Entscheidungsdatum
02.12.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W177 2146832-1/27E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gesetzlich und rechtlich vertreten durch RA Mag. Bernhard GRAF, Rheinstraße 243, 6800 Feldkirch, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, vom XXXX , Zahl: XXXX , zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 26.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 27.09.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX in der Provinz Logar. Er habe acht Jahre die Schule besucht, jedoch weder eine Berufsausbildung erhalten noch Berufserfahrung gesammelt. Er gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an und sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Muttersprache sei Paschtu. Seine Eltern, zwei Brüder und vier Schwestern würden in seinem Heimatdorf in Afghanistan leben. Der BF habe sich bis zu seiner Ausreise in seinem Heimatdorf aufgehalten. In Österreich habe er keine Angehörigen. Sein Onkel habe seine Ausreise organisiert. Er sei legal mit einem Visum nach Moskau geflogen. Von dort sei es schlepperunterschützt über die Ukraine weitergegangen. In der Ukraine sei er drei Tage inhaftiert gewesen, ehe er sich fünf weiter Monate in einem Schlepperquartier aufgehalten haben. Danach sei er über ihm unbekannte Länder nach Österreich gekommen und abgeladen worden.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil sein Vater als Koch für die afghanische Regierung gearbeitet habe. Er selbst habe dies im Dorf aus Angst vor den Taliban nie gesagt. Sein Vater sei alle zwei Monate nach Hause gekommen und zwei Tage nach seinem letzten Besuch spurlos verschwunden. Er selbst sei damals von unbekannten Personen angegriffen und verletzt worden. Er habe die Vermutung, dass dies die Taliban gewesen sein könnten, weil sein Vater für die Regierung gearbeitet hätte. Daraufhin hätten seine Mutter und sein Onkel beschlossen, dass er das Land verlassen müsse. Im Falle seiner Rückkehr fürchte er um sein Leben.
3. Ein am 22.12.2015 nach einer am 27.11.2015 stattgefundenen Untersuchung erstelltes gerichtsmedizinisches Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung ergab, dass das vom BF angegebene Alter aufgrund der erhobenen Befunde aus gerichtsmedizinischer Sicht nicht ausgeschlossen werden könne.
4.Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 17.11.2016 gab der BF nach eingehender Belehrung an, dass es ihm gut gehe und er gesund sei. Er sei aber wegen einer geschwollenen Lippe in ärztlicher Behandlung. Er legte auch ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor. Er sei niemals inhaftiert gewesen, habe kein Problem aufgrund seiner Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit gehabt und sei weder politisch aktiv noch Mitglied einer politischen Partei gewesen.
Er stamme aus der Provinz Logar, wo er mit seinen Eltern und seinen Geschwistern (zwei Brüdern und vier Schwestern) im Dorf XXXX im Distrikt XXXX zusammengelebt habe. Sein Vater sei verschollen und zu seinem Onkel habe er seit drei Monaten keinen Kontakt mehr. Er sei die einzige Person gewesen, mit der er in Kontakt gestanden sei. Seine Nummer sei aus Versehen gelöscht worden.
Er sei leidig und habe keine Kinder. Er sei afghanischer Staatsbürger, sunnitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Seine Muttersprache sei Paschtu und er sei acht Jahre in die Schule gegangen, habe aber keinen Beruf erlernt. In Österreich besuche er weder die Schule noch erlerne er einen Beruf noch sei er Mitglied in einem Verein.
