Entscheidungsdatum
08.09.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W184 2143216-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.12.2016, Zl. 1089086106/151448240, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.09.2021 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 29.09.2015 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:
„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
II. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wird Ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
III. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wird Ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 11.12.2017 erteilt.“
In der Begründung wurde im angefochtenen Bescheid ausgeführt, die beschwerdeführende Partei habe bei der Einvernahme angegeben, dass er der Volksgruppe der Hasara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam angehöre. Er habe zwei Jahre in Afghanistan in der Provinz XXXX und zwölf Jahre im Iran gelebt und sei mit 14 Jahren nach Österreich gekommen. Im Herkunftsstaat fürchte er Verfolgung durch die Taliban wegen seiner Volksgruppe und seiner Religion. Tatsächlich gebe es jedoch keine Gruppenverfolgung der Hasara mehr.
Gegen den Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt und insbesondere ausgeführt wurde, dass die beschwerdeführende Partei in Afghanistan wegen seiner Volksgruppe und Religion von den Taliban verfolgt werde. Die Sicherheitslage sei in ganz Afghanistan unzureichend und eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative gebe es in Afghanistan nicht.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 08.09.2021 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher die beschwerdeführende Partei Folgendes aussagte (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht, RI = Richter, BF = beschwerdeführende Partei, RV = Rechtsvertreterin):
„RI: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, dass Sie nach Afghanistan zurückkehren?
BF: Der Anfang ist immer schwierig. Ich bin im Iran geboren und habe Afghanistan nie gesehen, seitdem ich hier bin. Ich erinnere mich nicht an Afghanistan. Ich habe von meiner Mutter mitbekommen, dass sie mir erzählt hat, dass wir, als ich sechs Jahre alt war, nach Afghanistan zurückgekehrt sind und dann wieder in den Iran gegangen sind.
RI: Wenn Sie jetzt in Afghanistan in irgendeiner Stadt leben müssten, was spricht dagegen?
BF: Ich habe nie in Afghanistan gelebt. Mir wurde ein Etikett als Schiit und Hazara gegeben. Ich bin ein Hazara. Wenn ich nach Afghanistan zurückkehre, sagt jeder zu mir, ich bin ein Schiit, und die Taliban sind, wie Sie wissen, gegen Schiiten und Hazara.
RI: Es leben aber über drei Millionen Hazara in Afghanistan.
BF: Es geht nicht um Hazara, es geht um die Religion. So wie ich gesagt habe, wurde mir ein Etikett gegeben, von meinem Umfeld und von meinen Eltern, dass ich beten muss, dass ich fasten muss, dass ich keinen Alkohol trinken darf. Bei besonderen Anlassen trinke ich schon Alkohol, sonst trinke ich wenig Alkohol. Das alles ist in Afghanistan strafbar, und wenn ich mich nicht daran halte, zu beten, zu fasten, dann weiß ich nicht mehr, was mit mir passieren wird.
RI: Sind Sie von Ihren Eltern gläubig erzogen worden?
BF: Meine Eltern sind extrem gläubig. Ich wurde auch gläubig erzogen. Mir war nicht klar, was Menschheit bedeutet. Heutzutage sind seit damals Kriege erklärt worden durch Religion, so wie die Taliban, oder es werden Leute getötet deswegen. Es werden Rechte von Frauen genommen. Ich habe eine jüngere Schwester und ich unterhalte mich mit ihr, wenn sie mir erzählt, wie sie eine Arbeit sucht im Iran, sie möchte die Universität besuchen, aber sie kommt als Afghanin erst nach den Iranern an die Reihe. Der wichtige Punkt ist, dass eine Arbeit zu finden, für eine afghanische Staatsbürgerin sehr schwer ist, weil sie eine Frau ist. Sie wird von ihrem Arbeitgeber sexuell belästigt.
RI: Sind Sie, als Sie noch im Iran gelebt haben, regelmäßig in die Moschee gegangen?
BF: Regelmäßig nicht, aber ich bin in die Moschee gegangen zu besonderen Anlässen mit meinen Eltern. Ich wollte dabei meine Freunde treffen. Wir haben dann die ganze Zeit im Park gespielt. Die ganze Zeit, die ich im Iran war, bin ich mit meinen Eltern in die Moschee gegangen.
RI: Die Gebete haben Sie auch eingehalten im Iran?
BF: Ja, solange meine Eltern mich kontrolliert haben, habe ich mich daran gehalten.
RI: Woran glauben Sie jetzt in religiöser Hinsicht?
BF: Ich glaube nur, dass es einen Gott gibt, aber ich will zu keiner Religion gehören.
RI: Zu welchem Gott beten Sie jetzt?
BF: Ich bete nicht, ich glaube an Gott.
RI: An welchen Gott glauben Sie?
BF: Ich weiß, dass wir alle denselben Gott haben, dass wir alle denselben Gott meinen, der existiert und den man spürt. Ich gehe nicht in eine Kirche oder Moschee.
RI: Wann haben Sie sich vom Islam entfernt?
