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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
BFA-VG 2014 §9 Abs2Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Sembacher, als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 15. Juni 2021, W256 2163890-1/67E und W256 2191122-1/44E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. D A, 2. D A, in U, vertreten durch Mag.a Julia M. Kolda, Rechtsanwältin in 4400 Steyr, Pachergasse 17/5A/3), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Erkenntnisse werden im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich ihrer Spruchpunkte B, C und D (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels sowie ersatzlose Behebung der auf den Rückkehrentscheidungen aufbauenden Spruchpunkte), wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die Mitbeteiligten sind türkische Staatsangehörige. Der Erstmitbeteiligte ist Vater der Zweitmitbeteiligten und besitzt darüber hinaus auch die syrische Staatsangehörigkeit. Er reiste gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen zwei minderjährigen Kindern in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 14. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Er brachte zusammengefasst vor, aus Syrien zu stammen, syrischer Staatsangehöriger und Kurde zu sein. Es herrsche Krieg in Syrien. Die kurdische Partei PYD habe Druck ausgeübt, weil er nicht Mitglied ihrer Partei gewesen sei. Es sei ein Cousin getötet und das Grundstück für die Landwirtschaft weggenommen worden.
2 Am 22. August 2016 sowie am 11. November 2016 langten beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zum Teil anonyme Hinweise ein, dass der Erstmitbeteiligte auch türkischer Staatsangehöriger sei. Im Rahmen einer niederschriftlichen Einvernahme beharrte der Erstmitbeteiligte darauf, keine türkische Staatsangehörigkeit zu besitzen.
3 Mit Schreiben vom 19. April 2017 bestätigte das türkische Generalkonsulat in Salzburg, dass sowohl der Erstmitbeteiligte als auch seine Frau und die beiden Kinder die türkische Staatsangehörigkeit besitzen. Seine Frau und seine Kinder seien in der Türkei geboren und sie besäßen die türkische Staatsbürgerschaft von Geburt an, der Erstmitbeteiligte habe sie seit 20. Februar 2012.
4 Mit Bescheid vom 21. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Erstmitbeteiligten auf internationalen Schutz ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Erstmitbeteiligten in die Türkei zulässig sei.
5 Der Erstmitbeteiligte stellte am 9. Februar 2018 als gesetzlicher Vertreter für seine am 19. Jänner 2018 in Österreich geborene Tochter, die Zweitmitbeteiligte, einen Antrag auf Gewährung desselben Schutzes nach § 34 Asylgesetz 2005.
6 Mit Bescheid vom 21. Februar 2018, berichtigt mit Bescheid vom 9. März 2018, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der Zweitmitbeteiligten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung der Zweitmitbeteiligten in die Türkei zulässig sei und eine Frist zur freiwilligen Ausreise nicht bestehe.
7 Begründend führte das Bundesamt aus, dass die Zweitmitbeteiligte - mangels Vorbringens eigener Fluchtgründe - keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft habe machen können.
8 Mit den nach einer mündlichen Verkündigung am 17. Mai 2019 ausgefertigten Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobenen Beschwerden als unbegründet ab. Mit Erkenntnissen vom gleichen Tag wurden auch die Anträge auf internationalen Schutz der restlichen Familienmitglieder (der Ehefrau des Erstmitbeteiligten und den beiden weiteren Kindern) abgewiesen und Rückkehrentscheidungen erlassen, wobei jedoch in weiterer Folge von diesen Verfahrensparteien keine Rechtsmittel mehr erhoben wurden.
9 Auf Grund der Erhebung von außerordentlichen Revisionen an den Verwaltungsgerichtshof wurden die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich der beiden hier Mitbeteiligten wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben (VwGH 3.3.2020, Ra 2019/01/0446 bis 0447). Auf Grund der Doppelstaatsbürgerschaft des Erstmitbeteiligten falle die Beschwerde in die Zuweisungsgruppe „AFR-W 3“, für welche die Gerichtsabteilung L 518 nicht zuständig gewesen sei.