In seinem Heimatland habe der Mullah zu ihm gesagt, dass die Familienangehörigen ungläubige Muslime wären, weil sein Vater mit den amerikanischen Soldaten kooperiere. Er habe sein Heimatland zuvor nie verlassen. Nachdem er von unbekannten Männern zusammengeschlagen worden sei, hätten seine Mutter und Onkel beschlossen, ihn wegzuschicken. Er habe Afghanistan legal und mit einem Reisepass per Flugzeug über Dubai und Moskau verlassen. Danach sei er schlepperunterstützt nach Österreich gebracht worden. Auf Vorhalt, dass er widersprüchlich zu Erstbefragung angegeben habe, nicht in Kabul gewesen zu sein, gab er an, dass er drei bis fünf Tage bei seinem Onkel gewesen sei, obgleich er zuvor vermeinte, nicht in der Provinz, in der sein Onkel leben würde, gewesen zu sein.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass sein Vater alle drei bis vier Monate zu Hause gewesen sei. Zuletzt sei er drei bis vier Tage zu Hause gewesen und beim Einkaufen plötzlich verschwunden. Er selbst sei damals auch schon in der Schule gemobbt worden. Ihm sei vorgeworfen worden, dass seine Familie zum Christentum konvertiert sei und sein Vater für die Amerikaner arbeite. Zwei Wochen nach dem Verschwinden des Vaters habe ihm der Mullah gesagt, dass er nicht mehr in Moschee kommen dürfe und ihn geschlagen. Danach sei er von dort geflohen und auf mehrere unbekannte Männer getroffen, die ihn stark geschlagen hätten. Er habe vier Zähne verloren und auch ein paar Messerstiche erhalten. Er sei bewusstlos geworden und erst wieder im Krankenhaus aufgewacht, wo er sich fünf oder sechs Tage stationär aufgehalten habe. Danach sei er von seiner Mutter und seinem Onkel weggeschickt worden.
Sein Vater habe im Dorf noch Probleme wegen eines Grundstücksstreit gehabt. Er sei immer wieder lebensgefährlich bedroht worden und die Dorfbewohner hätten gesagt, sie würden seine Familie vernichten.
Er sei damals in ein Provinzkrankenhaus gebracht worden. Ob es eine Polizei in seinem Heimatdorf gäbe, wisse er nicht. Er habe jedenfalls keine Probleme mit der Polizei oder sonstigen Behörden gehabt. An die Polizei habe er sich nicht gewandt, weil ihm niemand gesagt habe, dass er sich wegen seiner Probleme an die Polizei hätte wenden können. Er habe sich auch nicht ausgekannt, dass er sich an eine andere Behörde oder Organisation mit seinen Problemen hätte wenden können. Die Verletzungen habe er auch in Erstbefragung genannt, jedoch seien diese nicht protokolliert worden. Den Grundstücksstreit habe er damals aber nicht erwähnt, aber in der Vorbereitung auf diese Einvernahme habe man ihn gefragt, ob sein Vater sonst noch Streit gehabt hätte, weshalb er diesen nun erwähnt habe. Er könne auch in keinem anderen Teil seines Landes leben, weil dort überall sein Leben in Gefahr wäre. Er sei noch minderjährig und die Sicherheitslage sei auch in den Großstädten schlecht. Einerseits sei er nicht in der Lage, sich seinen Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern, andererseits sei sein Vater verschwunden, weshalb er dort auch getötet werden würde. Er vermute, dass sein Vater von den Taliban, den Dorfbewohnern oder den Freunden entführt worden sei, weshalb diese ihn auch töten würden. Ansonsten würde ihm keine unmenschliche Strafe bzw. Behandlung oder die Todesstrafe drohen.
Er wolle noch richtigstellen, dass er nicht wisse, von welchem Flughafen er Afghanistan verlassen habe, zumal er zuvor vermeint habe, dass er vom Kabul aus weggeflogen sei. Er habe auch nicht erkannt, wie viele Männer ihn damals geschlagen hätten. Er habe damals in der Moschee warten müssen, die Männer seien ihm unbekannt gewesen und hätten ihn auch nicht bei seinem Namen genannt. Über sein Zielland und die Organisation der Reise könne er nichts sagen, zumal er von seinem Onkel und seiner Mutter weggeschickt worden sei.
In Österreich lebe er von der Grundversorgung. Er lerne Deutsch und betreibe Sport. Er sei arbeitswillig und würde gerne eine Lehre als Koch machen. Danach wurden dem BF Länderfeststellungen zu Afghanistan ausgehändigt und ihm eine Frist zur Stellungnahme bis zum 02.12.2016 eingeräumt.
