TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/20 W216 2210921-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.09.2021
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Entscheidungsdatum

20.09.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W216 2210921-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.11.2018, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 18.07.2016 durch seine Mutter den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Eine Erstbefragung des Beschwerdeführers fand aufgrund seiner schweren geistigen Beeinträchtigung nicht statt.

2. In der Folge war auch eine Einvernahme des Beschwerdeführers beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) nicht möglich. Im Zuge der Einvernahme der Mutter des Beschwerdeführers vor dem BFA am 06.09.2018 führte diese bezüglich des Beschwerdeführers aus, ihr Schwager (Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers) habe damit gedroht, den Beschwerdeführer und sie umzubringen, weil sie ihren Schwager nach dem Tod ihres Mannes (Vater des Beschwerdeführers) nicht geheiratet habe und zurück zu ihren Eltern gezogen sei.

3. Das BFA hat mit Bescheid vom 02.08.2018 den gegenständlichen Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), dem Beschwerdeführer aber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 02.11.2019 erteilt.

4. Mit Schreiben vom 30.11.2018 erhob der Beschwerdeführer gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides fristgerecht Beschwerde.

5. Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 10.12.2018 zur Entscheidung vorgelegt.

6. Mit Schreiben vom 21.01.2019 teilte ein Rechtsanwalt mit, dass er mit beigelegtem Beschluss des Bezirksgerichtes Linz vom 21.12.2018 zum Erwachsenenvertreter des Beschwerdeführers für die Vertretung im Asylverfahren bestellt worden sei.

7. Mit Schreiben vom 11.06.2011 teilte der Rechtsanwalt mit, dass die Erwachsenenvertretung des Beschwerdeführers durch ihn mit beigelegtem Beschluss des Bezirksgerichtes Linz vom 09.06.2021 beendet worden sei.

8. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Linz vom 19.08.2021 wurde die Zuständigkeit zur Besorgung der Erwachsenenvertretung für den Beschwerdeführer an das Bezirksgericht Josefstadt übertragen, welches mit Beschluss vom 24.08.2021 die Zuständigkeit übernahm.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Im vorliegenden Fall wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Inhalt des vorliegenden Verwaltungsaktes des Beschwerdeführers; durch Einsichtnahme in die im Verlauf des Verfahrens vorgelegten Unterlagen, insbesondere die Sachverständigengutachten vom 06.12.2017 und vom 16.02.2018, in aktuelle Auszüge aus Strafregister, GVS und ZMR sowie durch Einsichtnahme in die in das Verfahren eingebrachten Informationen zum Herkunftsstaat. Weiters herangezogen wurden die Angaben der Mutter des Beschwerdeführers bei ihrer Einvernahme vor dem BFA am 06.09.2018 sowie bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 01.09.2021 im Zusammenhang mit ihrem Antrag auf internationalen Schutz. Demnach steht folgender Sachverhalt fest:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer reiste spätestens am 18.07.2016 illegal in das Bundesgebiet, stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz und ist seitdem durchgehend im Bundesgebiet aufhältig.

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger Afghanistans und wurde als Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams geboren.

Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in Kabul, Afghanistan, geboren und hat dort bis zum Tod seines Vaters gelebt. Anschließend lebte er mit seiner Mutter und seiner Schwester in der Stadt XXXX , Provinz XXXX , in der seine Mutter aufgewachsen ist.

Der Beschwerdeführer lebt im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter, die in Österreich asylberechtigt ist. Die Schwester des Beschwerdeführers lebt mit ihrer Familie ebenfalls in Österreich und ist asylberechtigt; es besteht regelmäßiger Kontakt. Der Vater des Beschwerdeführers ist verstorben.

Der Beschwerdeführer leidet seit seiner Geburt an einer schweren Intelligenzminderung – psychomotorische Retardierung bei Frühgeburt – sowie an Epilepsie mit generalisiert tonisch klonischen Anfällen. Aufgrund dessen hat er nie eine Schule besucht, ist nicht erwerbsfähig und benötigt im Alltag bei sämtlichen Tätigkeiten Unterstützung. Der Gesamtgrad seiner Behinderung beträgt 100 v.H.. Er wird derzeit mit Tegretol retard 400 mg ½-0-0-1 und Levetiracetam 1000 mg ½-0-0-½ behandelt und ist in der Pflegestufe 6.