10 Im zweiten Rechtsgang wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit den Erkenntnissen vom 15. Juni 2021 die Beschwerden hinsichtlich der Nichtzuerkennung von Asyl und subsidiären Schutz sowie hinsichtlich der darin erfolgten Nichterteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ als unbegründet ab (Spruchpunkt A). Im Übrigen - nur dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision - wurde den Beschwerden mit den angefochtenen Erkenntnissen stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine die Mitbeteiligten betreffende Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei (Spruchpunkt B) und den Mitbeteiligten jeweils gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 54 Abs. 1 Z 2 und Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt werde (Spruchpunkt C). Mit Spruchpunkt D wurden die jeweils erlassenen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen hinsichtlich der beiden Mitbeteiligten ersatzlos behoben. Im Weiteren erklärte das Verwaltungsgericht die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
11 Das Verwaltungsgericht ging - soweit für das Revisionsverfahren relevant - bei der Prüfung der Erlassung einer Rückkehrentscheidung davon aus, dass sich der Erstmitbeteiligte seit mehr als fünf Jahren dauerhaft im Bundesgebiet aufhalte, wobei sein Asylverfahren vom Beginn seines Aufenthalts in Österreich bis zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung angedauert habe. Er sei strafrechtlich unbescholten. Es sei zu berücksichtigen, dass sich der Erstmitbeteiligte der vorübergehenden Natur seines Aufenthalts stets bewusst sein habe müssen. Er habe seinen Aufenthalt in Österreich dazu genutzt, sich schnellstmöglich sprachlich und sozial zu integrieren. So habe er innerhalb von drei Jahren die deutsche Sprache auf A2-Niveau erlernt, habe Deutschkurse besucht und die Sprachprüfung auf A2-Niveau erfolgreich abgelegt. Er wohne seit über fünf Jahren im Pfarrhof von U. Der Erstmitbeteiligte habe das Team der katholischen Jugend mit seinen handwerklichen Fähigkeiten bereits mehrfach unterstützt. Daneben unterstütze er die Gartenpflege rund um das Seniorenheim. Die Mitbeteiligten hätten zahlreiche Unterstützungsschreiben, welche die Familie als hilfsbereit und als bestens integriert bezeichne. Der Erstmitbeteiligte sei seit 2018 zudem Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und werde dort als wertvolles Feuerwehrmitglied beschrieben, der sich durch sein enormes Engagement im Feuerwehrwesen auszeichne. Des Weiteren zeige sich der Erstmitbeteiligte bestrebt, eine entsprechende Basis für eine bestmögliche Eingliederung in den österreichischen Arbeitsmarkt zu finden. Er arbeite seit Jahren ehrenamtlich in der Gemeinde und verfüge bereits über eine Vollzeitarbeitsstellenzusage bei einem Betrieb in der Gemeinde. Diese Tätigkeiten steigerten im Sinne eines Beitrags für die Allgemeinheit jedenfalls den Grad seiner Integration und verstärkten seine Interessen im Rahmen der durchzuführenden Abwägungen nach Art. 8 EMRK. Der Erstmitbeteiligte verfüge in Österreich über einen Bruder, dem der Status eines Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Es bestehe ein enger Kontakt, wenngleich weder ein gemeinsamer Wohnsitz noch ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis vorliege. Der Erstmitbeteiligte lebe mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern, darunter die Zweitmitbeteiligte, seit über fünf Jahren im Pfarrhof der Gemeinde. Er verfüge zwar über Angehörige in der Türkei als auch in Syrien, lebe aber seit Jahren in Österreich. Neben der fortgeschrittenen Integration in Österreich sei er um eine finanzielle Eigenständigkeit bemüht, weshalb die Bindung zu seinen Herkunftsländern im Vergleich zum Bundesgebiet weniger stark ausgeprägt sei. Insgesamt abgewogen bedeute die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen schwerwiegenden Eingriff in das in Österreich entfaltete Familien- und Privatleben des Erstmitbeteiligten. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die minderjährige Zweitmitbeteiligte würde ebenso unverhältnismäßig in deren Rechte gemäß Art. 8 EMRK eingreifen. Nach der Rechtsprechung stelle eine Rückkehrentscheidung, die zwangsläufig zu einer Trennung eines Kleinkindes von Mutter oder Vater führe, in jedem Fall eine maßgebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls dar. Bei der minderjährigen Zweitmitbeteiligten handle es sich um ein dreijähriges Kleinkind, das seit seiner Geburt in Österreich im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und dem Erstmitbeteiligten lebe. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die minderjährige Zweitmitbeteiligte würde jedenfalls zu einer Trennung von ihrem Vater führen, wobei eine Aufrechterhaltung des Familienlebens mittels moderner Kommunikationsmittel angesichts des Alters der Minderjährigen nicht möglich sei. Eine Fortsetzung des Familienlebens im Herkunftsstaat sei nicht zumutbar. Somit sei die Erlassung von Rückkehrentscheidungen auf Dauer für unzulässig zu erklären. Somit sei dem Erstmitbeteiligten und der Zweitmitbeteiligten gemäß § 55 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 2005 eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen. Letztlich seien die Spruchpunkte hinsichtlich der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen aufzuheben gewesen.