5. Mit Schreiben vom 01.12.2016 brachte die rechtsfreundliche Vertretung des BF eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen zu Afghanistan ein. In dieser wurde betont auf die aktuell prekäre Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan hingewiesen. Ebenso wurde darauf hingewiesen, dass der BF aufgrund seines Fluchtvorbringens in Afghanistan einer Blutrache ausgesetzt sei und er diesbezüglich und aufgrund seiner Minderjährigkeit unter einige UNHCR-Risikoprofile falle. Aufgrund der Unterstellung, dass seine Familie zum Christentum konvertiert sei, werde er auch aus religiösen Gründen verfolgt. Ebenso es den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass die Situation für Rückkehrer aus westlichen Ländern ebenfalls schwierig sei. Der BF habe sein Fluchtvorbringen widerspruchsfrei und glaubhaft vorgebracht. Er sei auch deswegen gefährdet, weil er minderjährig sei und in Kabul kein soziales Netz habe. Daher würde er auch unter die soziale Gruppe der Waisenkinder fallen. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan sei dem BF jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren. Es wurde auch noch Integrationsinterlagen und medizinische Unterlagen vorgelegt. Diese war zu entnehmen, dass bezüglich der Zahnprobleme kein Rückschluss auf Gewaltanwendung zu entnehmen gewesen sei.
6. Mit Bescheid vom XXXX wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass die Angaben des BF zu seiner Nationalität, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit, seiner mittlerweile eingetretenen Volljährigkeit und der Verwendung der Sprache Paschtu als glaubwürdig zu betrachten seien. Ebenso müsse der BF als gesund betrachtet werden, zumal den vorgelegten Unterlagen zu entnehmen sei, dass der BF wegen der Zahnprobleme bereits in seinem Heimatland in Behandlung gewesen sei und aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen auch eine Gewalteinwirkung auf den BF unwahrscheinlich erscheinen lasse. Ebenso sei eine Schwellung der Oberlippe nicht mit einer Gewalteinwirkung im Herkunftsstaat vereinbar. Ebenso sei es zu beachten, dass der BF trotz der Schwellung regelmäßig einen Kontaktkampfsport betreiben würde. Bezüglich seines Fluchtweges sei zu bedenken gewesen, dass er völlig widersprüchliche und nicht logisch nachvollziehbare Angaben getätigt habe und er auf Vorhalt der Widersprüche lediglich Schutzbehauptungen hat anstellen können.
Eine asylrechtlich relevante Verfolgung in Bezug auf Afghanistan habe aufgrund der seitens des BF getätigten Angaben als nicht glaubhaft gemacht eingestuft werden müssen. So fanden sich in den Schilderungen bei der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA zahlreiche Widersprüche und Unplausibilitäten. So wurde es der allgemeinen Lebenserfahrung widersprechen, dass man solch schwere Verletzungen nicht bereits bei der Erstbefragung nennen würde und es eine Schutzbehauptung wäre, dass dies bei der Erstbefragung nicht protokolliert worden wäre. Es sei auch nicht nachvollziehbar gewesen, dass der BF erst nach einem Vorgespräch mit seiner Rechtsvertretung erstmals in der Einvernahme vor dem BFA Grundstücksstreitigkeiten seines Vaters mit den Dorfbewohnern erwähnt habe. Außerdem habe sich der BF in der Einvernahme darauf berufen, dass er zwei Wochen nach dem Verschwinden seines Vaters angegriffen worden wäre und er nach einem Krankenhausaufenthalt noch einige Tage bei seinem Onkel verbracht hätte. Hingegen vermeinte er bei der Erstbefragung, dass sein Vater ein Jahr vor seiner Antragstellung verschwunden sei und seine Reise bis nach Österreich fast ein halbes Jahr gedauert hätte. Alleine deshalb seien die Ausführungen über den Angriff zwei Wochen nach dem Verschwinden des Vaters unglaubwürdig. Daneben sei noch erwähnt, dass dem BF lediglich ein Schneidezahn fehle, weshalb es nicht plausibel ist, dass ihm vier Zähne ausgeschlagen worden wären. Für eine Unglaubwürdigkeit des Vorbringens spricht es auch, dass seine Angehörigen nach wie vor unbehelligt im Heimatdorf leben würden, obgleich sie den Drohungen der Dorfbewohner ausgesetzt sein würden und der BF auch nicht plausibel begründen habe können, warum er sich nicht an die Behörden seines Heimatlandes gewandt habe, um Schutz vor dieser Art der Verfolgung zu finden.
Es habe daher weder aufgrund politischer, religiöser, ethnischer Gründe festgestellt werden können, dass der BF in Afghanistan einer asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt sei. Ebenso sei der BF auch nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder als “high value target“ gefährdet. Da er volljährig, gesund, arbeitsfähig und mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan vertraut sei, weise er auch sonst keine Vulnerabilitätspunkte auf. In Afghanistan herrsche ebenfalls nicht auf dem gesamten Staatsgebiet eine vollkommene Instabilität.