BF: Ich bin immer von diesem Beten und Fasten geflüchtet, aber richtig habe ich es erst getan, als ich den Fluchtweg nach Österreich begonnen habe.
RI: Sie haben erst nach ein paar Jahren in Österreich gesagt, dass Sie kein gläubiger Moslem mehr sind.
BF: Ja, aber wenn ich jetzt in Afghanistan wäre, hätte ich eine Etikettierung als Schiit. Die Hazara sind meistens Schiiten. Außerdem bin ich ein Musiker.
RI: Machen Sie die Musik beruflich?
BF: Nicht beruflich. Es ist schwierig, das als Beruf auszuüben, wenn man keine finanzielle Unterstützung hat. Deshalb habe ich mich entschieden, mit einer Lehre anzufangen. Aber seitdem ich in Österreich bin, habe ich angefangen, Klavier zu spielen. Mein erstes Stück war „Für Elise“. Das habe ich auswendig gelernt. Das habe ich für den Bürgermeister von XXXX gespielt. Er hat mir ein Empfehlungsschreiben geschrieben für die Musikschule, und in der Musikschule hat der Lehrer für ein Jahr gratis unterrichtet.
RI: Wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten, würden Sie dann in irgendeiner Stadt in Afghanistan leben können? Sie könnten beispielsweise so wie alle anderen am Freitag in die Moschee gehen und nicht öffentlich Klavier spielen. Was spricht dagegen?
BF: Es spricht dagegen, es ist schwierig zu formulieren. Ich weiß nicht, ob die Taliban mich lassen, wenn sie es mitbekommen, dass ich Klavier spiele, oder dass sie mich am Leben lassen würden, da ich an nichts glaube. Weil sie denken, ich kenne ihre Kultur nicht. Ich bin eher an die Kultur hier in Österreich gewöhnt.
RI: Sind Sie in Österreich einmal in die Moschee gegangen?
BF: Noch nie.
RI: Gibt es in der Nähe von XXXX keine Moschee?
BF: Ich weiß es nicht.
RI: Sie kennen ja sicher in Österreich andere Afghanen und da werden Sie doch darüber sprechen, wo eine Moschee ist?
BF: Ich habe zwei, drei afghanische Freunde, mit denen ich gelernt habe. Ich habe mich mit denen noch nie über Religion unterhalten und ich bin mir sicher, dass sie auch nie zur Moschee gehen.
RV: Haben Sie mit Ihren Eltern wegen Ihrer Religion geredet?
BF: Ja. Ich habe mit meinen Eltern darüber geredet, dass sie sich über meine Schwester beschwert haben, dass sie nicht betet, und ich habe versucht, meiner Mutter zu erklären, dass es wichtigere Sachen gibt als das im Leben, und seitdem hat meine Mutter das Gefühl gehabt, dass ich mich nicht mehr an den Islam halte, aber ich habe nie offen gesagt, dass ich nicht an den Islam glaube, damit sie sich keine Sorgen macht. Meine Mutter ist sehr empfindlich in dieser Hinsicht. Ich versuche es immer zu vermeiden, wenn sie über dieses Thema sprechen würde.
RV: Können Sie sich vorstellen, nach Afghanistan zurückzukehren und keine Musik zu machen?
BF: Nein, Musik ist mein Leben. In meinem Leben gibt es nichts Besseres und Beruhigenderes als Musik. Ich bin jemand, der sehr an Nervosität leidet, und zum Ausgleich, dass ich meinen Stress abbaue, muss ich Musik spielen.
RI: Welche Musik spielen Sie gerade?
BF: Ich spiele meistens klassische Musik, z. B. von Mozart den türkischen Marsch oder etwas von Beethoven. Nebenbei rappe ich. Ich schreibe Texte. Davon habe ich auch ein Video …“
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:
Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Afghanistans, gehört der Volksgruppe der Hasara an und wurde in der schiitischen Glaubensrichtung des Islam erzogen. Die Familie der beschwerdeführenden Partei stammt aus der Provinz XXXX , lebt aber seit Jahren im Iran. Seine Muttersprache ist Dari.
Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat eine Verfolgung aus Gründen der Religion.
Es wird festgestellt, dass bei der beschwerdeführenden Partei ein ernsthafter innerer Entschluss vorliegt, nach einer von den Glaubensdogmen des Islam verschiedenen Weltanschauung zu leben, und dass er demnach vorhat, auch nach Beendigung des Asylverfahrens sein weiteres Leben entsprechend dieser Weltanschauung zu führen und auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht zum Islam zurückzukehren.
Zur Lage im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:
Aktuelle Lage
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a). Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a). Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b). Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c). Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021). Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt. Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).
