TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/24 W229 2191555-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.08.2021
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Entscheidungsdatum

24.08.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W229 2191555-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Elisabeth WUTZL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX (alias XXXX , alias XXXX ), StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Georg BÜRSTMAYR, Hahngasse 25/5, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.




Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 26.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Als Geburtsdatum des Beschwerdeführers wurde der XXXX festgehalten.

Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.11.2015 gab der Beschwerdeführer an, er sei in Bamyan, Afghanistan am XXXX geboren. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei schiitischer Moslem. Seine Muttersprache sei Dari, er spreche zudem Pashtu, Urdu und Englisch. Er habe acht Jahre die Schule besucht und keine Berufsausbildung. Sein Vater sei vor circa 15 Jahren von den Taliban getötet worden, seine Mutter sei 46 Jahre alt. Er habe vier Brüder und eine Schwester. Der Aufenthalt der Familienangehörigen sei unbekannt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, er habe seine Heimat verlassen, weil er von den Taliban bedroht worden sei. Sein Vater sei Kommandant der Partei Hezb-e Wahdat-e Islami gewesen, wodurch das Leben des Beschwerdeführers auf Grund der Taliban in Gefahr gewesen sei. Des Weiteren gebe es in Afghanistan vorwiegend Sunniten, als Schiit und Hazara sei es sehr gefährlich, weshalb er auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit um sein Leben fürchte. Darüber hinaus habe er sich nicht weiterbilden können.