Eine Gefahrenlage im Sinne der Art.2 und 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Auch wenn eine Rückkehr in seine als volatil eingestufte Heimatprovinz nicht möglich sei, sei dem BF eine Rückkehr in Stadt Kabul zumutbar. Diese innerstaatliche Fluchtalternative stünde ihm zur Verfügung, zumal er arbeitsfähig und arbeitswillig sei, er in Afghanistan über Berufserfahrung und familiäre Anknüpfungspunkte verfüge. Ebenfalls könnten er auf Rückkehrhilfe oder die Hilfe seiner Familie zurückgreifen. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.
7. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom XXXX ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
8. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 02.02.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgrund mangelhafter Ermittlungen, mangelhafter Länderfeststellungen und mangelhafter Beweiswürdigung erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass die Behörde den BF in der Einvernahme nicht genauer befragt habe und dem BF alleine aufgrund der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan der Tod drohen würde. Die belangte Behörde habe mangelhafte Länderfeststellungen getroffen habe, zumal sich die Versorgungslage drastisch verschlechtert habe und sich selbst in Kabul zuletzt zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle zugetragen hätten.
Auch wären die staatlichen Behörden nicht schutzfähig und schutzwillig gegen die vom BF vorgebrachte Gefährdung und der BF würde unter mehrere Risikoprofile des UNHCR fallen. Die Beweiswürdigung sei ebenfalls mangelhaft, zumal der BF glaubhaft angegeben habe, dass er eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe befürchte. Ebenso habe er Probleme aufgrund seiner Religionsgruppenzugehörigkeit geltend gemacht. Aufgrund seiner Ausreise zu einem Zeitpunkt als er noch ein Jugendlicher gewesen sei müsse man in Betracht ziehen, dass es Divergenzen im Vorbringen gegeben habe. Außerdem wäre eine lange Zeit von 14 Monaten zwischen den beiden Einvernahmen gelegen, weshalb dies in Kombination mit dem damaligen Gesundheitszustand und des jugendlichen Alters die Gründe für etwaige Widersprüche gewesen wären. Hierbei habe es die belangte Behörde verabsäumt die Strapazen des BF nach der anstrengenden Flucht sowie die eingeschränkt kognitiven Fähigkeiten aufgrund seiner Minderjährigkeit zu berücksichtigen. Ebenso sei er als verwestlicht zu betrachten, sodass er in der afghanischen Gesellschaft auffallen und diskriminiert werden würde.
Im Ergebnis habe der BF eine asylrechtlich relevante Verfolgung, gegen die er keinen ausreichenden staatlichen Schutz erlangen könne, dargelegt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei dem BF ebenso nicht zumutbar, weil er keine ordentliche Berufsausbildung habe und er in einer afghanischen Großstadt über kein soziales Netz verfüge. Ebenfalls habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert, sodass dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar sei. Daher hätte die belangte Behörde dem BF zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Der BF habe sich in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes gut integriert und stellte keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar, weshalb die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt hätte werden müssen. Es wurde auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
9. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 03.02.2017 vom BFA vorgelegt. Es wurde mitgeteilt, dass eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung aus dienstlichen Gründen nicht möglich sei und um eine Übersendung des Verhandlungsprotokolls vorab gebeten.
10. Mit Schreiben vom 07.11.2018 erging seitens der rechtsfreundlichen Vertretung eine Beschwerdeergänzung. In dieser wurde ausgeführt, dass der BF aufgrund seiner psychischen Erkrankung nun der sozialen Gruppe der psychischen Kranken angehöre und er deswegen einer asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt sei. Da es in Afghanistan auch keine adäquate Versorgung von psychisch Kranken geben würde, sei dem BF zumindest der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren. Aufgrund seiner Erkrankung und der ineffizienten Versorgung von Rückkehrern sei dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative jedenfalls nicht zumutbar. Personen, die aus dem Ausland zurückkehren würden, wären noch zusätzlichen Diskriminierungen in Afghanistan ausgesetzt, weil diese als verwestlicht angesehen werden würden. Des Weiteren erfolgte die Vorlage eines Konvoluts an integrationsbegründenden und medizinischer Urkunden.
