Entscheidungsdatum
13.09.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W163 2157533-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Daniel Leitner als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.04.2017, Zahl XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß
§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt
I.1. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste am 10.01.2016 unrechtmäßig und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF.
2. Am 11.01.2016 fand die Erstbefragung des BF vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.
3. Am 28.02.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) niederschriftlich einvernommen.
4. Mit im Spruch angeführten Bescheid des BFA vom 24.04.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG wurde als Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
5. Gegen diesen rechtswirksam zugestellten Bescheid erhob der BF fristgerecht am 09.05.2017, beim BFA eingelangt am 10.05.2017, vollinhaltlich Beschwerde.
6. Das BFA legte die Beschwerde sowie die bezughabenden Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) am 17.05.2017 vor.
7. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 13.07.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF in Anwesenheit seines Rechtsvertreters teilnahm. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.
8. Mit Schriftsatz eingelangt beim BVwG am 11.08.2021 erfolgte eine Stellungnahme durch den rechtsfreundlichen Vertreter des BF.
I.2. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhalt)
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalt aus:
a) Zur Person der beschwerdeführenden Partei
Der BF führt den Namen XXXX und ist am XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Balkh (Afghanistan) geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur Religionsgemeinschaft der Sunniten.
Er spricht muttersprachlich Dari und beherrscht Paschtu in Wort.
Der BF absolvierte in Afghanistan zehn Jahre die Grundschule und war in seinem Heimatsstaat als Taxifahrer und bis etwa im achten Monat des Jahres 1393, umgerechnet also im Oktober 2014, beim Militär in Faryab tätig. Er war Soldat und arbeitete als Helfer bei einem Arzt. Nach seinem Austritt aus dem Militär zog er zurück in sein Heimatdorf und war dort für ca. sechs bis sieben Monate aufhältig. Danach lebte der BF etwa fünf bis sechs Monate, bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan, bei seinem Schwiegervater in dem etwa fünfzehn Kilometer von der Stadt Mazar-e Sharif entfernten Dorf XXXX (Afghanistan). Dort leben nach wie vor seine Ehefrau, mit der er seit ungefähr vierzehn Jahren verheiratet ist, sowie seine beiden Söhne. Der Schwiegervater des BF betreibt in XXXX eine Landwirtschaft. Zu seiner Ehefrau hatte der BF zuletzt vor einem halben Jahr Kontakt.
Während sein Bruder seit 2014 in Österreich lebt und ihm der Status des Asylberechtigten zukommt, befindet sich seine Schwester nach wie vor in Afghanistan. Sie lebt mit ihrer Familie in Kunduz und hat mit dem BF noch ab und zu Kontakt. Seine Mutter ist bereits verstorben, sein Vater wurde 2014 von den Taliban ermordet.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Er verließ seinen Herkunftsstaat Ende 2015 und begab sich auf den Weg nach Europa, wo er am 10.01.2016 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet einreiste und am selben Tag den verfahrensgegenständlichen Antrag stellte.
Der BF befürchtet, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner Tätigkeit von Regierungsgegnern oder Taliban getötet zu werden.
b) Zur Lage im Herkunftsstaat
Quelle: Sonderkurzinformation der BFA-Staatendokumentation zur aktuellen Lage in Afghanistan vom 17.08.2021:
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).
Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).
Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).
Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).
Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).
Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021). Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).
Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021). (Quellen dieser sonderinformation der Staatendokumentation: • BAMF (16.8.2021): Briefing Notes, per Email; • bbc.com (o.D.): Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021; • Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab, https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegen-fluchtlinge-ab, Zugriff 17.8.2021; • IOM (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email; • orf.at (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff 16.8.2021; • orf.at (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul, https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021; • orf.at (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/, Zugriff 17.8.2021).
Quelle: UNHCR-POSITION ZUR RÜCKKEHR NACH AFGHANISTAN August 2021:
Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen. Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghan*innen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghan*innen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghan*innen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten.
Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR weist auf die Notwendigkeit hin zu gewährleisten, dass das Recht, Asyl zu beantragen, nicht eingeschränkt wird, dass Grenzen offengehalten werden und dass Personen, die internationalen Schutzbedarf haben, nicht in Gebiete innerhalb ihres Herkunftslands zurückgedrängt werden, die möglicherweise gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Staaten auch gemäß Völkergewohnheitsrecht verpflichtet sind, die Grenzen für die vor dem Konflikt fliehende Zivilbevölkerung offen zu halten und Flüchtlinge nicht zwangsweise zurückzuführen. Der NonRefoulement-Grundsatz beinhaltet auch die Nicht-Zurückweisung an der Grenze.
Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren
Quelle: Kurzinformation der Staatendokumentation Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan Stand: 20.8.202:
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a) Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a). Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b). Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c). Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021). Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021). Exkurs: Die Anführer der Taliban Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen TalibanFührer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der TalibanRegierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c). Stärke der Taliban-Kampftruppen Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
Auszug aus: Länderinformation der BFA-Staatendokumentation aus dem COI-CMS, Afghanistan, Version 4, Stand 11.06.2021:
Taliban
Letzte Änderung: 11.06.2021
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als "Islamisches Emirat Afghanistan", der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).
Quellen:
? BBC - British Broadcasting Corporation (15.4.2021): Afghanistan: 'We have won the war, America has lost', say Taliban, https://www.bbc.com/news/world-asia-56747158, Zugriff 7.5.2021
? EASO - European Asylum Support Office (8.2020c): Afghanistan: Anti-Government Elements (AGEs), https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/2020_08_EASO_COI_Report_Afghanistan_Anti_Governement_Elements_AGEs.pdf, Zugriff 23.10.2020
? NYT - New York Times, The (26.5.2020): How the Taliban Outlasted a Superpower: Tenacity and Carnage, https://www.nytimes.com/2020/05/26/world/asia/taliban-afghanistan-war.html, Zugriff 5.11.2020
? RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (27.4.2020): Taliban Constitution Offers Glimpse Into Militant Group's Vision For Afghanistan, https://gandhara.rferl.org/a/taliban-constitution-offers-glimpse-into-militant-group-s-vision-for-afghanistan/30578541.html, Zugriff 16.4.2021
? Ruttig, Thomas (3.2021): Have the Taliban Changed?, https://ctc.usma.edu/have-the-taliban-changed/, Zugriff 27.4.2021
Taliban – Struktur und Führung
Letzte Änderung: 11.06.2021
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).
Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).
Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Quellen:
? AAN - Afghanistan Analysts Network (6.12.2018): One Land, Two Rules (1): Service delivery in insurgentaffected areas, an introduction, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/economy-development-environment/one-land-two-rules-1-service-delivery-in-insurgent-affected-areas-an-introduction/, Zugriff 23.10.2020
? AAN - Afghanistan Analysts Network (4.7.2011): The Layha: Calling the Taleban to Account, https://www.afghanistan-analysts.org/en/special-reports/the-layha-calling-the-taleban-to-account/, Zugriff 23.10.2020
? AnA - Anadolu Agency (28.7.2020): Taliban leader urges US to comply with peace deal, https://www.aa.com.tr/en/americas/taliban-leader-urges-us-to-comply-with-peace-deal/1925033, Zugriff 22.10.2020
? BBC - British Broadcasting Corporation (15.4.2021): Afghanistan: 'We have won the war, America has lost', say Taliban, https://www.bbc.com/news/world-asia-56747158, Zugriff 7.5.2021
? BR - Brookings (5.3.2020): The US-Taliban peace deal: A road to nowhere, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2020/03/05/the-us-taliban-peace-deal-a-road-to-nowhere/, Zugriff 23.10.2020
? EASO - European Asylum Support Office (8.2020c): Afghanistan: Anti-Government Elements (AGEs), https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/2020_08_EASO_COI_Report_Afghanistan_Anti_Governement_Elements_AGEs.pdf, Zugriff 23.10.2020
? FP - Foreing Policy (9.6.2020): Factional Struggles Emerge in Virus-Afflicted Taliban Top Ranks, https://foreignpolicy.com/2020/06/09/coronavirus-pandemic-taliban-afghanistan-peace-talks/, Zugriff 23.10.2020
? LWJ - Long War Journal (14.8.2019): Taliban promotes its ‘Preparation for Jihad’, https://www.longwarjournal.org/archives/2019/08/taliban-promotes-its-preparation-for-jihad.php, Zugriff 23.10.2020
? NZZ - Neue Züricher Zeitung (20.4.2020): Taliban töten erneut fast 20 Soldaten aus regierungstreuen Kreisen - die neusten Entwicklungen nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Afghanistan, https://www.nzz.ch/international/afghanistan-die-neuesten-entwicklungen-im-friedensprozess-ld.1541939#subtitle-2-was-steht-in-dem-abkommen-second, Zugriff 23.10.2020
? NYT - New York Times, The (26.5.2020): How the Taliban Outlasted a Superpower: Tenacity and Carnage, https://www.nytimes.com/2020/05/26/world/asia/taliban-afghanistan-war.html, Zugriff 5.11.2020
? REU - Reuters (17.8.2019): Taliban say killing of leader's brother will not derail U.S. talks, https://www.reuters.com/article/us-usa-afghanistan/taliban-say-killing-of-leaders-brother-will-not-derail-us-talks-idUSKCN1V70CJ, Zugriff 23.10.2020
? RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (2.6.2020): Taliban Officials Deny Report That Top Leader Died From Coronavirus, https://www.rferl.org/a/taliban-officials-deny-report-that-top-leader-died-from-coronavirus/30648768.html, Zugriff 23.10.2020
? VOJ - Voice of Jihad (o.D.): Islamic Emirate of Afghanistan, http://alemarahenglish.net/, Zugriff 23.10.2020
? UNSC - United Nations Security Concil (27.5.2020): Eleventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team submitted pursuant to resolution 2501 (2019) concerning the Taliban, S/2020/415, https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/s_2020_415_e.pdf, Zugriff 23.10.2020
? USIP - United States Institute of Peace (11.2019): How the Taliban Makes Policy, Peaceworks No. 153, https://www.usip.org/sites/default/files/2019-11/pw_153-insurgent_bureaucracy_how_the_taliban_makes_policy.pdf, Zugriff 23.10.2020
? USIP - United States Institute of Peace (4.2020): Service Delivery in Taliban-Influenced Areas of Afghanistan, Special Reports No. 465, https://www.usip.org/sites/default/files/2020-04/20200430-sr_465-_service_delivery_in_taliban_influenced_areas_of_afghanistan-sr.pdf, Zugriff 23.10.2020
Covid 19
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).
1.1. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 30.08.2018 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
„A. Risikoprofile“
[…]
Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) haben Berichten zufolge afghanische Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte als Dolmetscher oder in anderen zivilen Funktionen arbeiteten, bedroht und angegriffen.280 Aus Berichten geht auch hervor, dass regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) gegen ehemalige Mitarbeiter der internationalen Streitkräfte und der Regierung vorgehen.
[…]
„C. Interne Flucht-, Neuansiedlungs- oder Schutzalternative
[…]
Eine Bewertung der Möglichkeiten für eine Neuansiedlung setzt eine Beurteilung der Relevanz und der Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative voraus.[…] In Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung in einem bestimmten Gebiet des Herkunftslandes nachgewiesen wurde, erfordert die Feststellung, ob die vorgeschlagene interne Schutzalternative eine angemessene Alternative für die betreffende Person darstellt, eine Bewertung, die nicht nur die Umstände berücksichtigt, die Anlass zu der begründeten Furcht gaben und der Grund für die Flucht aus dem Herkunftsgebiet waren. Auch die Frage, ob das vorgeschlagene Gebiet eine langfristig sichere Alternative für die Zukunft darstellt, sowie die persönlichen Umstände des jeweiligen Antragstellers und die Bedingungen in dem Gebiet der Neuansiedlung müssen berücksichtigt werden.[…]
Wenn eine interne Schutzalternative im Zuge eines Asylverfahrens in Betracht gezogen wird, muss ein bestimmtes Gebiet für die Neuansiedlung vorgeschlagen werden und es müssen alle für die Relevanz und Zumutbarkeit des vorgeschlagenen Gebiets im Hinblick auf den jeweiligen Antragsteller maßgeblichen allgemeinen und persönlichen Umstände soweit wie möglich festgestellt und gebührend berücksichtigt werden. Dem Antragsteller muss eine angemessene Möglichkeit gegeben werden, sich zu der angenommenen Relevanz und Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative zu äußern.[…]
[…]
Vor diesem Hintergrund ist UNHCR der Auffassung, dass eine vorgeschlagene interne Schutzalternative nur dann zumutbar ist, wenn die Person Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung und (iii) Lebensgrundlagen hat oder über erwiesene und nachhaltige Unterstützung verfügt, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. UNHCR ist ferner der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann als zumutbar angesehen werden kann, wenn die Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und man sich vergewissert hat, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne die oben beschriebenen besonderen Gefährdungsfaktoren dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen.