Die von ihm benötigte Unterstützung im Alltag bekommt er von seiner Mutter. Auch in Afghanistan hat sie sich alleine um ihn gekümmert. Von der Familie des Vaters des Beschwerdeführers wurde sie dabei nicht unterstützt.

Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den geltend gemachten Fluchtgründen:

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner sichtbaren bzw. wahrnehmbaren psychischen Beeinträchtigung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan individuell und konkret Lebensgefahr sowie ein Eingriff in seine körperliche Integrität.

Weitere Feststellungen bezüglich einer von seinem Onkel ausgehenden Bedrohung waren nicht notwendig, da er aufgrund seiner psychische Beeinträchtigung der sozialen Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung angehört und er schon deswegen in Afghanistan von Verfolgung bedroht ist.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Das Bundesverwaltungsgericht trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

1.3.1.  Auszug aus dem Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 11.06.2021", Schreibfehler teilweise korrigiert):

"Psychische Erkrankungen

Letzte Änderung: 11.06.2021

Viele Menschen innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden unter verschiedenen psychischen Erkrankungen als Folge des andauernden Konflikts, Naturkatastrophen, endemischer Armut und der COVID-19-Pandemie (UNOCHA 19.12.2020). Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat mentale Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt, doch der Fortschritt ist schleppend und die Leistungen außerhalb Kabuls dürftig (STDOK 4.2018). Gemäß der „Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2019-2023“ erhalten weniger als 10% der Bevölkerung die für die Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen erforderlichen medizinischen Leistungen (MoPH o.D.; vgl. AOAV 1.10.2020, HRW 7.10.2019) und nur ein psychosozialer Berater steht für je 46.000 Menschen zur Verfügung (MoPH o. D.; vgl. HRW 7.10.2019). Da es kaum Anzeichen für eine Einstellung der Feindseligkeiten oder einen dauerhaften humanitären Waffenstillstand im Jahr 2021 gibt, wird geschätzt, dass bis zu 310.500 Traumafälle aufgrund des anhaltenden und eskalierenden Konflikts eine medizinische Notfallbehandlung benötigen (UNOCHA 19.12.2020).

Das Ziel der „Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2019-2023“, die vom Ministerium für öffentliche Gesundheit (MoPH) entwickelt wurde, ist es, sich der psychischen Erkrankungen in der afghanischen Gesellschaft anzunehmen und durch diese Strategie qualitativ hochwertige psychische und psychosoziale Versorgung und Dienste für alle Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen, wobei der Schwerpunkt auf den psychischen Gesundheitsbedürfnissen der armen, unterversorgten, benachteiligten und gefährdeten Bevölkerungsgruppen liegt. Diese Dienste sollen evidenzbasiert und gemeinwesenorientiert sein und auf allen Versorgungsebenen von qualifiziertem und motiviertem Personal erbracht sowie, dem Zeitplan nach, in allen Provinzen umgesetzt werden (MoPH o. D.; vgl. RA KBL 20.10.2020).

Der Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung oder psychosozialer Unterstützung bleibt für viele unerreichbar, insbesondere in ländlichen Gebieten. Obwohl psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützungsdienste (Mental Health and Psychosocial Support Services, MHPSS) in das nationale Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Hospital Services (EPHS) integriert wurden, stehen landesweit nur 320 Krankenhausbetten im öffentlichen und privaten Sektor für Menschen mit psychischen Problemen zur Verfügung (UNOCHA 19.12.2020; vgl. WHO o.D.).

In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden – genauso wie Kranke und Alte – gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen (STDOK 4.2018; vgl. BAMF 2016). Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen (AA 16.7.2020). Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem (BDA 18.12.2018). Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert (AA 16.7.2020, vgl. BDA 18.12.2018). Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik (STDOK 4.2018).

Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig (BDA 18.12.2018).

Wie auch in anderen Krankenhäusern Afghanistans ist eine Unterbringung im Kabuler Krankenhaus von Patienten grundsätzlich nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden (AA 16.7.2020). So werden Patienten bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen, oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen (IOM 24.4.2019).