…
Quellen:
bbc.com (o.D.a): Afghan women to have rights within Islamic law, Taliban say, https://www.bbc.com/news/world-asia-58249952
bbc.com (o.D.b): Flag-waving protesters defy Taliban in Afghan city, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 18.8.2021
bbc.com (o.D.c): Afghanistan: Who's who in the Taliban leadership, https://www.bbc.com/news/world-asia-58235639, Zugriff 18.8.2021
bbc.com (o.D.d): Taliban step up hunt for collaborators - UN report, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 19.8.
orf.at (o.D.a): Sorge um afghanische Ortskräfte wächst, https://orf.at/stories/3225305/, Zugriff 18.8.2021
orf.at (o.D.b): Die Anführer des Taliban-Netzwerks, https://orf.at/stories/3225195/, Zugriff 18.8.2021
orf.at (o.D.c): Erneut Tote bei Kundgebung gegen Taliban, https://orf.at/stories/3225444/, Zugriff 19.8.2021
zdf.de (18.8.2021): Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html, Zugriff 18.8.2021 UN Bericht – Ständige Vertretung Österreichs bei den VN (18.8.2021): Briefing zur Lage in AF in NY 17.8.2021, per Email.
2. Beweiswürdigung:
Die beschwerdeführende Partei machte bei der Aussage in der Verhandlung einen intelligenten und ehrlichen Eindruck und beantwortete alle Fragen in sehr gutem Deutsch, ohne die angebotene Dolmetschung auch nur einmal zu benötigen.
Zum Fluchtgrund gab die beschwerdeführende Partei im Verwaltungsverfahren an, dass er als schiitischer Hasara von den Taliban verfolgt werden würde. Dieses Vorbringen wiederholte die beschwerdeführende Partei in der Verhandlung und legte außerdem glaubwürdig dar, dass er schon vor seiner Einwanderung nach Europa wenig am Islam interessiert war. Während seines Aufenthaltes in Österreich interessierte er sich allgemein für religiöse Weltanschauungen und eignete sich eine aufgeklärte Weltsicht an, die er nicht wieder aufgeben will. Am Islam lehnt er unzeitgemäße Lehren und Rituale ab, wie etwa die Diskriminierung der Frauen, die Bekämpfung von Nicht-Moslems als Ungläubige oder die Vorschriften über Beten, Fasten und Moscheebesuche.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Stattgabe der Beschwerde:
Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:
Das Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist im vorliegenden Fall in der Fassung nach dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 29/2020 anzuwenden. Die maßgeblichen Bestimmungen lauten:
§ 3 (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.
(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.
(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.
(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
§ 11 (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0113; 24.03.2011, 2008/23/1443).
§ 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinn des Art. 9 Statusrichtlinie 2011/95/EU, worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 EMRK niedergelegte Verbot der Folter.
Dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen muss, ergibt sich schon aus der Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wonach als Flüchtling im Sinn dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Auch Art. 9 Abs. 3 der Statusrichtlinie verlangt eine Verknüpfung zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen einerseits und den Verfolgungsgründen andererseits (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0080). Dafür reicht es nach der jüngeren Ansicht des UNHCR aus, dass der Konventionsgrund ein (maßgebend) beitragender Faktor ist, er muss aber nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden (VwGH 13.01.2015, Ra 2014/18/0140).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 11 Abs. 1 AsylG 2005 (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, Rn. 14-24) ist im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung das Kriterium der "Zumutbarkeit" gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 Statusrichtlinie, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen. Die Frage der Zumutbarkeit soll danach beurteilt werden, ob der in einem Teil seines Herkunftslandes verfolgte oder von ernsthaften Schäden (iSd Art. 15 Statusrichtlinie) bedrohte Asylwerber in einem anderen Teil des Herkunftsstaates ein „relativ normales Leben“ ohne unangemessene Härte führen kann. Dabei ist gemäß § 11 Abs. 2 AsylG 2005 (Art. 8 Abs. 2 Statusrichtlinie) auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen. Der Verwaltungsgerichtshof hielt fest, dass die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates selbstverständlich wesentliche Bedeutung hat. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, findet. Es muss dem Asylwerber aber auch möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss.
Zu Afghanistan erkannte der Verwaltungsgerichtshof (VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118), dass eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. Es kann zutreffen, dass ein alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung in der afghanischen Hauptstadt Kabul (anfangs) mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Soweit es sich aber um einen jungen und gesunden Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung verfügt, handelt, ist - auf der Grundlage der jenem Fall zugrunde gelegten allgemeinen Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsstaat - nicht zu erkennen, dass eine Neuansiedlung in Kabul nicht zugemutet werden kann.
Im vorliegenden Fall ist auf Grund der Sachverhaltsfeststellungen davon auszugehen, dass die beschwerdeführende Partei eine drohende Verfolgung im Sinn der wiedergegebenen Gesetzesbestimmungen glaubhaft machen konnte.
Nach den Länderberichten zu Afghanistan droht Apostaten landesweit Verfolgung.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Denn das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.
Schlagworte
Apostasie Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren begründete Furcht vor Verfolgung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative Konfessionslosigkeit mündliche Verhandlung Nachfluchtgründe Religionsausübung Religionsfreiheit religiöse Gründe staatlicher Schutz Taliban unterstellte politische Gesinnung Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete FurchtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W184.2143216.1.00Im RIS seit
02.02.2022Zuletzt aktualisiert am
02.02.2022