11. Mit Schreiben vom 26.11.2019 erfolgte seitens der rechtsfreundlichen Vertretung eine Beschwerdeergänzung. In dieser erfolgte erneut die Thematisierung der schlechten Sicherheitslage in Zusammenschau mit den individuellen Verhältnissen des BF und die Vorlage eines Konvoluts an integrationsbegründenden sowie medizinischen Urkunden.
12. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache vom bisher zuständigen Gerichtsabteilung (W258) abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.
13. Mit Schreiben vom 19.01.2021 wurde dem BVwG ein Beschluss des Bezirksgerichts XXXX übermittelte, der beinhaltetet, dass RA Mag. Bernhard GRAF mit Wirkung der Bescheiderlassung vom 14.01.2021 zum einstweiligen Erwachsenenvertreter im Asylverfahren bestellt wurde.
Auf Anfrage des BVwG vom 19.03.2021 antwortete die bisherige Rechtsvertretung, zu diesem Zeitpunkt die BBU GmbH, dass sie ihre Vollmacht mit Beschluss des XXXX vom 14.01.2021für hinfällig erachte.
14. Nach Vorkorrespondenz mit dem Erwachsenenvertreter des BF im Asylverfahren, übersandte dieser mit Schreiben vom 03.09.2021, das am 11.06.2021 erstellte Sachverständigengutachten über die psychische Krankheit des BF. Zuvor wurde der BF seitens des XXXX am 23.08.2021 verständigt, dass der einstweilig bestellte Erwachsenenvertreter, die Vertretung des BF in gegenständlichem Asylverfahren übertragen wurde.
Das psychiatrische Gutachten enthielt, dass dem BF in zwei Berichten eines Psychiaters vom März und April 2018 eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert worden sei. Aufgrund der Vorfälle in Afghanistan leide der BF an Ein- und Durchschlafstörungen öfters auch mit Albträumen. Er leide tagsüber auch an Stimmungsschwankungen und sei oft nervös-grüblerisch, mitunter würden Suizidgedanken auftreten. Eine Erwachsenenvertretung des BF sei seitens der Caritas angeregt worden, weil diese im Zuge der Betreuung festgestellt habe, dass dieser mit den einfachsten, lebenspraktischen Dingen überfordert sei. Er verstehe das ihm Gesagte zwar, jedoch sei es ihm nicht möglich, den Inhalt des ihm Gesagten zu erfassen. Auch wenn der BF erkennbar intellektuell einfach strukturiert sei, sei eine akute Angstsymptomatik, wie bei seinem stationären Aufenthalt in der Psychiatrie im Sommer 2019, nicht gegeben. Wenn dem BF eine posttraumatische Belastungsstörung im Jahr 2018 diagnostiziert wurde, so liege diese zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr vor, ebenso liege aktuell weder eine Psychose noch ein psychosewertiges Zustandsbild vor. Beim BF könne jedoch eine leichte Intelligenzminderung nicht ausgeschlossen werden, wodurch eine mit einer psychischen Krankheit vergleichbare Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit vorliegen würde. Er sei daher weder testier- noch handlungsfähig. Sein Wohl wäre bei der Anwesenheit einer mündlichen Verhandlung nicht gefährdet.
15. Am 03.09.2021 erging seitens des BVwG ein Parteiengehör, in welchem den Verfahrensparteien die Möglichkeit zur allfälligen Einsicht in die aktuellen Länderfeststellungen, wobei die im Verfahrensakt aufliegenden Informationen über eine vorläufige aktualisierte Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation beinhalte, die auf der EASO Guidance und der neuen UNHCR-Richtlinie basieren würde, und zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei Wochen eingeräumt wurde. Sollten keine gegenteiligen und begründeten Anträge gestellt werden, beabsichtige das Gericht auf Basis des Sachverständigengutachtens ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung dem BF subsidiären Schutz zu gewähren.
Die Verfahrensparteien ließen die im Zuge des Parteiengehörs eingeräumte Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ungenutzt verstreichen.
