit ernsthaft gewarnt, sich von den Ungläubigen abzulösen. Im Falle, dass ihr dieser Forderung nicht nachkommt, seid ihr für den eigenen Tod [Blutvergießen] verantwortlich.“).

Überdies erscheinen die Rückkehrbefürchtungen des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der dem gegenständlichen Verfahren zugrunde gelegten Länderberichte plausibel. Wie sich aus diesen ergibt, versicherten die Taliban nach ihrer Machtübernahme zwar, dass keine Vergeltungshandlungen gegen Anhänger der früheren Regierung oder gegen Verfechter verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte gesetzt werden. Inzwischen gibt es aber glaubwürdige Berichte, wonach es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen durch Mitglieder der Taliban, darunter zu Hinrichtungen von Zivilisten sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, gekommen ist. Den Quellen zufolge suchen die Taliban nach Afghanen und Afghaninnen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den (ehemaligen) afghanischen Streitkräften. Sie führen eine sogenannte „schwarze Liste“ und gingen nach ihrer Machtübernahme auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Haus zu Haus und bedrohten deren Angehörige. Die Taliban nutzen dabei auch soziale Medien und Internettechnik, um Gegner des Regimes ausfindig zu machen. Es ist nicht bekannt, auf welche Datenbanken, die sensible persönliche Informationen enthalten, die Taliban Zugriff haben. Mögliche betroffene Datenbanken der afghanischen Regierung sind beispielsweise Datenbanken im Zusammenhang mit der Beantragung von Dokumenten durch afghanische Bürger, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium.

In Anbetracht dessen ist die den Beschwerdeführer individuell treffende Gefährdungssituation erhöht. Es gibt keine konkreten Hinweise darauf, dass er gefälschte oder verfälschte Beweismittel präsentiert hat. Außerdem hinterließ der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einen glaubwürdigen Eindruck. Auf Nachfrage antwortete dieser spontan und wirkte dementsprechend aufrichtig.

Aus den genannten Gründen sowie angesichts des persönlichen Eindrucks, den das erkennende Gericht im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung gewonnen hat, überwiegen trotz gewisser Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten in den Aussagen des Beschwerdeführers die für die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens sprechenden Umstände die gegenteiligen. Daher konnte das Vorbringen des Beschwerdeführers den Feststellungen zugrunde gelegt werden.

2.3.    Zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Es wurde vor allem Einsicht genommen in folgende Erkenntnisquellen des Herkunftsstaates des Beschwerdeführers:

1.       Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.09.2021 (Version 5)

2.       UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

3.       UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan von August 2021

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Ausführungen zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1.    Das Verfahren der Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes) ist durch das VwGVG geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51/1991 idF BGBl. I Nr. 58/2018, mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (vgl. insbesondere § 1 BFA-VG).

§ 28 VwGVG („Erkenntnisse“) regelt die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte und lautet auszugsweise wie folgt:

„§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. […]“

Zu A)

Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides - Zuerkennung des Status des Asylberechtigten:

3.2.    Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg.cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (in der Folge GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr. Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen muss. Weiters muss sie sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Anträge auf internationalen Schutz sind gemäß § 3 Abs. 3 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn den Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§11 AsylG) offensteht (Z.1) oder der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat (Z. 2).

Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG z.B. VwGH 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist – wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert, deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/-20/0539).

Zur Beurteilung, ob die Verfolgungsgründe als glaubhaft gemacht anzusehen sind, ist auf die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und das Vorbringen zu den Fluchtgründen abzustellen. Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, 95/01/0627).

„Glaubhaftmachung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK ist die Beurteilung des Vorgetragenen daraufhin, inwieweit einer vernunftbegabten Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen wohlbegründete Furcht vor Verfolgung zuzugestehen ist oder nicht. Erachtet die Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung die Angaben des Asylwerbers grundsätzlich als unwahr, können die von ihm behaupteten Fluchtgründe gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Zudem ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung gar nicht näher zu beurteilen (vgl. VwGH 09.05.1996, 95/20/0380). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, 2001/20/0006, betreffend Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH 28.05.2009, 2007/19/1248; 23.01.1997, 95/20/0303) reichen für sich alleine nicht aus, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. VwGH 26.11.2003, 2001/20/0457).

3.3.    Zur Verfolgung des Beschwerdeführers:

Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellt wurde, hat der Beschwerdeführer eine Verfolgung durch die Taliban aufgrund seiner Tätigkeit für das Unternehmen XXXX , das Projekte von internationalen NGOs umsetzte und bei dem der Beschwerdeführer vorwiegend Frauen im Informatikbereich schulte, im Verfahren hinreichend glaubhaft gemacht. Die Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen, konkret der zumindest unterstellten (talibanfeindlichen) politischen Gesinnung, verfolgt zu werden, ist damit begründet.

Den der Entscheidung zugrunde gelegten Länderinformationen sowie aus der UNHCR-Richtlinie ist abzuleiten, dass Personen, die tatsächlich oder vermeintlich u.a. mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen sowie Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte verstoßen, einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, von den Taliban angegriffen oder bedroht zu werden. Daher war der Beschwerdeführer aufgrund der ihm unterstellten politischen Gesinnung einem erhöhten Risiko ausgesetzt bzw. wäre dies erneut bei einer Rückkehr. Er ist somit als Person anzusehen, die in die von der UNHCR aufgestellten Risikoprofile fällt und einer erhöhten und asylrelevanten Verfolgungsgefahr durch die Taliban in Afghanistan ausgesetzt sein könnte. Diese Verfolgungsgefahr hat seit der Ausreise des Beschwerdeführers bedingt durch die zwischenzeitige Machtübernahme der Taliban zudem an asylrelevanter Aktualität und Intensität zugenommen, wobei auch in den Länderfeststellungen die Möglichkeiten der Taliban, potenzielle Gegner auszuforschen, dargestellt wurden.

Infolge des Umstandes, dass die Taliban in ganz Afghanistan die Macht innehaben und die nunmehrigen Regierungsverantwortlichen sind, ist für den Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht anzunehmen.

Angesichts der dargestellten Umstände ist im Fall des Beschwerdeführers daher davon auszugehen, dass er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Eingriffe asylrelevanter Intensität mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat, sich sohin aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK außerhalb Afghanistans befindet und in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (§ 6 AsylG 2005) oder eines E

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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