[…] Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative in afghanischen Städten
[…]
Zur Feststellung der Relevanz muss der Entscheidungsträger beurteilen, ob die betreffende Stadt für den Antragsteller praktisch und sicher erreichbar ist.[…] Dazu muss die Verfügbarkeit von Lufttransport zum nächstgelegenen Flugplatz und die Sicherheit einer Weiterreise auf der Straße zum endgültigen Bestimmungsort oder alternativ die Sicherheit des Transports auf der Straße vom internationalen Flugplatz Kabul zum endgültigen Bestimmungsort geprüft werden.[…]
UNHCR macht darauf aufmerksam, dass nur wenige Städte von Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte, die gezielt gegen Zivilisten vorgehen, verschont bleiben. UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden.[…] Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe, sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen. Im Hinblick auf die Prüfung der Zumutbarkeit verweist UNHCR auf die allgemeine Bemerkung des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in seinem Überblick von 2018 über den Bedarf an humanitärer Hilfe, in der es heißt: ‚Insgesamt halten sich heute über 54 Prozent der Binnenvertriebenen (IDPs) in den Provinzhauptstädten Afghanistans auf, was den Druck auf die ohnehin überlasteten Dienstleistungen und Infrastruktur weiter erhöht und die Konkurrenz um Ressourcen zwischen der Aufnahmegemeinschaft und den Neuankömmlingen verstärkt.‘[…] Außerdem herrscht […] in den nördlichen und westlichen Teilen Afghanistans die seit Jahrzehnten schlimmste Dürre, weshalb die Landwirtschaft als Folge des kumulativen Effekts jahrelanger geringer Niederschlagsmengen zusammenbricht. Am schlimmsten betroffen sind die Provinzen Balkh, Ghor, Faryab, Badghis, Herat und Jowzjan.[…] Dazu kamen 2016 […] über eine Million aus Iran und Pakistan zurückkehrender Afghanen, gefolgt von weiteren 620 000 Heimkehrern im Jahr 2017. Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: ‚Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und dem Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw.‘[…] Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen.[…]
Außerdem wird berichtet, dass das Armutsniveau in Afghanistan ansteigt: Der Anteil der Bevölkerung, der unter der nationalen Armutsgrenze lebt, ist von 34 Prozent in den Jahren 2007/2008 auf 55 Prozent im Zeitraum 2016/2017 gestiegen.[…]
[…] Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative in Kabul
[…]
UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.
[…]“
1.2. Auszug aus der EASO-Country Guidance zu Afghanistan, Stand Dezember 2020):
Die Provinz Herat im Westen von Afghanistan wird zu den relativ ruhigen Provinzen gerechnet, wobei einige Bezirke umkämpft sind oder von Taliban kontrolliert werden. Die Hauptstadt Herat steht unter Kontrolle der Regierung. Nicht zielgerichtete Gewalt findet in Herat auf einem so niedrigen Niveau statt, dass generell kein reales Risiko für Zivilpersonen besteht, dadurch betroffen zu werden.
Der Flughafen von Herat liegt etwa 10 km westlich der Stadt und es werden Inlandsflüge und internationale Flüge betrieben. Die Straßenverbindung von Herat zum Flughafen wird von Sicherheitskräften kontrolliert. Eine Person kann zur Stadt Herat ohne ernsthaftes Risiko anreisen. Das Regionalkrankenhaus von Herat ist ein öffentliches Spital, das kostenfreie stationäre und ambulante Behandlung durch Psychiater und Psychologen anbietet, wobei auch bei Verfügbarkeit die Möglichkeit zum Zugang zur freien Medikation besteht.
Die Provinz Balkh im Norden von Afghanistan wurde bis 2019 üblicherweise als eine der relativ ruhigen und stabilsten Provinzen von Afghanistan beschrieben, wobei der Rücktritt des früheren Gouverneurs dann als Grund zu einer Verschlechterung der Sicherheitssituation angesehen wurde. Bei einem seither erfolgten Anstieg von Aktivitäten der Taliban steht die Mehrheit der Distrikte von Balkh unter Kontrolle der Regierung. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif steht unter Kontrolle der Regierung. In Mazar-e Sharif wurde im Unterschied zum Trend in der gesamten Provinz eine vergleichsweise geringe Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle berichtet. In Mazar-e Sharif findet nicht zielgerichtete Gewaltausübung auf einem so niedrigen Niveau statt, dass generell kein reales Risiko für Zivilpersonen besteht, davon persönlich betroffen zu sein.
Der Flugplatz von Mazar-e Sharif liegt 8 km östlich der Stadt. Zuletzt wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bezug auf den Flughafen berichtet. Eine Person kann grundsätzlich ohne ernsthaftes Risiko in die Stadt Mazar-e Sharif anreisen.