16. Der BF legte im Laufe des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Dokumentation von Arztbesuchen und ärztliche Unterlagen
? Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen
? Teilnahmebestätigung am Basisbildungskurs
? Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben
? Nachweis über eingelöste Dienstleistungschecks
? Befunde, Arzt- und Therapieberichte über eine posttraumatische Belastungsstörung
? Bestätigung über psychotherapeutische Behandlung
? Arztbrief eines Landeskrankenhauses betreffend Suizidalität
? Bestätigung für die Durchführung von freiwilliger Arbeit
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Paschtu. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund. Jedoch gilt es zu bedenken, dass im Zuge der Betreuung festgestellt wurde, dass der BF mit den einfachsten, lebenspraktischen Dingen überfordert ist. Er versteht das ihm Gesagte zwar, jedoch ist es ihm nicht möglich den Inhalt des ihm Gesagten zu erfassen. Auch wenn der BF erkennbar intellektuell einfach strukturiert ist, ist eine akute Angstsymptomatik, wie bei seinem stationären Aufenthalt in der Psychiatrie im Sommer 2019, nicht gegeben. Wenn dem BF eine posttraumatische Belastungsstörung im Jahr 2018 diagnostiziert wurde, so liegt diese zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr vor, ebenso liegt aktuell weder eine Psychose noch ein psychosewertiges Zustandsbild vor. Beim BF kann jedoch eine leichte Intelligenzminderung nicht ausgeschlossen werden, wodurch eine mit einer psychischen Krankheit vergleichbare Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit vorliegt. Er ist daher weder testier- noch handlungsfähig.
Der BF wurde nach seinen Angaben im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Logar, wo er bis zu seiner erstmaligen Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 lebte. In seinem Heimatland hat der BF eine insgesamt achtjährige Schulbildung erhalten und keinen Beruf erlernt oder Berufserfahrung gesammelt. Seine Familie lebt nach wie vor in seinem Heimatdorf in Afghanistan. In Österreich sind keine weiteren Verwandten aufhältig. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF war in seinem Heimatland nicht inhaftiert, hatte in seinem Herkunftsstaat keine Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv.
Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015, die legal und per Flugzeug über Dubai und Moskau erfolgte, auf dem Landweg und schlepperunterstützt über die Ukraine, wo er sich monatelang aufgehalten hat, und dem BF unbekannte Länder, ehe er am 26.09.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF stellte am 26.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil sein Vater als Koch für die afghanische Regierung gearbeitet habe. Er selbst habe dies im Dorf aus Angst vor den Taliban nie gesagt. Sein Vater sei alle zwei Monate nach Hause gekommen und zwei Tage nach seinem letzten Besuch spurlos verschwunden. Er selbst sei damals von unbekannten Personen angegriffen und verletzt worden. Er habe die Vermutung, dass dies die Taliban gewesen sein könnten, weil sein Vater für die Regierung gearbeitet hätte. Daraufhin hätten seine Mutter und sein Onkel beschlossen, dass er das Land verlassen müsse. Im Falle seiner Rückkehr fürchte er um sein Leben.
Es wird festgestellt, dass der BF weder seitens einer Privatperson noch von einer regierungsfeindlichen Gruppierung bedroht bzw. gesucht wird. Ebenso wird der BF nicht von der Regierung oder den Taliban oder einer Privatperson gesucht bzw. bedroht.
Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung noch von sonstigen Privatpersonen entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung. Es gibt auch keine sonstigen Privatpersonen, die ihn suchen würden.
Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung durch eine Privatperson bzw. einer regierungsfeindlichen Gruppierung oder durch die Regierung oder durch die Taliban ausgesetzt ist.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch andere Personen oder die Regierung.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Paschtunen oder einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.
Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.
1.4. Zum Leben in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 26.09.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 26.09.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF hat keine Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich auch keine besonderen Merkmale zur einer Abhängigkeit zu anderen im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Personen.
Der BF pflegte in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Er hat aber soziale Bindungen geknüpft und das soziale Verhalten des BF in der Gesellschaft wird durch eine Vielzahl Referenzschreiben belegt, wo der BF als hilfsbereit, freundlich und fleißig wahrgenommen wird.
Der BF besuchte zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen bestätigen. Er ist daher in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf elementarer Basis auf Deutsch zu kommunizieren.
Da der BF keine Arbeitserlaubnis hat, war er bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Ferner verfügt er über keine Einstellzusage. Der BF hat vereinzelt gemeinnützige bzw. ehrenamtliche Aufgaben übernommen. Eine außergewöhnliche Integration war nicht ersichtlich.
Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten. Die lange Verfahrensdauer ist dem BF in keiner Weise anzulasten.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach z