TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/14 W131 2190951-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.09.2021
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Entscheidungsdatum

14.09.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W131 2190951-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Reinhard GRASBÖCK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung von zwei mündlichen Verhandlungen zu Recht erkannt:

A)

I.       Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 28 VwGVG iVm § 3 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II.      Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in Folge: Bf) stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab der Bf an, dass er am XXXX , in XXXX geboren worden sei. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei schiitischer Moslem. Er sei ledig und habe keine Kinder. Er habe zwölf Jahre die Grundschule in Teheran besucht, über eine Berufsausbildung als Schneider verfüge und bereits Berufserfahrung als Schneider gesammelt habe.

Er sei wegen der schlechten Sicherheitslage aus Afghanistan geflohen. Dort gebe es täglich Anschläge und auch die Entführungen hätten zugenommen. Aus diesem Grund hätten seine Eltern beschlossen, dass sie das Land verlassen.

3. Am XXXX wurde der Bf von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren: BFA) und in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen und gab dabei an, der Volksgruppe der Tadschiken anzugehören und schiitischer Moslem zu sein. Er stamme aus XXXX und habe zuletzt in der Stadt XXXX , im Distrikt XXXX XXXX gewohnt.

Er hätte Afghanistan mit seinen Eltern verlassen, weil sie erstens Schiiten seien und zweitens keine Freiheit gehabt hätten. Sie hätten nie frei sein können, da es sich wie ein Leben im Käfig angefühlt habe. Religion und Staat würden in Afghanistan nicht getrennt werden. Die Gesetze würden sich daher nach der Religion richten. In so einem Land hätten sie nicht länger leben können. Er habe beispielsweise keinen Alkohol trinken dürfen oder eine Freundin haben. Das alles sei in einem islamischen Land nicht erlaubt. Sie seien in regelmäßigen Abständen in die Moschee gegangen, um den anderen zu zeigen, dass sie die Moschee besuchen und beten würden, damit nicht der Verdacht aufkomme, dass sie kein Interesse an der Religion hätten und es mit der Religion nicht so streng nehmen würden. Weil er im Iran aufgewachsen sei, sei der Aufenthalt und das Leben in Afghanistan wie eine andere Welt für ihn gewesen. In Afghanistan habe er immer das typische Männergewand getragen, das er davor im Iran nie getragen habe. Außerdem gebe es keine Sicherheit in Afghanistan. Aufgrund der unsicheren Lage hätten sie nochmals beschlossen nach Europa zu fliehen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde es wieder von vorne beginnen. Sie wären gezwungen in einem islamischen Staat zu leben und die islamischen Regeln zu befolgen. Er würde dann wieder in diesem Käfig eingesperrt sein. Wenn Afghanistan ein freier Staat, wie die europäischen Länder, werden würde, es die Taliban und den IS nicht mehr geben würde und der Islam nicht mehr regieren würde, dann könne er sich ein Leben in Afghanistan vorstellen.

4. Mit Bescheid vom XXXX zu der im Spruch genannten Zl., wurde der Antrag des Bf auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen den Bf gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG setzte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Bf eine zweiwöchige Frist ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für seine freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Bf seine Fluchtgründe, wonach er in seiner Heimat einer Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt sei, nicht habe glaubhaft machen können. Zurechnungssubjekt der Verfolgungsgefahr sei der Heimatstaat bzw. bei Staatenlosen der Staat des vorherigen Aufenthalts. Der Bf habe keine Verfolgung betreffend seinen Herkunftsstaat Afghanistan geltend gemacht. Es drohe dem Bf auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Eine Rückführung nach XXXX wäre möglich, da die Provinz zu den sichersten Regionen Afghanistans zähle, der Bf aus der Provinz XXXX stamme und dort auch ein Jahr lang, vor seiner Ausreise nach Europa, mit seiner Familie gelebt habe. Zudem würde er dort noch über soziale Anknüpfungspunkte verfügen, da seine beiden Tanten noch dort leben würden. Der Bf verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

5. Der Bf erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde.

6. Am XXXX wurde dem Bf die EASO Country Guidance zu Afghanistan vom Juni 2019 zum Parteiengehör übermittelt.

7. Mit Stellungnahme vom XXXX äußerte sich der Bf zu den ins Verfahren eingeführten Länderinformationen. Zudem wurden Integrationsunterlagen (Deutschkursbesuchsbestätigungen, Schulerfolgsbestätigungen, ein ÖSD Zertifikat über Deutschniveau A2, Empfehlungsschreiben).

6. An der am XXXX durch das Bundesverwaltungsgericht begonnenen öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung nahm der Bf teil. Auch ein bevollmächtigter Vertreter des MigrantInnenverein St. Marx nahm an der Verhandlung teil. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verzichtete bereits mit Schreiben zur Beschwerdevorlage auf die Teilnahme an der Verhandlung. Als Beilage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung wurde ein Schreiben des Lehrbetriebs, in dem der Bf beschäftigt ist, genommen.

7. Mit Schreiben vom XXXX hat der Bf eine Mitteilung über ein Lehrverhältnis samt Lehrvertrag übermittelt.

8. Mit Dokumentenvorlage vom XXXX wurden vom Bf Berufsschulzeugnisse und eine Schulbesuchsbestätigung übermittelt.

9. Am XXXX wurde dem Bf und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2020 zum Parteiengehör übermittelt.

10. Am XXXX fand eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung am Bundesverwaltungsgericht statt, an der der Bf teilnahm. Auch ein bevollmächtigter Vertreter des MigrantInnenverein St. Marx nahm an der Verhandlung teil. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erschien nicht.

11. Mit Schreiben vom XXXX wurden dem Bf und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020, Version 4 sowie ein Artikel aus dem Zeitmagazin vom XXXX zum Parteiengehör übermittelt. Zudem wurde dem BFA die Verhandlungsschrift vom XXXX übermittelt.

12. Mit Schreiben vom XXXX hat der Bf ein Empfehlungsschreiben seines Lehrbetriebes in Vorlage gebracht.

13. Am XXXX wurden dem Bf und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021 zum Parteiengehör übermittelt und ihnen freigestellt dazu binnen vierzehn Tagen Stellung zu nehmen.

14. Mit Schreiben vom XXXX verwies der Rechtsvertreter des Bf auf die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan und ersuchte um eine zeitnahe Entscheidung.

15. Ob der sich rasch ändernden Lage bzw Information über diese Lage wurde die zuständige Mitarbeiterin des BFA am 07.09.2021 telefonisch kontaktiert und ergab dieses Telefonat, dass das BFA keine Stellungnahme zum telefonisch vorgehaltenen Sachverhalt mehr einbringen möchte, wonach die Taliban entsprechend der aktuellen Medienberichterstattung in Afghanistan einen Staat nach den Regeln der Scharia organisieren möchte.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Bf führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und kinderlos.

Der Bf wurde in der Provinz XXXX geboren, wuchs jedoch seit frühester Kindheit im Iran auf, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Geschwistern den überwiegenden Teil seines Lebens verbrachte. Nach der Abschiebung des Bf und seiner Familie aus dem Iran im Jahr XXXX hielt sich der Bf gemeinsam mit seiner Familie bis zu seiner Ausreise nach Europa im Jahr XXXX in XXXX , in Afghanistan auf. In XXXX leben eine Tante mütterlicherseits und eine Tante väterlicherseits des Bf samt deren Ehegatten.

Der Bf besuchte zwölf Jahre lang die Schule im Iran. Der Bf arbeitete zunächst zwei bis drei Jahre als Verkäufer und anschließend für dreieinhalb bis vier Jahre mit seinem Vater zusammen als Schneider.