Es gibt etwa 10 bis 15 Spitäler in Mazar-e Sharif, die meisten davon privat, und 30 bis 50 Gesundheitskliniken. Es bestehen auch zwei Einrichtungen, die Leistungen im Bereich der psychischen Gesundheit erbringen.
II. Beweiswürdigung
Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zugrunde:
II.1. Zum Verfahrensgang
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des Gerichtsaktes des BVwG.
II.2. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers
1. Zur Person des Beschwerdeführers
Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität und zum Personenstand des BF getroffen wurden, beruhen diese auf den Angaben des BF vor der belangten Behörde und vor dem BVwG (vgl. zuletzt Protokoll der mV. S. 4 f). Dasselbe gilt für die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zum Glauben und zum Heimatort (vgl. zuletzt Protokoll der mV. S. 4).
Der BF besitzt zwar keinen Reisepass, konnte jedoch im Verfahren eine Kopie seiner Tazkira (AS 73) sowie seines afghanischen Führerscheins (AS 77) zur Belegung seiner Identität vorlegen.
Dass der BF muttersprachlich Dari spricht, beruht auf seinen eigenen Angaben sowie der Tatsache, dass er vor dem BVwG im Beisein eines Dolmetschers der Sprache Dari befragt wurde. Er gab glaubhaft an, auch Paschtu zu sprechen.
Es war festzustellen, dass sich sein Bruder in Österreich, seine Schwester in Afghanistan befindet, und der BF zu beiden Kontakt hat, da er dies nachvollziehbar erläuterte. Sein Bruder reiste aktenkundig 2014 in das österreichische Bundesgebiet ein und wohnt den glaubhaften Angaben des BF zufolge derzeit in Linz. Dass der Bruder in Österreich asylberechtigt ist, war anhand des vom BF in der Beschwerdeverhandlung vorgelegten Konventionsreisepasses festzustellen (Anlage ./A). Der BF gab glaubwürdig an, seinen Bruder etwa alle sechs Monate zu sehen und mit ihm alle zwei Wochen zu telefonieren. Dass er in Österreich sonst über enge soziale Bindungen verfügt, kam im Verfahren nicht hervor.
Der BF schilderte im gesamten Verfahren konsistent, dass seine Eltern bereits verstorben sind. Die Angaben dazu, sein Vater sei 1392, umgerechnet also im Jahr 2014, ermordet, waren glaubwürdig und auch hinsichtlich des Vorbringens des BF, er habe das Militär nach dem Tod seines Vaters verlassen, stimmig. Dies deckt sich auch mit der Aussage des Bruders in dessen Einvernahme vor dem BFA, der Vater sei im elften Monat des Jahres 1392 gestorben. Dass der Vater von den Taliban ermordet worden sei, behaupteten die beiden Brüder im Verfahren übereinstimmend und konnte der Bruder des BF als Teil seiner Fluchtgeschichte in seiner Einvernahme vor dem BFA am 10.11.2014 glaubhaft machen. In die diesbezügliche Niederschrift wurde vom BVwG amtswegig Einsicht genommen.
Dass der BF gesund ist, war seinen unbedenklichen Aussagen zu entnehmen. Da der BF gesund ist und an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten leidet, war die Feststellung zu treffen, dass er arbeitsfähig ist. Darüber hinaus gab dies der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung auch an (vgl. Protokoll der mV. S. 3). Weiters war er in seinem Herkunftsstaat bereits mehrere Jahre berufstätig.
Der BF ist wie konstatiert unrechtmäßig nach Österreich eingereist, was sich aus seinen eigenen Angaben im Verfahren sowie der Tatsache ergibt, dass er ohne die erforderlichen Dokumente in Österreich einreiste.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit ergab sich aus einem aktuellem Strafregisterauszug.
2. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet das Vorbringen des BF zur Furcht vor Verfolgung im Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen aus folgenden Erwägungen als glaubhaft:
2.1. Das Vorbringen des BF in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich seiner Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr nach Afghanistan als ehemaliger Angehöriger der afghanischen Streitkräfte, war in ganzheitlicher Würdigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, insbesondere unter Berücksichtigung der diesbezüglich vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage, insgesamt als glaubhaft zu beurteilen. So war das Vorbringen des BF zur möglichen Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ausreichend substantiiert, umfassend, in sich schlüssig und im Hinblick auf die besonderen Umstände des BF und die allgemeine Situation in Afghanistan plausibel.