12 Die vorliegende Amtsrevision richtet sich gegen diese Erkenntnisse, soweit die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidungen ausgesprochen wurde, Aufenthaltsberechtigungen gemäß § 55 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 2005 erteilt und rechtlich davon abhängende Aussprüche getätigt wurden.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revision und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht das Vorverfahren eingeleitet. Es wurden seitens der Mitbeteiligten Revisionsbeantwortungen erstattet, in der sie die Abweisung der Revisionen beantragten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
14 Zur Zulässigkeit der Revisionen wird zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht sei von dieser Judikatur abgewichen, weil es die Frage, ob das Privatleben in einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem sich der Fremde des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei, nicht entsprechend berücksichtigt habe. Dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen habe das Bundesverwaltungsgericht nicht die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration der Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Das Verwaltungsgericht verkenne auch, dass die lange Aufenthaltsdauer u.a. darauf zurückzuführen sei, dass der Erstmitbeteiligte seinen Mitwirkungspflichten im Asylverfahren gemäß § 15 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3 Z 4 Asylgesetz 2005 nicht nachgekommen sei und er seine türkische Staatsangehörigkeit im Rahmen des Asylverfahren vorsätzlich verschwiegen habe. Des Weiteren bleibe das Bundesverwaltungsgericht in den angefochtenen Erkenntnissen auch eine nachvollziehbare Abwägung der festgestellten privaten Interessen der Mitbeteiligten mit dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen schuldig. Soweit das Bundesverwaltungsgericht zu Gunsten der privaten Interessen des Erstmitbeteiligten werte, dass im Bundesgebiet ein Familienleben bestehe und daher im Vergleich zur familiären Anbindung in Österreich die Bindungen zum Herkunftsstaat geringer ausfallen würden, lasse es unbeachtet, dass gegen die Angehörigen der Kernfamilie der Mitbeteiligten Rückkehrentscheidungen erlassen worden seien und diese nicht zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt seien.
15 Die Revisionen sind zulässig, sie sind auch begründet.
16 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. VwGH 18.11.2021, Ra 2021/14/0301, mwN).
17 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 3.9.2021, Ra 2020/14/0282, mwN).
18 Die durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das Bundesverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 15.4.2020. Ra 2019/14/0420, mwN).
19 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:
20 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 16.2.2021, Ra 2019/19/0440, mwN).
21 Desgleichen darf nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG („Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) zwar nicht in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Sinn wiederholt klargestellt, dieser Aspekt habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen könne (vgl. VwGH 8.7.2021, Ra 2021/20/0080, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat aber auch mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 20.10.2021, Ra 2021/14/0304, mwN).
22 Die Amtsrevision zeigt in diesem Zusammenhang zutreffend auf, dass das Bundesverwaltungsgericht - welches ohne nähere Begründung lediglich ausführt, dass in Anbetracht der über fünfjährigen Aufenthaltsdauer des Erstmitbeteiligten diese Dauer „sehr für seinen Verbleib im Bundesgebiet sprechend angesehen werden müsse und es sich um eine solche Zeitspanne handle, die ihm auch nicht vorwiegend angelastet werden könne“ - den Umstand, wonach die integrationsbegründenden Schritte des Erstmitbeteiligten in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, unberücksichtigt gelassen hat. Insofern hat das Bundesverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und seinen Anwendungsspielraum überschritten.
23 Dazu kommt, dass sich das Bundesverwaltungsgericht auch mit dem Umstand, dass der Erstmitbeteiligte seine (zweite) im Jahr 2012 erworbene türkische Staatsangehörigkeit bei der Antragstellung nicht angab und diese - aufgrund von Hinweisen - nach einem eigens dazu durchgeführten Ermittlungsverfahren nach Vorhalt durch die Behörde auch zunächst abstritt, nicht auseinandergesetzt hat. Es kann daher entgegen den Erwägungen in den angefochtenen Erkenntnissen nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die über fünfjährige Aufenthaltsdauer ohne ein Zutun des Erstmitbeteiligten zustande kam. In diesem Licht werden die vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten Integrationsbemühungen des Erstmitbeteiligten auch im Hinblick auf die Ausführungen in der Amtsrevision, wonach die vom Bundesverwaltungsgericht aufgezeigten integrativen Schritte des Erstmitbeteiligten, die bereits - in anderen Fällen - Gegenstand von höchstgerichtlichen Entscheidungen gewesen seien, keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung aufweisen würden, erneut zu beurteilen sein.
24 Indem das Bundesverwaltungsgericht bereits die genannten Aspekte nicht (hinreichend) berücksichtigt hat, hat es im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten und familiären Interessen der Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet und dadurch seinen Anwendungsspielraum überschritten.
25 Im fortgesetzten Verfahren wird auch dem in der Revision angesprochenen Aspekt, dass das Bundesverwaltungsgericht bei der Abwägung des Bestehens eines Familienlebens im Bundesgebiet und den Bindungen zum Herkunftsstaat unbeachtet lässt, dass gegen die Ehefrau und die weiteren Kinder des Erstmitbeteiligten (und somit gegen die Mutter und die Geschwister der Zweitmitbeteiligten) - soweit ersichtlich - aufrechte Rückkehrentscheidungen bestehen. Dies wird auch in Bezug auf das zu berücksichtigende Kindeswohl der Zweitmitbeteiligten von Bedeutung sein.
26 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
Wien, am 13. Jänner 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021140249.L00Im RIS seit
04.02.2022Zuletzt aktualisiert am
10.02.2022