2. Im weiteren Verfahrensverlauf gab der Beschwerdeführer in seiner niederschriftlichen Einvernahme im Verfahren vor dem BFA am 19.07.2017 zusammengefasst weiter an, dass er am XXXX geboren sei, ledig sei und keine Kinder habe. Seine Familie habe er an der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei verloren, in Afghanistan seien noch eine Tante väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits, mit welchen aber kein Kontakt bestehe. Die Familie habe in Bamyan ein Restaurant und eine Landwirtschaft gehabt, auf welcher der Beschwerdeführer mitgeholfen habe. Der Beschwerdeführer spreche Dari, Paschtu, Urdu, Englisch und Deutsch. Er sei schiitischer Moslem, habe aber diesbezüglich kein Interesse.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass diese sehr stark mit seiner Familie verbunden seien. Als der Beschwerdeführer sechs Jahre alt gewesen sei, sei Bamyan von den Taliban übernommen worden. Sein Vater sei Kommandant der Gruppe bzw. der Partei Wahadat-e-Islami Afghanistan gewesen. Eine Gruppe im Dorf des Beschwerdeführers habe seinen Vater an die Taliban verraten und an diese auch Informationen über dessen Partei und seinen Status innerhalb der Partei weitergegeben. Der Vater des Beschwerdeführers sei von den Taliban festgenommen und umgebracht worden. Er sei an den Händen gefesselt und an einem Auto zu Tode geschliffen worden. Es habe zwischen der Gruppe des Vaters und der Gegenpartei Krieg gegeben, die Gegenpartei habe drei Personen verloren. Ein Freund des Vaters habe die ganze Familie des Beschwerdeführers über das Gebirge nach Pakistan gebracht, wo diese über sechs Jahre lang illegal gelebt habe während der Taliban-Regierung. Der Beschwerdeführer und dessen jüngerer Bruder hätten zu Hause Teppiche genäht, in der Nacht seien die Kinder von der Mutter in eine inoffizielle Schule geschickt worden. Als die neue Regierung in Afghanistan gekommen sei, seien sie mit großer Hoffnung wieder dorthin gegangen. Der Bruder des Beschwerdeführers sei im Oktober 2014 während einer Fahrt mit einem Kastenwagen von Bamyan nach Kabul an einem Ort namens XXXX von zwei Bewaffneten angehalten worden. Der Bruder habe nur die Geschwindigkeit verringert, dann aber wieder Gas gegeben, um zu flüchten. Von hinten sei auf den Bruder geschossen worden. Der Wagen sei dreimal getroffen worden, die Rückbank habe die Projektile gestoppt. Es sei daran gedacht worden, dass dies die Taliban gewesen sein könnten, da diese derartiges an diesem Ort oft mit Hazara gemacht hätten. Es habe auch zwei Beifahrer gegeben, einer von ihnen sei an der Schulter verletzt worden. Sie hätten versucht, die Angelegenheit anzuzeigen. Von den Behörden sei ihnen aber nur gesagt worden, dass sie froh sein sollten, am Leben zu sein, weil dieser Ort den Taliban gehöre. Aus Angst sei der Bruder des Beschwerdeführers rund einen Monat in Kabul geblieben und danach nach Bamyan zurückgegangen. Ein Freund des Vaters, ein Special Forces Kommandant in Kunduz, habe gesagt, sie sollten nicht mehr diesen Weg nehmen. Im Jänner 2015 sei der Beschwerdeführer auf der dreistündigen Rückfahrt von Bamyan gewesen, wo er Medikamente von seiner Mutter geholt sowie ein Buch mit dem Titel „ XXXX “ (Übersetzung: „Regeln/Gesetze, die man im Leben nicht verlieren sollte“) gekauft habe, und in XXXX von drei maskierten Personen, zwei davon bewaffnet, angehalten worden. Der Beschwerdeführer sei gezwungen worden, auszusteigen, das Auto habe weiterfahren müssen. Von den Anhaltern sei der Beschwerdeführer gefragt worden, ob er XXXX sei. Er verneinte, worauf er geschlagen worden sei. Der Beschwerdeführer habe gesagt, er sei Ismael. Er sei von hinten mit einer Pistole geschlagen worden, er sei bewusstlos gewesen und ihm seien zwei Zähne gebrochen worden. Der Beschwerdeführer sei in einem dunklen Zimmer, gefesselt an Armen und Beinen, wach geworden. Auf Fragen nach der Identität der Entführer und deren Motiv sei dem Beschwerdeführer geantwortet worden, er solle still sein. Der Beschwerdeführer habe gesagt, er sei vielleicht die falsche Person, weil er niemandem etwas getan habe. Eine Person habe dem Beschwerdeführer gesagt, es sei besser die Wahrheit zu sagen, andernfalls werde er zu Tode geprügelt. Dem Beschwerdeführer sei weiters gesagt worden, dass in seinem Ort ein Spion namens XXXX sei, von welchem alle Informationen den Beschwerdeführer betreffend stammen würden und welcher auch den Vater des Beschwerdeführers verraten habe. Zwischen der Familie des Beschwerdeführers und XXXX habe eine Feindschaft bestanden. Der Beschwerdeführer habe an vielen Demonstrationen teilgenommen und Bewohner seines Dorfes zu Wissenserwerb animiert. Er habe seine Aussagen nicht verändert und sei dabei geblieben, nicht XXXX zu sein. Nach zwei Stunden seien drei Personen mit einer Lampe gekommen und der Beschwerdeführer habe gesehen, dass er in einer Höhle sei. Eine der Personen habe begonnen, den Beschwerdeführer zu ohrfeigen. Er habe sehr große Schmerzen gehabt und auch gemerkt, dass sein Ohr geblutet habe. Er sei ungefähr zehn Minuten lang geschlagen worden, dann habe eine Person wegen eines Anrufes nach draußen gehen müssen. Als diese Person zurückgekommen sei, habe sie den Kommandanten zu sich gerufen. Nach einer weiteren Stunde in dieser Höhle habe er eine Schießerei gehört, weshalb die Wache nach draußen gegangen und nicht mehr zurückgekommen sei. Nach vierzig Minuten habe der Beschwerdeführer um Hilfe gerufen. Vier Personen, vier Zivilisten, seien reingekommen und hätten ihn befreit. Der Beschwerdeführer sei wieder bewusstlos geworden und in einem Spital in Bamyan um zehn Uhr vormittags aufgewacht. Sein Bruder sei von den Rettern geholt worden und am gleichen Tag gekommen. Nach zwei Wochen habe der Beschwerdeführer das Spital verlassen. Ungefähr zwei Monate danach, eines nachts am 01.04.2014, sei das Haus der Familie des Beschwerdeführers attackiert worden. Ein Schuss habe dem Hund der Familie gegolten. Die Nachbarn seien durch Schreie der Familie wach geworden, woraufhin die Angreifer wieder weggelaufen seien. Die Familie sei in ein anderes Haus in der Nachbarschaft gegangen und am nächsten Tag nach XXXX geflüchtet. Dort bei der Tante des Beschwerdeführers habe die Familie die Entscheidung getroffen, die Heimat zu verlassen. Der Beschwerdeführer sei in seiner Heimat nicht politisch tätig gewesen.

Zu seinem Gesundheitszustand befragt gab der Beschwerdeführer an, momentan Depressionen und Magenprobleme zu haben und leise zu hören, weshalb er in einem halben Monat operiert werde.

Der Beschwerdeführer legte ein Deutschzertifikat (A2), Teilnahmebestätigungen, Integrationsunterlagen und medizinische Unterlagen vor.

3. Mit Bescheid vom 05.03.2018 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.); gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).

4. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 05.03.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberatung für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

5. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 13.03.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 13 AsylG der Verlust seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet wegen eingebrachter Anklage einer gerichtlich strafbaren Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden kann, durch die Staatsanwaltschaft mitgeteilt.

6. Mit E-Mail vom 03.04.2018 an das BFA wurde die Vollmacht vom 22.03.2018 für die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers, ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, vorgelegt.

7. Der Beschwerdeführer erhob gegen den oben genannten Bescheid im Wege seiner damaligen Rechtsvertreterin fristgerecht Beschwerde, welche am 03.04.2018 beim BFA einlangte und in weiterer Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde (eingelangt am 06.04.2018).

8. Mit Schreiben vom 14.09.2018 gab der nunmehrige Rechtsvertreter des Beschwerdeführers die Vollmacht bekannt.

9. Am 23.01.2019 langte beim BFA eine Verständigung des Bezirksgerichts XXXX (GZ: XXXX ) von einer rechtskräftigen Verurteilung des Beschwerdeführers wegen § 15 StGB, § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen a EUR 4,00, insgesamt sohin EUR 200,00, im Nichteinbringungsfall 25 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, ein, die in weiterer Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde (eingelangt am 30.01.2019).

10. Am 29.03.2019 langte beim BFA eine Verständigung des BG XXXX (GZ: XXXX ) von einer rechtskräftigen Folgeverurteilung des Beschwerdeführers wegen § 15 StGB, § 127 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Monat, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren als Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 StGB unter Bedachtnahme auf die vorangegangene Verurteilung, ein, die in weiterer Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde (eingelangt am 12.04.2019).

11. Mit Schreiben vom 11.12.2020 legte die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe die ihr am 22.03.2018 vom Beschwerdeführer erteilte Vollmacht mit Wirkung zum 31.12.2020 zurück.

12. Am 09.06.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter teilnahmen, in welcher ein Zeuge und eine Zeugin einvernommen wurden und ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil.

Der Beschwerdeführer legte mehrere Integrationsunterlagen vor.

In der Verhandlung wurden Länderinformationen vorgelegt und dem Beschwerdeführer sowie dem BFA für eine allfällige schriftliche Stellungnahme eine Frist von zwei Wochen eingeräumt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer, XXXX , wurde in Afghanistan in der Provinz Bamyan im Distrikt XXXX im Dorf XXXX (andere Schreibweise: XXXX ) geboren. Als Geburtsdatum des Beschwerdeführers wurde bei der Antragstellung auf internationalen Schutz am 26.10.2015 der XXXX , bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.11.2015 der XXXX , bei der niederschriftlichen Einvernahme im Verfahren vor dem BFA am 19.07.2017 sowie bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 09.06.2021 der XXXX festgehalten. Der Beschwerdeführer wuchs in Afghanistan als schiitischer Moslem auf und ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er hat acht Klassen in sechs Jahren in einer Grundschule in Peschawar/Pakistan absolviert, hat keine Berufsausbildung, jedoch in Afghanistan in der Landwirtschaft und in der Wahlkommission gearbeitet. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, er spricht auch Paschtu, Urdu, Englisch und Deutsch.

Die Familie des Beschwerdeführers hatte in Afghanistan ein Restaurant und landwirtschaftliche Grundstücke. Der Vater des Beschwerdeführers starb vor etwa zwanzig Jahren im Rahmen eines gewaltsamen Konflikts. Seine Mutter, eine Schwester und vier Brüder verlor der Beschwerdeführer an der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei, ein Suchantrag im Wege des Roten Kreuzes wurde gestellt. Eine Tante väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits leben in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer hat Depressionen und ist deshalb in ärztlicher Behandlung. Er ist ledig und hat keine Kinder.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit Oktober 2015 in Österreich auf und lebt in einer Unterkunft für Asylwerber in Wien.

Er besuchte von 14.03.2016 bis 09.11.2016 einen Deutschkurs – Niveau A2 im XXXX sowie von 16.01.2017 bis 31.03.2017 einen Deutschkurs – Niveau B1, den er jedoch nicht absolvierte, da er den Pflichtschulabschluss absolvieren hatte wollen. Von 13.02.2017 bis 22.12.2017 besuchte er den (für den Zeitraum von 13.02.2017 bis 31.01.2018 mit 1160 Lehreinheiten angesetzten) Lehrgang für den Pflichtschulabschluss an der Volkshochschule XXXX im Umfang von 1077 Unterrichtseinheiten. Er absolvierte im Sommersemester 2017 den Kurs „Einführung in die Informatik“ an der Technischen Universität Wien im Umfang von 20 Stunden sowie im Zeitraum April bis Juni 2017 das OLIve Programm (Open Learning Initiative) der Universität Wien im Umfang von 66 Stunden. Weiters nahm der Beschwerdeführer von 14.05.2018 bis 26.06.2018 an einer Bildungsmaßnahme im Rahmen des Projekts „Start Wien Flüchtlinge – Integration ab Tag 1“ Alphabetisierung und Basisbildung teil. Am 04.07.2019 absolvierte der Beschwerdeführer die Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz (Niveau B1) und zu Werte- und Orientierungswissen. Von 05.08.2019 bis 09.08.2019 besuchte nahm er an einer Bildungsmaßnahme im Rahmen des Projekts „ALMIT – Acceleration of labour market integration of immigrants through mapping of skills and trainings“ – „ALMIT – Kompetenzworkshop“ im Umfang von 20 Unterrichtseinheiten teil.