Die Internationale Psycho-Soziale Organisation (IPSO) bietet Menschen in Kabul Beratungsdienste zu psychosozialen und psychischen Gesundheitsfragen an (IPSO o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020), und Peace of Mind Afghanistan ist eine nationale Kampagne zur Sensibilisierung für psychische Gesundheit, die Botschaften und Instrumente zum psychischen Wohlbefinden verbreitet (PoMA o.D.; vgl. RA KBL 20.10.2020).

[…]"

1.3.2. Auszug aus einer ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gesellschaftliche Wahrnehmung von Personen mit psychischen Erkrankungen; staatlicher Umgang, vom 07.05.2020:

"[...]

Stigmatisierung durch die Gesellschaft (bis hin zu "Sanktionen"), schädigende Praktiken, Selbstmorde, Wunderheiler, religiöse Aspekte, Unterlassung von Hilfeleistung

Khaama Press hält in dem bereits erwähnten Artikel vom März 2019 fest, dass das weit verbreitete Stigma, das mit psychischen Störungen verbunden sei, die Weiterentwicklung und Umsetzung einer psychische Erkrankungen betreffenden Gesundheitspolitik gefährde. Stigmatisierung und Diskriminierung seien Barrieren, die Interventionen zur Behandlung der Betroffenen erschweren würden, insbesondere treffe dies auf die ländlichen Gebiete Afghanistans zu. Khaama Press erwähnt weiters, dass es in Afghanistan einige kulturelle und soziale Barrieren gebe, die den meisten Opfern den Zugang zu psychosozialen Diensten verwehren würden, wie z.B. das Unvermögen, für die Behandlung zu bezahlen, mangelnde Unterstützung durch Familienmitglieder und Freunde sowie Selbststigmatisierung aufgrund der negativen und falschen Vorstellungen über psychische Erkrankungen:

[...]

Die WHO schreibt im April 2020 auf ihrer Website, dass Menschen mit psychischen Störungen Stigma und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt seien. Auch Gesundheitsdienstleister würden berichten, davon betroffen zu sein:

[...]

In einer im medizinischen Journal Transcultural Psychiatry im Februar 2013 veröffentlichten Studie der AutorInnen Jean-Francois Trani und Parul Bakhshi von der Washington University in St. Louis zum Thema Vulnerabilität und psychische Gesundheit in Afghanistan finden sich folgende Informationen zur Behandlung von Menschen mit Beeinträchtigungen: Soziale Ausgrenzung sei das häufigste Schicksal von Personen mit angeborener Beeinträchtigung, einer sogenannten „Mayub“. In dem Begriff Mayub würde das Vorliegen von unerklärten religiösen und übernatürlichen Ursachen für die Beeinträchtigung mitschwingen, wie etwa „Gottes Wille, Geister, Dschinn (übernatürliche Wesen, Anmerkung ACCORD), schwarze Magie, Schicksal“. Im Gegensatz dazu könnten ''erworbene'' Formen der Beeinträchtigung („Malul“ genannt) auf einen konkreten Vorfall zurückgeführt werden (z.B. Kriegsverletzung, Arbeitsunfall etc.). Diese Unterscheidung zwischen Mayub und Malul beeinflusse alle Lebensbereiche: soziale Akzeptanz und Selbstachtung, Integration in Bildung, Zugang zu Beschäftigung sowie Ehe. Mayub würden systematisch ausgestoßen, da ihre Beeinträchtigung als schicksalshaft gelten würde und die Gesellschaft sie infolgedessen dafür verantwortlich mache. Soziale Feindseligkeit äußere sich in verbalen Beschimpfungen: Mayub würden als "nicht gesund" oder "halb menschlich" angesehen. Feindseligkeit und Scham würden wiederum zu weiterer Isolation führen. Mütter hätten zum Beispiel Angst, dass ihre beeinträchtigten Kinder in der Schule misshandelt werden könnten. Menschen mit jeglicher Art von psychischer Erkrankung, von Geisteskrankheit bis hin zu Depressionen würden mit dem umgangssprachlichen Begriff Dewana bezeichnet, was übersetzt bedeute, dass etwas im Zusammenhang „mit dem Geist falsch sei“. Ein mangelndes Verständnis dieser unterschiedlichen Zustände und die mangelnde Fähigkeit, mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung umzugehen, führe zu Vorurteilen und in der Folge zu Ausgrenzung und Marginalisierung:

[...]

Khaama Press schreibt im bereits erwähnten Artikel vom März 2019, dass psychisch kranke Personen in den meisten Fällen von Mullahs behandelt und in schweren Fällen in traditionelle Heilzentren gebracht würden. Es gebe einen berühmten Schrein namens Mia Ali in der Stadt Dschalalabad, die im Osten Afghanistans liege. Menschen würden dort Familienmitglieder hinbringen, denen es geistig nicht gut gehe, da sie glauben würden, dass psychische Gesundheitsprobleme durch eine am Schrein durchgestandene schwere Qual geheilt werden könnten. Diese traditionellen Heilszentren würden über keine Einrichtungen wie etwa Toiletten verfügen. Kranke Menschen seien an diesen heiligen Stätten tage- oder sogar monatelang angekettet:

[...]

Die britische Tageszeitung The Telegraph berichtet in einem Artikel vom Oktober 2019 über eine traditionelle Einrichtung zur Behandlung von psychischen Erkrankungen in Samarkhel, einem Dorf in der Provinz Nangarhar, wo sich ein Schrein namens Mia Ali Sahib befinde. Für eine tägliche Gebühr von 250 pakistanischen Rupien (etwa 1,44 Euro, Anmerkung ACCORD) würden die psychisch kranken Personen in unmittelbarer Nähe des Schreins festgekettet und erst nach 40 Tagen wieder befreit und entlassen:

[...]"

1.3.3. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018:

"Personen mit Behinderung, insbesondere geistiger Behinderung, und Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden

Personen mit Behinderung, insbesondere Personen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, sind Berichten zufolge Misshandlungen durch Mitglieder der Gesellschaft ausgesetzt, darunter auch durch Angehörige ihrer eigenen Familien, da ihre Krankheit oder Behinderung als Bestrafung für von den Betroffenen oder ihren Eltern begangene Sünden betrachtet wird. Personen mit Behinderungen sind mit Diskriminierung und mit eingeschränktem Zugang zu Erwerbstätigkeit, Bildung und angemessener medizinischer Betreuung konfrontiert."

1.3.4. Auszug aus der EASO Country Guidance: Afghanistan – Common analysis and guidance note vom Dezember 2020:

"Persons living with disabilities and persons with severe medical issues

This profile refers to people with disabilities, including mental disabilities, as well as those who have severe medical issues, including mental health issues.

COI summary

[...]

In Afghanistan, people with mental and physical disabilities are often stigmatised. Their condition is at times considered to have been ‘related to God’s will’. Mistreatment of those people by society and/or by their families has occurred. Women, displaced persons and returned migrants with mental health issues are particularly vulnerable. There is also lack of appropriate infrastructure and specialist care that covers the needs of people with disabilities. The existing structures are largely concentrated in a few urban centres [Key socio-economic indicators 2020, 2.6]."

1.3.5. Auszug aus der Kurzinformation der Staatendokumentation – Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand 20.08.2021:

"[...]

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen TalibanFührer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird.

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der TalibanRegierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).

Gebietskontrolle der Taliban im Vergleich

[...]"

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Einreise des Beschwerdeführers nach Österreich und zu seinem Aufenthalt im Bundesgebiet ergeben sich aus dem Verwaltungsakt.

Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit, Religion sowie zum Namen und Geburtsdatum des Beschwerdeführers gründen auf den gleichbleibenden und nachvollziehbaren Angaben seiner Mutter in der ihren Antrag auf internationalen Schutz betreffenden Befragung beim BFA sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch stehen ihre Angaben mit der vorgelegten und übersetzten Tazkira des Beschwerdeführers im Einklang.

Dass Dari die Muttersprache des Beschwerdeführers ist, gründet auf den Angaben seiner Mutter in ihrem Verfahren sowie auf der Verwendung der Sprache Dari in diesem. Des Weiteren verwendete der Beschwerdeführer während seiner Untersuchung im Zusammenhang mit dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten, das vom BFA beauftragt wurde, die Sprache Dari. Dass er ledig ist und keine Kinder hat, ergibt sich aus den Angaben seiner Mutter in ihrem Verfahren sowie aus der Aktenlage.

Die Feststellungen zum Geburtsort sowie zu den Wohnorten des Beschwerdeführers in Afghanistan gründen ebenfalls auf den nachvollziehbaren und im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben seiner Mutter in ihrem Verfahren und stimmen des Weiteren mit dem Ausstellungsort und -datum der vorgelegten Tazkira des Beschwerdeführers überein.

Auch die Feststellungen zur Lebenssituation des Beschwerdeführers in Österreich sowie jene bezüglich seiner Kernfamilie und deren Aufenthalt ergeben sich aus den nachvollziehbaren und genügend substantiierten Angaben seiner Mutter dazu in ihrem Verfahren.

Die Feststellungen zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers und den Auswirkungen dieser auf sein Leben basieren auf dem Sachverständigengutachten vom 06.12.2017 von Dr. XXXX (vidiert von Dr. XXXX ), das vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen eingeholt wurde, sowie dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 16.02.2018 von Prim. Dr. XXXX , welches vom BFA beauftragt wurde. Auch die vorgelegten, unbedenklichen Arztbriefe vom 15.03.2017, 29.09.2017 und 15.12.2017 stimmen damit überein. Dass der Beschwerdeführer in der Pflegestufe 6 ist, gründet auf der plausiblen Angabe seiner Mutter in ihrem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Ebenso beruht die Feststellung, dass der Beschwerdeführer zeit seines Lebens im Alltag von seiner Mutter unterstützt und betreut wird, auf deren substantiierten und nachvollziehbaren Angaben in ihrem eigenen Verfahren sowie ihren Angaben bei der Gutachtenserstellung. Dass der Beschwerdeführer von der Familie seines Vaters nicht betreut wurde, gründet ebenfalls auf den plausiblen Angaben seiner Mutter dazu in ihrem eigenen Verfahren.

Dass der Beschwerdeführer strafgerichtlich unbescholten ist, ergibt sich aus der Einsichtnahme in das österreichische Strafregister.

2.2. Zu den geltend gemachten Fluchtgründen:

Die schwere psychische Behinderung des Beschwerdeführers führt zwangsläufig/unvermeidbar dazu, dass er im Alltag als geistig beeinträchtigt wahrgenommen wird. Dies auch aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes. Er leidet dementsprechend an einer nach außen hin sichtbaren bzw. wahrnehmbaren psychischen Beeinträchtigung, die unveränderbar ist und ihm eine deutlich abgegrenzte Identität schafft, die ihn andersartig erscheinen lässt als sonstige Personen. Aufgrund dieses Umstandes und der in der afghanischen Gesellschaft vorhandenen Mythen in Bezug auf Personen mit Behinderung, beispielsweise Behinderungen als Folge schwarzer Magie, insbesondere im Zusammenhang mit der in Afghanistan weitverbreiteten Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung, besonders von Menschen, die wie der Beschwerdeführer seit ihrer Geburt beeinträchtigt sind, droht dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan individuell und konkret Lebensgefahr sowie ein Eingriff in seine körperliche Integrität.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.

Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte zugrunde liegen, die vor der Machtübernahme durch die Taliban erstattet wurden, ist insbesondere zur Länderinformation auszuführen, dass die angeführten Auszüge von der Staatendokumentation des BFA aufgrund der derzeitigen Situation in Afghanistan als obsolet angesehen werden. Jedoch ist aufgrund der angeführten Kurzinformation der Staatendokumentation zur aktuellen Lage und zahlreicher Medienberichte nicht davon auszugehen, dass sich die Situation für Angehörige der sozialen Gruppe der Menschen mit Behinderung verbessert hätte, sondern womöglich sogar verschlechtert. Weshalb in der Folge nunmehr "veraltete" Länderinformationen sowie eine ACCORD-Anfragenbeantwortung, UNHCR Richtlinien und EASO Country Guidance, die alle vor der Machtübernahme der Taliban erstellt wurden, herangezogen wurden. Dies insbesondere deshalb, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich allein aufgrund der Machtübernahme der Taliban der gesellschaftliche Umgang mit Menschen mit Behinderung geändert hat.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht (vgl auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) verweist). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0080, mwN).

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011; 17.3.2009, 2007/19/0459; 28.5.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771; 17.3.2009, 2007/19/0459; 28.5.2009, 2008/19/1031; 6.11.2009, 2008/19/0012). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011; 28.5.2009, 2008/19/1031. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.3.1995, 95/19/0041; 27.6.1995, 94/20/0836; 23.7.1999, 99/20/0208; 21.9.2000, 99/20/0373; 26.2.2002, 99/20/0509 mwN; 12.9.2002, 99/20/0505; 17.9.2003, 2001/20/0177; 28.10.2009, 2006/01/0793; 23.2.2011, 2011/23/0064) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 mwN).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793¿19.11.2010, 2007/19/0203; 23.2.2011, 2011/23/0064; 24.3.2011, 2008/23/1101). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht – unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256) –, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 [1996] 73; weiters VwGH 26.2.2002, 99/20/0509 mwN; 20.9.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203; 23.2.2011, 2011/23/0064; 24.3.2011, 2008/23/1101). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.2.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203; 23.2.2011, 2011/23/0064; 24.3.2011, 2008/23/1101).

Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.

Mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Menschen mit Behinderung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan verfolgt zu werden, macht er einen solchen Grund geltend.

Nach Art. 10 Abs. 3 lit. b der Verfahrensrichtlinie haben die Mitgliedstaaten bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz unter anderem sicherzustellen, dass hierfür genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa von UNHCR und EASO, eingeholt werden. Die besondere Bedeutung von Berichten von UNHCR und EASO ergibt sich daher schon aus dem Unionsrecht, UNHCR-Richtlinien kommt zudem nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Indizwirkung zu (vgl. VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0103; 08.08.2017, Ra 2017/19/0118).

UNHCR ist der Ansicht, dass – abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles – für Personen mit Behinderungen, insbesondere für Personen mit geistiger Behinderung, sowie Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor einer solchen Verfolgung zu bieten, bestehen kann (S. 92, UNHCR-RL zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018). Wie bereits in den Feststellungen unter 1.3.4. ausgeführt, kommt es, laut EASO, zur Stigmatisierung von Personen mit geistiger Behinderung sowie dazu, dass diese sowohl von der Gesellschaft als auch von ihren Familien misshandelt werden (S. 83, EASO Country Guidance: Afghanistan, Dezember 2020).

Gemäß Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Die sichtbare bzw. wahrnehmbare psychische Beeinträchtigung des Beschwerdeführers, die unveränderbar ist, führt unvermeidbar dazu, dass er von der ihn umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen wird. Er gehört daher der sozialen Gruppe der Menschen mit Behinderung an.

Den Feststellungen (Länderinformation, ACCORD-Anfragenbeantwortung, UNHCR-RL, EASO Country Guidance) ist zu entnehmen, dass in Afghanistan – vor der Machtübernahme durch die Taliban – keine staatliche oder systematische Verfolgung von Menschen mit Behinderung bestand. Es kam allerdings zur Misshandlungen durch die Familie sowie die Gesellschaft im Allgemeinen. Auch kam es unter anderem zu Diskriminierungen im Sozialleben, am Arbeitsmarkt und bei der Bildung. Dies insbesondere aufgrund der fehlenden Bildungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung. Häufig kam es auch zur sozialen Ausgrenzung von Menschen mit angeborener Beeinträchtigung, da ihre Beeinträchtigung als schicksalhaft gesehen wird und die Gesellschaft sie in der Folge dafür verantwortlich macht. Dies äußert sich in verbalen Beschimpfungen, welche in Verbindung mit Scham zur sozialen Isolation führen.

Wie beweiswürdigend ausgeführt, wurden diese Informationen vor der Machtübernahme der Taliban gesammelt und veröffentlicht. Es ist aber davon auszugehen, dass sich, auch wenn es nun eine neue Regierung gibt, dies nicht unmittelbar eine Auswirkung darauf haben wird, wie Personen, die der sozialen Gruppe der Menschen mit Behinderung angehören, von der afghanischen Gesellschaft angesehen und behandelt werden.

Dementsprechend ergibt sich aus dem oben zur Person des Beschwerdeführers festgestellten Sachverhalt und den Feststellungen zur Situation von Personen, die der sozialen Gruppe von Menschen mit Behinderung in Afghanistan angehören, dass dem Beschwerdeführer als Person mit sichtbarer bzw. wahrnehmbarer psychischer Beeinträchtigung im Fall einer Rückkehr in ganz Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit massive Einschränkungen und Diskriminierungen im persönlichen Bereich auf Grund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Menschen mit Behinderung drohen. Des Weiteren wäre er einem erheblichen Verfolgungsrisiko für seine persönliche Sicherheit und physische Integrität ausgesetzt, wodurch die ernsthafte Gefahr von Menschenrechtsverletzungen entsteht. Dies unter anderem in Folge von sozialer Ausgrenzung sowie Misshandlung durch die Familie und ihm fremde Personen.

Für den Beschwerdeführer besteht in der Folge auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan, da die Situation für Angehörige der sozialen Gruppe der Menschen mit Behinderung im gesamten Staatsgebiet gleich ist.

Auch wenn die angeführten Bedrohungen keine Verfolgung von staatlicher Seite darstellen, kann aufgrund der derzeitigen (unvorhersehbaren) Situation in Afghanistan nicht davon ausgegangen werden, dass die nunmehrige Taliban-Regierung eine umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten für Personen mit Behinderung sicherstellen wird. In der Folge ist für den Fall des Beschwerdeführers nicht davon auszugehen, dass er als Person mit wahrnehmbarer geistiger Beeinträchtigung in seinem Herkunftsstaat ausreichend Schutz vor Misshandlung, Ausgrenzung sowie weiteren Diskriminierungen aufgrund seiner Beeinträchtigung findet.

Dem Beschwerdeführer droht somit im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abs. A Z 2 GFK.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen seiner Zugehörigkeit zu sozialen Gruppe der Menschen mit Behinderung verfolgt zu werden, außerhalb Afghanistans befindet und im Hinblick auf diese Furcht es ihm nicht zugemutet werden kann, in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren.

Angesichts dieses Ergebnisses kann dahin gestellt bleiben, ob dem Beschwerdeführer auch Verfolgung aus anderen in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Gründen droht.

Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (Artikel 1 Abschnitt D, F der GFK und § 6 AsylG) oder eines Endigungsgrundes (Artikel 1 Abschnitt C der GFK) ist nicht hervorgekommen.

Dem Beschwerdeführer war daher gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zum Unterbleiben der mündlichen Verhandlung:

Gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Gemäß § 24 Abs. 1 des VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Nach Abs. 4 leg.cit. kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts Anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat in Bezug auf § 41 Abs. 7 AsylG 2005 in der Fassung bis 31.12.2013 unter Berücksichtigung des Art. 47 iVm. Art. 52 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union (im Folgenden: GRC) ausgesprochen, dass das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde erklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist, im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 GRC steht, wenn zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde. Hat die beschwerdeführende Partei hingegen bestimmte Umstände oder Fragen bereits vor der belangten Behörde releviert oder sind solche erst nachträglich bekannt geworden, ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich, wenn die von der beschwerdeführenden Partei bereits im Verwaltungsverfahren oder in der Beschwerde aufgeworfenen Fragen – allenfalls mit ergänzenden Erhebungen – nicht aus den Verwaltungsakten beantwortet werden können, und insbesondere, wenn der Sachverhalt zu ergänzen oder die Beweiswürdigung mangelhaft ist (VfGH 14.03.2012, U 466/11-18, U 1836/11-13).

Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) hat mit Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. Ra 2014/20/0017 und 0018-9, für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" unter Bezugnahme auf das Erkenntnis des VfGH vom 12.03.2012, Zl. U 466/11 ua., festgehalten, dass der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen muss. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Schließlich ist auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

Im gegenständlichen Fall konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden, da es aufgrund der schweren geistigen Beeinträchtigung des Beschwerdeführers nicht möglich ist, diesen einzuvernehmen und der entscheidungsrelevante Sachverhalt dem Verwaltungsakt, insbesondere den medizinischen Gutachten, entnommen werden kann.

Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, wonach eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht, sind im gegenständlichen Fall somit erfüllt.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Schlagworte

Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung Behinderung Drohungen Erwachsenenvertreter Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative private Verfolgung psychische Behinderung psychische Erkrankung schwere Krankheit soziale Gruppe staatlicher Schutz Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W216.2210921.1.00

Im RIS seit

02.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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