Der Bf reiste im Jahr XXXX gemeinsam mit seinen Eltern, XXXX (Mutter) und XXXX (Vater) XXXX , sowie seinen jüngeren Brüdern XXXX und XXXX in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX – wie auch seine übrigen Familienmitglieder – einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Bf war im Zeitpunkt der Antragstellung – anders als seine beiden jüngeren Brüder – bereits volljährig.

Der Mutter des Bf wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts zu GZ XXXX vom XXXX 2019 der Status einer Asylberechtigten gemäß 3 Abs.1 AsylG 2005 zuerkannt.

Dem Vater und den beiden Brüdern des Bf wurde im Familienverfahren mit rechtskräftigen Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX 2019, Zl.: XXXX gemäß § 34 AsylG der Status von Asylberechtigten in Ableitung von der Mutter des Bf zuerkannt.

Der Bf ist gesund.

Der Bf ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Bf lehnt die Regeln der Scharia glaubhaft ab. Er betet nicht, geht nicht in die Moschee. Er lehnt den konservativen Islam ab und hält sich nicht an dessen Vorschriften. Er trinkt Alkohol und hat ein durch Selbstbestimmung geprägtes Frauenbild. Für den Bf besteht daher im Fall seiner Rückkehr die reale Gefahr von den regierenden Taliban wegen seiner die Scharia und dessen Regeln ablehnenden Haltung und die damit verstärkt zum Ausdruck kommende oppositionelle politische Gesinnung und islamkritische Haltung getötet zu werden. Die Bedrohung bezieht sich auf das gesamte Staatsgebiet.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung vom 16.12.2020 und der Kurzinformation vom 20.08.2021 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO).

1.3.1. Todesstrafe

Letzte Änderung: 16.12.2020

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 16.07.2020). Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.02.2018 in Kraft getreten ist, hat die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen von 54 auf 14 Delikte reduziert (EASO 7.2020). Vorgesehen ist die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. (MoJ 15.05.2017: Artikel 170). Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt (MoJ 15.05.2017: Artikel 169). Sie wird durch Erhängen ausgeführt (AI 4.2020; vgl. AA 16.07.2020). Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch sog. „Zina“, Straßenraub). In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können (AA 16.07.2020).

Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hat und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, welche eine Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, ist davon auszugehen, dass weiterhin Todesurteile vollstreckt werden (AA 16.07.2020), wobei tatsächliche Hinrichtungen seit 2001 selten geworden sind (DFAT 27.06.2019; vgl. EASO 7.2020). Im Jahr 2019 wurden 14 Personen in Afghanistan zum Tode verurteilt, jedoch niemand hingerichtet (AI 4.2020; vgl. UNGA 16.01.2020, EASO 7.2020).

Zu Jahresende 2019 sollen sich jedoch etwa 700 Menschen in der Todeszelle befinden, darunter etwa 100, die wegen Verbrechen gegen die innere und äußere Sicherheit verurteilt wurden. Im Laufe des Jahres setzte ein 2018 innerhalb des Büros des Generalstaatsanwalts eingerichteter Sonderausschuss die Überwachung von Todesstraffällen fort. Von den insgesamt 102 Fällen, die er prüfte, führten 25 zur Bestätigung der Todesstrafe, 26 zu Empfehlungen für eine Umwandlung und 51 zur Aufhebung der Verurteilungen (AI 4.2020). Mit Stand Juli 2020 sind in Afghanistan ca. 700 Menschen zum Tode verurteilt (AA 16.07.2020). [...]

1.3.2. Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 16.12.2020

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 06.10.2020; vgl. AA 16.07.2020).

Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus (AA 16.07.2020; vgl. CIA 06.10.2020, USDOS 10.06.2020).

Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.06.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.08.2019; vgl. BBC 11.04.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.06.2020).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 10.06.2020; vgl. FH 04.03.2020). Ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 10.06.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.07.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 10.06.2020), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 10.06.2020; vgl. AA 16.07.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 10.06.2020). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 08.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 10.06.2020). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 10.06.2020; vgl. AA 16.07.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.06.2020).

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 10.06.2020). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 10.06.2020; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 10.06.2020).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 10.06.2020).

Anmerkung: Zu Konversion, Apostasie und Blasphemie siehe die jeweiligen Unterkapitel des Kapitels Religionsfreiheit

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 10.06.2020).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 04.03.2020). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 10.06.2020; vgl. FH 04.03.2020). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 10.06.2020).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 10.06.2020). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 10.06.2020).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 10.06.2020).

1.3.3. Apostasie, Blasphemie, Konversion

Letzte Änderung: 16.12.2020

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (FH 04.03.2020; vgl AA 16.07.2020, USDOS 10.06.2020).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 16.07.2020). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 10.06.2020) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist (MoJ 15.05.2017: Artikel 323).

Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 10.06.2020; AA 16.07.2020); jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.06.2020) Die afghanische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen (LIFOS 21.12.2017; vgl. RA KBL 10.06.2020) - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.12.2017).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen, und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird (AA 16.07.2020). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 04.03.2020). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 04.03.2020).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 10.06.2020). [...]

1.3.4.  Aktuelle Entwicklungen

1.3.4.1. Kurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 20.08.2021 zu aktuellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a). Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.08.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens zwölf Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.08.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es, die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (£ Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR- Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17.09.2021 (VN 18.08.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu‘minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b). [...]“

1.3.4.2. aus einem Online-Bericht vom Nachrichtenportal orf.at (abrufbar unter: orf.at/stories/3225043 vom 16.08.2021, Unterstreichungen durch das BVwG):

„[…]

Taliban wollen „Probleme lösen“

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen.

Man wolle Frieden mit allen Beteiligten. Sorgen der internationalen Gemeinschaft wollten die Taliban im Dialog lösen. Der Kontakt zu anderen Staaten werde gesucht, da man nicht in Isolation leben wolle. „Wir bitten alle Länder und Organisationen, sich mit uns zusammenzusetzen, um alle Probleme zu lösen.

[…]“

Gemäß den aktuellen, vom BFA nicht bestrittenen Medienberichten planen die Taliban den Aufbau eines Staatswesens nach den Regeln der Scharia, siehe dazu OZ 29 des Gerichtsakts.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt, aktuelle Länderinformationen und durch Einvernahme des Bf in den mündlichen Verhandlungen.

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Bf ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Bf gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Bf im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Bf, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen im Iran und in Afghanistan sowie seine familiäre Situation in Afghanistan, seiner Schulausbildung und seiner Berufserfahrung als Verkäufer und Schneider gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Bf zu zweifeln.

Die Feststellungen zur Einreise des Bf nach Österreich mit seinen Familienmitgliedern und Antragstellung in Österreich ergeben sich aus den Verfahrensakten.

Dass den Eltern und den beiden (jüngeren) Brüdern des Bf in Österreich der Status von Asylberechtigten zuerkannt wurde, ergibt sich aus den bezugnehmenden Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Bf bei der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung (AS 179; S. 11 VP1,) und auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Bf ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur die Regeln der Scharia glaubhaft ablehnenden Geisteshaltung des Bf stützen sich auf die vom Bf vor dem BFA und in den mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht getroffenen Aussagen sowie auf den vom Bf in den Verhandlungen gewonnen persönlichen Eindruck:

Bereits im Rahmen seiner Einvernahme beim BFA brachte der Bf vor, dass seine Familie nach Europa geflüchtet sei, weil in Afghanistan keine Freiheit herrsche. Die Religion und der Staat würden in Afghanistan nicht getrennt werden. Die Gesetze würden sich daher nach der Religion richten. In so einem Land hätten er und seine Familienmitglieder nicht mehr länger leben können (AS 187). Die Moschee sei von ihnen bloß besucht worden, damit die anderen Mitmenschen nicht Verdacht schöpfen würden, dass seine Familie kein Interesse an Religion haben würde und es mit der Religion nicht so streng nehme. Zudem fügte er im Rahmen dessen hinzu, dass er sich eine Rückkehr nach Afghanistan lediglich vorstellen könne, wenn es ein freier Staat, wie die europäischen Länder, werden würde (AS 187). Auf die Frage, ob er wegen seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit Probleme in seiner Heimat gehabt habe, erwiderte der Bf, dass er dort, wo sie gelebt hätten, nicht persönlich frei gewesen sei, weil er sich von anderen unterschieden habe. Wenn er mit den anderen aneinandergeraten wäre, wäre es vermutlich zu einem Konflikt gekommen (AS 189). Auch in seinen Befragungen im Rahmen der beiden mündlichen Beschwerdeverhandlungen am Bundesverwaltungsgericht kam seine islamkritische bzw. die Regeln der Scharia ablehnende Haltung zum Ausdruck. So führte er, konfrontiert mit Pacic, Islamische Rechtslehre (2014), wonach die Frau dem Mann zu gehorchen habe, aus, dass er gegen eine derartige Einstellung sei, da diese nicht dem Koran zu entnehmen sei. Laut ihm würden derlei Behauptungen von Männern stammen, die noch mehr Macht haben wollen würden. Diese Interpretation stamme von Männern aus früheren Zeiten, um selbst davon zu profitieren. Im Koran stehe, seiner Ansicht nach, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sein sollten (S. 14 VHS1). Die Möglichkeit in Österreich jederzeit aus einer Religionsgemeinschaft austreten und einer anderen beitreten zu können, wird vom Bf befürwortet. Wie er angab, sei er froh, dass es diese Möglichkeit in Österreich gebe. Er selbst habe schon im Iran und Afghanistan keine Probleme mit Menschen gehabt, die eine andere oder gar keine Religion gehabt hätten (S. 14 VHS1). Auch mit Menschen, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung leben, habe er keine Probleme (S. 15 VHS1). Angesprochen auf eine mögliche Konversion zum Christentum, stellte der Bf klar, dass er dieselben Dinge tun würde, wie seine österreichischen Freunde. Dass einzige, was er jedoch verweigere, sei eine Kirche zu besuchen. Es sei in Ordnung, dass er Muslim sei (S. 15 VHS1).

Aus den Aussagen des Bf ergibt sich, dass er die Unfreiheit, die der Islam in Afghanistan mit sich bringt, ablehnt. Es war somit festzustellen, dass der Bf aus innerer Überzeugung die Regeln der Scharia ablehnt. Wie den Länderfeststellungen zu entnehmen ist, beabsichtigen die Taliban einen Staat nach den Regeln der Scharia zu errichten. Das Bundesverwaltungsgericht gelangt im Gegensatz zur belangten Behörde daher zum Ergebnis, dass die Angaben des Bf zu seinem Vorbringen (Ablehnung der Regeln der Scharia und die damit verbundene Verfolgungsgefahr) glaubhaft sind und das Vorbringen des Bf nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl erfüllt, weshalb davon auszugehen ist, dass dem Bf im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung (zumindest) aufgrund der ihm unterstellten politischen oppositionellen Gesinnung und aus religiösen Gründen durch die Taliban drohen würde und - die mittlerweile durch die Taliban übernommenen staatlichen Einrichtungen Afghanistans, insbesondere nach der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban – nicht in der Lage sein würden, dem Bf vor dieser Verfolgung im ausreichenden Maß Schutz zu bieten.

2.3.    Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u.a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingetreten ist. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt. Dass die Taliban einen Staat nach Scharia - Regeln einrichten wollen, ergibt sich aus der unstrittigen aktuellen Medienberichterstattung.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1.    Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 i.V.m. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung droht.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182). Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011).

Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordert eine Prognose (VwGH 16.02.2000, 99/01/0397). Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183). Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Einer von Privatpersonen und privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung kommt Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 21.04.2011, 2011/01/0100). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119; 28.10.2009, 2006/01/0793, mwN). Die Richtlinie (EU) 2011/95 (Statusrichtlinie) sieht einerseits vor, dass die staatliche Schutzfähigkeit zwar generell bei Einrichtung eines entsprechenden staatlichen Sicherheitssystems gewährleistet ist, verlangt aber anderseits eine Prüfung im Einzelfall, ob der Asylwerber unter Berücksichtigung seiner besonderen Umstände in der Lage ist, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).