Der Beschwerdeführer war unter anderem von Dezember 2015 bis Mai 2017 ehrenamtlich für das Projekt „Refugees for Refugees“ in der Reinigungsgruppe und im Dolmetscherteam sowie im Jahr 2017 für „Wieder Wohnen“ im Rahmen eines gemeinnützigen Gartenprojektes des Krankenanstaltenverbundes tätig. Von Dezember 2017 bis Juni 2019 verrichtete er bei der Magistratsabteilung 59 – Marktgruppe West gemeinnützige Tätigkeiten. Seit 30.08.2016 arbeitet er ehrenamtlich im XXXX (Pensionisten-Wohnhaus) mit den Bewohnern im stationären Bereich in einem Umfang von etwa zehn Stunden pro Monat.

Der Beschwerdeführer begründete im Jahr 2015 eine enge Freundschaft zu einer jungen österreichischen Frau, über die er weitere österreichische Freunde gefunden und einen großen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut hat, der sich regelmäßig trifft und mit dem der Beschwerdeführer in Kontakt ist.

Das Bezirksgericht XXXX verurteilte den Beschwerdeführer am 15.01.2019 (Rechtskraft: 19.01.2019) wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§15, § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen a EUR 4,00, insgesamt sohin EUR 200,00, im Nichteinbringungsfall 25 Tage Ersatzfreiheitsstrafe.

Das Bezirksgericht XXXX verurteilte den Beschwerdeführer am 06.09.2018 (Rechtskraft: 06.03.2019) wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§15, § 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren als Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 StGB unter Bedachtnahme auf die vorangegangene Verurteilung.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer stellte am 26.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer wuchs als schiitischer Moslem auf. Die Familie des Beschwerdeführers war religiös, die Mutter betete dreimal am Tag und fastete, auch der ältere Bruder betete und fastete. In Afghanistan fasteten der Beschwerdeführer und einer der Brüder nicht immer und gingen nicht zum wöchentlichen Freitagsgebet in die Moschee. Die Mutter des Beschwerdeführers übte diesbezüglich keinen Druck oder Zwang aus. Der Beschwerdeführer beschäftigte sich bereits in Afghanistan eingehend mit Glauben und Religionen, er betrachtet sich nicht mehr als schiitischen Moslem, sondern als Atheisten. In Österreich betet und fastet der Beschwerdeführer nicht, er besucht nicht die Moschee. Er hat sich bereits vor seinem Aufenthalt in Österreich und währenddessen aus innerer und freier, persönlicher Überzeugung vom islamischen Glauben abgewendet, dieser Schritt ist von Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit getragen. Es ist nicht anzunehmen, dass der Beschwerdeführer seinen Abfall vom islamischen Glauben in seinem Herkunftsstaat Afghanistan verleugnen würde bzw. verleugnen könnte.

Gegenüber jedem der beiden in der mündlichen Beschwerdeverhandlung befragten Zeugen äußerte der Beschwerdeführer, Religion spiele für ihn keine Rolle und er Atheist sei.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.4.1. Kurzinformation der Staatendokumentation - Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan; Stand: 20.8.2021

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weisen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a)

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Auslanderinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsachlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nahe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weise Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c). Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).

Vor den Taliban in Afghanistan fluchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Falle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen auftraten. Dazu kamen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge fuhren die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie fuhren wird. Demzufolge konnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban- Führer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen Uber politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia- Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird.

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmord Attentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Burger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban- Einsatze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jahrige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsringe gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban- Regierung bis 2001 war er stellvertretender Ausen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhandler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Tone gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kampfern aus, mit Unterstutzern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).

1.4.2. Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, Stand 17.08.2021

Aktuelle Lage in Afghanistan:

Anbei eine Zusammenfassung zur derzeitigen Lage in Afghanistan.

Diese kann sich aufgrund der derzeit sehr volatilen Lage im Land jederzeit rasch ändern!

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).

Kommentar der Staatendokumentation:

Sicherheitslage: Derzeit ist es zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen. Es wird davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen der afghanischen Armee und Polizei zu den Taliban entwickelt (Armee und Polizei haben sich praktisch kampflos ergeben). Ein Zugriff der Taliban auf die Ausrüstung des Sicherheitsapparats würde die Position der Taliban stärken, was aber nicht ausschließt, dass sich aus Kreisen des Sicherheitsapparats oder anderer Akteure im Land Widerstand formiert, der zu Kampfhandlungen führen könnte.

Wirtschaft/Versorgung: Es ist ein wirtschaftlicher Einbruch möglich, der auch die Versorgungslage treffen kann – einerseits durch die Machtergreifung der Taliban, der potentiellen Flucht gebildeterer und wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen sowie aufgrund des Fehlens der Wirtschaftskraft der internationalen Truppen (z.B. via lokaler Angestellter) sowie aufgrund der Frage, ob NGOs und internationale Organisationen weiter agieren dürfen. Hinzukommt auch die Frage, wie weit sich die Machtergreifung der Taliban auf die Berufstätigkeit von Frauen auswirken wird.

Menschenrechtslage: Gruppen wie die Taliban (oder auch der IS) greifen nach einer Machtergreifung nicht unbedingt sofort auf ein volles Instrumentarium an Repressionen zurück, sondern tun dies oft eher sukzessive. Ob die Taliban ihr Verhalten als Macht im Staate dieses Mal eventuell teilweise anders gestalten werden, wird sich zeigen. Informationen zur aktuellen Menschenrechtslage würden daher derzeit nur eine Momentaufnahme darstellen, ohne eine belastbare Entscheidungsgrundlage vor dem Hintergrund des Umsturzes darzustellen. Aussagekräftige, zeitlich länger gültige Informationen zu Kernbereichen werden erst später zur Verfügung stehen.

1.4.3. Auszug aus Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 (LIB)

Ethnische Minderheiten:

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (LIB, Kapitel 19).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB, Kapitel 19).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 19).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben. Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 19.1).

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (LIB, Kapitel 19.1).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst. Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 19.2).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans. Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara – an. Im Laufe des Jahres 2019 setzte der ISKP Angriffe gegen schiitische (vorwiegend Hazara) Gemeinschaften fort. Beispielsweise griff der ISKP einen Hochzeitssaal in einem vorwiegend schiitischen Hazara-Viertel in Kabul an; dabei wurden 91 Personen getötet, darunter 15 Kinder und weitere 143 Personen verletzt. Zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren aber Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten. Der ISKP nannte ein religiöses Motiv für den Angriff. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt. In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (LIB, Kapitel 19.3).

Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung. Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren. Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum, wie auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u.a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit. Abdul Rashid Dostum ist der selbsternannte Sprecher der usbekischen Minderheit in Afghanistan. Der ehemalige Warlord war einer der Anführer der Nordallianz. Nach der Vertreibung der Islamisten wurde der mächtige Dostum immer wieder in die militärische und politische Führung des Landes eingebunden. Spannungen mit Präsident Hamid Karzai hatten jedoch zur Folge, dass er 2008 ins türkische Exil ging – nur um im Jahr darauf als Verbündeter Karzais zurückzukehren. Ein ähnliches Zweckbündnis ging er fünf Jahre später mit Ashraf Ghani ein und wurde dessen Vizepräsident. Aber auch mit Ghani kam es zum Zerwürfnis und Dostum ging abermals in die Türkei. 2018 kehrte er nach Afghanistan zurück und unterstütze bei der Präsidentschaftswahl 2019 Ghanis Rivalen Abdullah. Als Teil des Abkommens zwischen Ghani und Abdullah wurde er zum Marshall befördert. Die usbekische Minderheit ist im nationalen Durchschnitt mit etwa 8% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB, Kapitel 19.4).

Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch und stammt vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans. Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi-Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan). Viele Kutschi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul. Ein Großteil der Nomaden zieht während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajat (zentrales Hochland). Nur mehr wenige tausend Personen führen ein Leben als nomadische Viehhirten. Kutschi leiden in besonderem Maße unter den ungeklärten Boden- und Wasserrechten. Dies schließt die illegale Landnahme durch mächtige Personen ein – mangels funktionierendem Katasterwesen in Afghanistan ein häufiges und alle Volksgruppen betreffendes Problem. Traditionell waren die Kutschi eine nomadische Gemeinschaft; jahrzehntelange Konflikte und Dürre, haben verstärkt dazu geführt, dass die afghanischen Kutschi ihren traditionellen Lebensstil aufgaben und sich in festen Siedlungsgebieten niedergelassen haben. Manche Kutschi haben ihr Vieh verloren und haben versucht, sich dauerhaft und auch temporär in nicht-regulierten Gebieten niederzulassen, was zu Konflikten mit Anwohnern und Kommandanten aufgrund von Landbesitz und Wasserzugang führte. Konflikte basieren u.a. auf der Blockade der Zugangswege zu den Weiden durch die sesshafte Bevölkerung, da das durchziehende Vieh landwirtschaftliche Flächen beschädigt; oder auch auf der Übernahme von Weideland der Nomaden durch die sesshafte Dorfbevölkerung zur eigenen Beweidung, Kultivierung oder Bebauung. Ebenso entstehen Konflikte durch das Bevölkerungswachstum, wodurch frühere Weidegebiete der Nomaden vermehrt verbaut werden, insbesondere im Nahbereich größerer Städte. Staatliche Institutionen haben nur geringen Einfluss in ländlichen Gebieten – selbst in Gebieten unter Regierungskontrolle - um bei einer Konfliktlösung zu vermitteln. Die Regierung verfügt mit dem unabhängigen Direktorium für die Angelegenheiten der Kutschi über eine eigene Organisationseinheit, welche die Angelegenheiten der Kutschi behandelt. Dieses Direktorium möchte jedoch bei Konflikten zwischen Nomaden und sesshafter Bevölkerung nicht direkt vermitteln, da es als parteiisch wahrgenommen werden würde. Bei Konfliktlösungen werden von der Regierung in der Regel lokale Akteure als Mediatoren eingesetzt, die ebenfalls von den Streitparteien als befangen angesehen werden. Kutschi sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit. Angehörige der Nomadenstämme sind aufgrund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt. Sie gelten aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter. Kutschi berichten über erzwungene Sesshaftmachungen durch die Regierung. Da viele sesshafte Kutschi unter prekären Bedingungen in informellen Siedlungen am Rande der Großstädte leben, werden sie zunehmend negativ wahrgenommen, was deren sozialen Status im Land weiter unterminiert. Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß. Der afghanischen Verfassung zufolge ist die Regierung verpflichtet, den Kutschi Land für die permanente Nutzung zur Verfügung zu stellen und ihre Integration in besiedelten Gebieten zu fördern. Die Verfassung sieht vor, dass der Staat Maßnahmen für die Verbesserung der Lebensgrundlagen von Nomaden ergreift. Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans. Auch Staatspräsident Ghani wird der Bevölkerungsgruppe der Kutschi zugerechnet. Zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung sind für die Kutschi-Minderheit reserviert und vom Präsidenten müssen zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden. Diese Sitze werden jedoch in der Regel von sesshaften Kutschi eingenommen, wodurch die Interessen der erst kürzlich sesshaft gewordenen, in informellen Siedlungen lebenden oder semi-nomadischen Kutschi weitgehend vernachlässigt werden. Die COVID-19 Krise hat auch Auswirkungen auf die Kutschi-Nomaden. Wegen des Lockdowns und der Schließung der Hauptmärkte haben sie nur ein geringes Einkommen und es gibt nur noch wenige Orte, an denen sie Handel treiben können, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In den Gebieten Nangarhar und Logar zum Beispiel bekommen die Kuchi 40% weniger pro Lamm im Vergleich zu vor der Pandemie. Die Regierung und Hilfsorganisationen unterstützen die Kutschi im Rahmen des fortlaufenden Community, Livestock and Agriculture Project (CLAP) mit veterinärmedizinischen Leistungen und bilden 100 Kutschi in Basiskenntnissen der Veterinärmedizin aus und informieren während der COVID-19-Pandemie die einzelnen Stämme durch Kampagnen um das Bewusstsein für die Krankheit zu steigern (LIB, Kapitel 19.5).

1.4.4. ACCORD Anfragebeantwortung Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmungen von RückkehrerInnen aus Europa, 15.06.2020

(…)

Rechtliche Bestimmungen zu Apostasie, Konversion und Blasphemie; Anwendung in der Praxis

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass Apostasie (Arabisch: ridda) in der klassischen Scharia als „Weggehen“ vom Islam verstanden werde und ein Apostat (Arabisch: murtadd) ein Muslim sei, der den Islam verleugne. Apostasie müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich der Apostat einer anderen Glaubensrichtung anschließe (Landinfo, 4. September 2013, S. 10). Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) erwähnt in seinem Bericht vom Juni 2020, dass Konversion vom Islam zu einer anderen Religion nach der sunnitisch-hanafitischen Rechtslehre Apostasie darstelle (USDOS, 10. Juni 2020, Section II).

Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Jänner 2004 legt die „heilige Religion des Islam“ als Religion Afghanistans fest. Angehörigen anderer Glaubensrichtungen steht es frei, innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihren Glauben und ihre religiösen Rituale auszuüben. Gemäß Artikel 3 der Verfassung darf kein Gesetz in Widerspruch zu den Lehren und Vorschriften des Islam stehen. Laut Artikel 7 ist Afghanistan indes verpflichtet, die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, zwischenstaatlicher Vereinbarungen, internationaler Vertragswerke, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten. Artikel 130 der Verfassung schreibt vor, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Fällen die Bestimmungen der Verfassung und anderer Gesetze zu berücksichtigen haben. Wenn es jedoch zu einem Fall keine Bestimmungen in der Verfassung oder anderen Gesetzen gibt, so haben die Gerichte entsprechend der (sunnitischen) hanafitischen Rechtssprechungstradition innerhalb der Grenzen der Verfassung auf eine Art und Weise zu entscheiden, welche am besten geeignet ist, Gerechtigkeit zu gewährleisten (Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan, 26. Jänner 2004, Artikel 130).

Auch im USCIRF-Bericht vom April 2020 findet sich die Information, dass die afghanische Verfassung den Gerichten abverlange, sich auf die Rechtsprechung der hanafitischen Scharia zu stützen, wenn zu einem juristischen Sachverhalt keine geltenden verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen Bestimmungen vorliegen würden. Dies habe zur Folge, dass Blasphemie, Abfall vom Glauben und Missionieren durch Nicht-Muslime unter Strafe gestellt sei (USCIRF, April 2020, S. 49).

Laut USDOS-Bericht vom Juni 2020 sei der Straftatbestand Apostasie im Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich vorgesehen. Vielmehr falle er unter die sieben Straftatbestände, die in der Scharia Hudud (Arabisch für „Grenzen“, Anm. ACCORD) genannt würden. Nach dem Strafgesetzbuch würden Personen, die sich Hudud-Verbrechen schuldig gemacht hätten, nach der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung bestraft. Gemäß dieser sei für männliche Apostaten Enthauptung die angemessene Bestrafung, während für weibliche lebenslange Haft das angemessene Strafmaß sei. Es sei denn, die Person tue Buße. Einem Richter stehe es auch frei, mildere Strafen zu verhängen, wie etwa kurzfristige Haftstrafen oder Peitschenhiebe, wenn Zweifel am tatsächlichen Vorliegen eines Abfalls vom Glauben bestehen würden. Nach der hanafitischen Rechtsprechung könne die Regierung auch das Eigentum von ApostatInnen konfiszieren oder Abtrünnige daran hindern, Eigentum zu erben. Diese Bestimmungen würden für volljährige Personen gelten, die bei klarem Verstand seien. Das Zivilrecht besage, dass das Volljährigkeitsalter 18 Jahre betrage, während es für Frauen im Hinblick auf die Eheschließung bei 16 Jahren liege. Das islamische Recht definiere Volljährigkeit als jenen Moment, an dem bei einer Person die Anzeichen der Pubertät erkennbar seien, der wiederum – vor allem bei Mädchen - üblicherweise als Zeitpunkt des heiratsfähigen Alters angesehen werde (USDOS, 10. Juni 2020, Section II).

Das USDOS schreibt weiters, dass Personen, die der Blasphemie oder der Apostasie beschuldigt würden, drei Tage Zeit hätten zu wiederrufen, andernfalls sei die Todesstrafe vorgesehen. Allerdings gebe es keinen klaren von der Scharia festgelegten Prozess, wie das Widerrufen auszusehen habe. In einigen Hadithe (Sprüche bzw. Traditionen, die als rechtliche Leitlinien im Islam fungieren) würden Diskussionen und Verhandlungen mit der vom Glauben abgefallenen Person vorgeschlagen, im Zuge derer das Wiederrufen angeregt werden solle (USDOS, 10. Juni 2020, Section II).

Das australische Außen- und Handelsministerium (Department of Foreign Affairs and Trade, DFAT) veröffentlicht mit dem Zweck der Verwendung in Verfahren zum internationalen Schutz im Juni 2019 einen Länderbericht zu Afghanistan. Darin wird festgehalten, dass die für Hudud-Verbrechen vorgeschriebenen Strafen üblicherweise extrem hart seien und bis hin zur Todesstrafe reichen würden. Allerdings seien die Beweisanforderungen in solchen Fällen hoch. Für die meisten der Verbrechen gelte, dass sie durch Zeugenaussagen untermauert werden müssten, damit die Schuld nachgewiesen werden könne. Zu den Faktoren, die den Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen bestimmen würden, würden das Geschlecht der/des Zeugen/Zeugin gehören (zum Nachteil der Frauen), deren/dessen gesellschaftliche Stellung, der Inhalt der Zeugenaussage und die Anzahl der anwesenden ZeugInnen (DFAT, 27. Juni 2019, S. 28).

Zum Thema Konversion führt das USDOS im Bericht vom Juni 2020 an, dass Konversion vom Islam zu einer anderen Religion nach der in den Gerichten anzuwendenden sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung Apostasie darstelle. Wenn jemand vom Islam zu einer anderen Religion konvertiere, so habe Der- oder Diejenige drei Tage Zeit, um die Konversion zu widerrufen. Widerrufe die Person nicht, so solle die Strafe für Apostasie angewendet werden (USDOS, 10. Juni 2020, Section II).

Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), antwortet in einer E-Mail-Auskunft vom Mai 2020 wie folgt auf die Frage, ob es überhaupt ApostatInnen oder KonvertitInnen gebe, die offen über ihren Glauben bzw. Nicht-Glauben sprechen würden: Ruttig verneint und hält fest, dass eine derartige Äußerung die Person außerhalb der (muslimischen) Gemeinschaft stelle. Etwas Derartiges zu äußern sei auch gefährlich, weil selbst im „Mainstream-Islam“ Apostasie abgelehnt werde und nach orthodoxem Scharia-Verständnis mit der Todesstrafe geahndet werden könne. Ruttig betont das Wort „könne“ und bemüht diesbezüglich das Sprichwort „Wo kein Kläger da kein Richter“ und fährt weiter fort, dass aus diesem Grund etwa afghanische Christen alles versuchen würden, zu vermeiden, dass sich ein Kläger finde. Auf die Frage wie staatliche Behörden vom Glauben Abgefallene oder KonvertitInnen behandeln würden, antwortet Ruttig, dass diese Frage üblicherweise nicht relevant sei, weil vom Glauben Abgefallene und KonvertitInnen wie erwähnt nicht als solche in Erscheinung treten würden oder die Möglichkeit hätten, dies zu tun. Falls es doch zu einer offiziellen Anklage kommen sollte, sei die Rechtsauslegung oft ziemlich willkürlich und vom jeweiligen Richter oder Staatsanwalt, etc. abhängig, sowie von dessen Verankerung in der Scharia. In der Vergangenheit habe es ja tatsächlich Anklagen wegen Apostasie gegeben (Ruttig, 29. Mai 2020).

Melissa Kerr Chiovenda hält in ihrer E-Mail-Auskunft vom Juni 2020 fest, dass Apostasie in Afghanistan illegal sei und mit dem Tode bestraft werde. Es habe zwar einige wenige Fälle gegeben, in denen Menschen verurteilt worden seien, es sei ihr jedoch kein Fall bekannt, in dem der Staat das Todesurteil vollstreckt habe. Ihr sei bekannt, dass es mindestens einen Fall gegeben habe, in dem eine Person verurteilt worden sei, dann aber vor der Vollstreckung des Urteils in Italien Asyl beantragen hätte dürfen. Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Bekanntwerdens von Apostasie, auf die sie weiter unten noch näher eingehen werde, seien so gravierend, dass die meisten Menschen, die konvertieren würden, dies streng geheim halten würden. Daher würden sich diese Personen in der Regel so unauffällig verhalten, dass der Staat oder die staatlichen Behörden nie etwas davon erfahren würden. Diskriminierung von ApostatInnen durch staatliche Behörden sei daher auch ein weniger großes Problem, da dem Staat der Glaubensstatus der Person gar nicht bekannt sei. Zum Thema Schutzwilligkeit des Staates hält Kerr Chiovenda fest, dass es für ApostatInnen, die angegriffen würden oder unter Diskriminierung leiden würden, mit Sicherheit keinen staatlichen Schutz gebe (Kerr Chiovenda, 2. Juni 2020).

Friederike Stahlmann antwortet im Rahmen der im Mai 2020 von ACCORD organisierten Online-Veranstaltung wie folgt auf die Frage, ob KonvertitInnen und Personen, die sich nicht an islamische Regeln halten, staatlicherseits Sanktionen zu befürchten hätten: Solche Personen hätten laut Stahlmann vonseiten des Staates sehr wohl Sanktionen zu befürchten, in der Regel würden allerdings die von der Gesellschaft verhängten Sanktionen schneller greifen als die staatlichen. Aber wenn Apostasie bekannt werde, dann stelle diese natürlich auch rechtlich eine Straftat dar und es gebe dafür auch von staatlicher Seite keine Toleranz. Eine Inhaftierung sei aber trotz der wahrscheinlichen Folter und Gewalt durch Mitgefangene vermutlich die beste Überlebenschance (Stahlmann, 11. Mai 2020).

Die schwedische Einwanderungsbehörde (Migrationsverket) fasst die Situation

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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