Aufgrund der im Verfahren vorgelegten Unterlagen (Kopie des Militärbuchs sowie die Kopie eines Zertifikats für einen Erste-Hilfe-Kurs, AS 75 und 81 ff) sowie der übereinstimmenden und plausiblen Angaben in der Beschwerdeverhandlung vermochte der BF glaubhaft zu machen, wegen seiner beruflichen Tätigkeit in den Fokus der Taliban zu geraten. Dass der BF im Oktober 2014 aus dem Militär austrat, und dann, nachdem er etwas mehr als ein halbes Jahr in seinem Heimatdorf XXXX verbrachte, bis zur seiner Ausreise aus Afghanistan ein weiteres halbes Jahr bei seinem Schwiegervater in XXXX wohnte, brachte er glaubwürdig vor. Weiters war dies mit seinen Angaben, er habe Ende 2015 das Heimatland verlassen, in Einklang zu bringen. Der BF begründete nachvollziehbar, den Militärdienst beendet zu haben, weil es einerseits am Dienstort für seine Familie wegen der Sicherheitslage schwer gewesen sei, dort zu leben und er sich andererseits um den Nachlass des Vaters kümmern musste, weshalb er in sein Heimatdorf XXXX zurückgekehrt sei. Der BF hat im Verfahren übereinstimmend und plausibel angegeben, in seinem Heimatdorf wegen seiner ehemaligen Tätigkeit von den Taliban unter Druck gesetzt, angegriffen und an der Schulter mit einem Messer verletzt worden zu sein, weshalb er aus dem Heimatdorf geflüchtet und mit seiner Familie bei seinem Schweigervater in XXXX untergekommen sei, bevor er Afghanistan verlassen habe.
Der BF vermochte sowohl seine Tätigkeit, als auch die Motive für die Beendigung dieser Arbeit plausibel darzulegen. Der BF hat sich durch seinen Militärdienst in einer Art und Weise gegenüber den Taliban und anderer Regierungsgegner sichtbar exponiert, dass es als maßgeblich wahrscheinlich zu erachten ist, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Der BF hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft geschildert, nicht nur denkbar in den Fokus der Taliban oder Regierungsgegner geraten zu sein, sondern bereits attackiert und verletzt worden zu sein.
Der Auffassung der belangten Behörde, der BF sei keiner Bedrohung ausgesetzt gewesen, weil er diesfalls nicht in seine Heimatgemeinde zurückgekehrt wäre und als Taxifahrer hätte arbeiten können, zumal ihm die „Machenschaften und Vorgehensweisen der Taliban“ als „ausgebildetem Offizier der afghanischen Streitkräfte“ sicherlich bekannt gewesen seien, kann nicht beigetreten werden, zumal der BF nie behauptet hat, Offizier der afghanischen Streitkräfte gewesen zu sein und nachvollziehbar dargelegt hat, warum er in seinen Heimatort zurückgekehrt sei. Die belangte Behörde hat die Tätigkeit des BF bei den afghanischen Streitkräften nicht in Zweifel gezogen.
Aus den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchenden sowie den EASO- Richtlinien für Afghanistan ergibt sich, dass Verwandte von Regierungsmitarbeitern und Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Ziel von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung durch regierungsfeindliche Kräfte werden können.
In Hinblick auf die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan sowie die aktuelle Berichtslage ist es im konkreten Fall auch maßgeblich wahrscheinlich, dass dem BF auch nach Beendigung der Tätigkeit eine politische Gesinnung unterstellt wird und die Verfolgungsgefahr weiterhin besteht. So sieht auch UNHCR aktuell die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen für Menschen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Verbindung stehen (siehe oben Punkt I.2.b.)
3. In einer Gesamtschau der Angaben des BF im gesamten Verlauf des Verfahrens und aus den dargelegten Erwägungen erscheint das Vorbringen des BF zu seiner Furcht vor Verfolgung in Afghanistan insgesamt als glaubhaft. Es ist daher davon auszugehen, dass dem BF im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus asylrelevanten Gründen drohen würde.
II.3. Zur Lage im Herkunftsstaat
Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Es handelt sich dabei um Berichte diverser anerkannter staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bzw. Organisationen und bieten diese ein in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich übereinstimmendes und ausgewogenes Bild zur Situation in Indien. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
III. Rechtliche Beurteilung:
III.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht
1. Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der geltenden Fassung) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.
2. Gemäß § 1 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte, BGBl. I Nr. 33/2013 in der geltenden Fassung (VwGVG) ist das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes durch das VwGVG geregelt.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeines Verwal