Abgesehen davon, dass einer derartigen, nicht vom Staat sondern von Privatpersonen ausgehenden Bedrohung nur dann Asylrelevanz zuzubilligen wäre, wenn solche Übergriffe von staatlichen Stellen geduldet würden (VwGH 10.03.1993, 92/01/1090) bzw. wenn der betreffende Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt wäre, diese Verfolgung hintanzuhalten, hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass die Asylgewährung für den Fall einer solchen Bedrohung nur dann in Betracht kommt, wenn diese von Privatpersonen ausgehende Verfolgung auf Konventionsgründe zurückzuführen ist (vgl. etwa VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551).

Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der "hierzu geeigneten Beweismittel", insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Im Falle der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können positive Feststellungen von der Behörde nicht getroffen werden (vgl. VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0058). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069, Rz 16).

3.1.2. Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann („innerstaatliche Fluchtalternative“). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 z.B. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036 und 15.03.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist – wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert – nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „inländischen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539; VwGH 08.09.1999, 98/01/0614).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 22.10.2002, 2000/01/0322; VwGH 09.03.1999, 98/01/0370;). Dabei reicht für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (VwGH 23.02.2017, Ra 2016/20/0089).

Auch aus einer Mehrzahl allein jeweils nicht ausreichender Umstände im Einzelfall kann sich bei einer Gesamtschau die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus einem oder mehreren von asylrelevanten Gründen ergeben (vgl. dazu VwGH 26.06.1996, 95/20/0423).

Daraus ergibt sich in der Sache:

Im gegenständlichen Fall sind nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ im Sinne von Art 1 Abschnitt A Z 2 der GFK gegeben, da der Bf die Regeln der Scharia glaubhaft ablehnt. Aus den oben zitierten Länderberichten ergibt sich klar, dass Atheisten, Apostaten und Andersgläubige auf dem gesamten Staatsgebiet Afghanistans Verfolgungshandlungen in einer Intensität zu gewärtigen haben, die eine asylrelevante Verfolgung bedeutet. Dies insbesondere, weil die Taliban, die in Afghanistan mittlerweile wieder die Macht ergriffen haben, die Absicht haben einen islamischen Staat nach Scharia-Regeln zu errichten. Dem Bf droht ausweichlich des Länderinformationsblatts und den notorischen aktuellen Medienberichten als „Ungläubiger“ und als politisch iSv VwGH Zl 2001/20/0310 Andersdenkender daher ohne interne Schutzmöglichkeiten gemäß § 11 AsylG der Tod bzw asylrelevante Verfolgung in Gesamt -Afghanistan.

Ein Asylausschlussgrund (Art 1 Abschnitt D und F der GFK und § 6 AsylG 2005) ist im Verfahren nicht hervorgekommen.

Der Beschwerde war daher stattzugeben, dem Bf gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 leg. cit. festzustellen, dass dem Bf damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

3.2. Zu Spruchpunkten II. bis VI. des angefochtenen Bescheides

Aus § 3 Abs 5 AsylG 2005 ergibt sich, dass die Gewährung von Asyl mittels Feststellungsbescheid erfolgt, die Asylgewährung somit auf den Tag der Antragstellung, im vorliegenden Fall auf den XXXX zurückwirkt. Eine Behebung der Spruchpunkte II. bis VI. konnte somit entfallen.

Zu B)     Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen. In der Beschwerde findet sich kein Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Apostasie Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative Konfessionslosigkeit mündliche Verhandlung Nachfluchtgründe Religionsausübung Religionsfreiheit religiöse Gründe staatlicher Schutz Taliban unterstellte politische Gesinnung Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W131.2190951.1.00

Im RIS seit

02.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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