Entscheidungsdatum
23.09.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W159 2237995-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.11.2020, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.07.2021 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 1 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, gelangte spätestens am 17.09.2020 irregulär nach Österreich und stellte noch an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 18.09.2020 wurde er im XXXX einer Erstbefragung nach dem AsylG unterzogen. Zu seinen Fluchtgründen führte er aus, dass er bei der afghanischen Nationalarmee gewesen sei und deswegen von den Taliban bedroht und verfolgt worden sei. Wegen der Taliban fürchte er bei einer Rückkehr um sein Leben.
Am 29.10.2020 erfolgte eine inhaltliche Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich. Der Beschwerdeführer legte mehrere Drohbriefe, eine Tazkira, eine Ausbildung zum Offizier, einen Dienstausweis und eine Urkunde für Scharfschützenausbildung vor. Er habe keine Verwandten in Österreich und befinde sich in Grundversorgung. Er habe auch noch keinen Deutschkurs besucht. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei sunnitischer Moslem. Mit den Behörden seines Heimatlandes habe er keine Probleme gehabt. Er sei XXXX in der Provinz Nangarhar im Ort XXXX im Distrikt XXXX geboren worden. Er habe neun Klassen die Schule abgeschlossen und anschließend als Landwirt gearbeitet. Mit 18 Jahren sei er dann zum Militär gegangen und sei elf Monate beim Militär gewesen. Er sei weder verheiratet noch habe er Kinder. Er habe sechs Brüder und fünf Schwestern. Seine Familie sei in der Zwischenzeit nach Pakistan gezogen. Wo sie genau leben würden, wisse er nicht. Er wisse aber, dass sie in der Stadt XXXX sich aufhalten würden. Seine Tanten und Onkeln würden teilweise im Heimatdistrikt, teilweise in XXXX oder Kabul leben und weitere auch in Pakistan. Mit seiner Familie habe er zuletzt Kontakt gehabt, als er noch in Serbien gewesen sei. Er sei dem Militär beigetreten. In der Ortschaft XXXX gebe es auch einen anderen Clan, der bei den Taliban sei. Dieser sei mit seinem Clan verfeindet. Er habe schon immer Soldat werden wollen. Ein Cousin sei auch Soldat gewesen und bei einem Bombenanschlag verletzt, sodass er nicht mehr gehen könne. Als er beim Militär gewesen sei, habe er einen Drohbrief erhalten. Seine Brüder und er seien bedroht worden. Deswegen habe ihm sein Vater geraten, den Dienst zu beenden. Auch zwei Cousins mütterlicherseits seien von den Taliban getötet worden. Das Leben seiner ganzen Familie sei in Gefahr gewesen. Die Taliban hätten ihn aufgefordert, dass er sich ihnen stelle. Er sei dann in die Türkei gereist, aber auch dort hätten ihn Leute aus seinem Heimatdorf aufgefordert, mit den Taliban zu sprechen. Er habe Angst bekommen und sei nach Europa geflüchtet. Insgesamt sei er dreimal bedroht worden. Beim ersten Mal habe er im Dienst einen Anruf erhalten. Beim zweiten Mal sei ein allgemeiner Drohbrief im Ort verteilt worden und beim dritten Mal sei ein persönlicher Drohbrief an ihn geschickt worden. Er sei „ XXXX “ gewesen und habe eine Ausbildung zum „ XXXX “ gemacht. Er habe das große Gewehr an einem Fahrzeug bedient. Er sei wohl kein Kommandant gewesen, habe aber sechs Soldaten unter sich gehabt. Als er bedroht worden sei, habe er das seinem Kommandanten gemeldet. Er habe aber nicht weiter Dienst versehen können, weil die Taliban auch gedroht hätten, seine Brüder mitzunehmen. Sie hätten auch seinen Onkel und seinen Cousin getötet. Nach dem persönlichen Drohbrief habe er drei- bis viermal Drohanrufe der Taliban erhalten. In der Türkei habe er dann junge Männer von einem verfeindeten Clan, die mit den Taliban zusammengearbeitet hätten, gesehen. Er habe Angst gehabt, dass sie ihm etwas antun würden. Das fluchtauslösende Moment sei der Anschlag auf seinen Cousin gewesen. Bei einer Rückkehr würde er auch von der Armee bestraft werden. Bei einer Rückkehr würden ihn „diese Personen“ nicht am Leben lassen. Er habe auch Albträume, stehe aber derzeit nicht in ärztlicher Behandlung. Der allgemeine Drohbrief und der persönliche Drohbrief wurden übersetzt, ebenso die Tazkira.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 25.11.2020, Zahl XXXX wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchpunkt II. dieser Antrag auf hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen, unter Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V. die Abschiebung (noch ohne Nennung eines Zielstaates) für zulässig erklärt und unter Spruchpunkt VI. die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgelegt.
In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt sowie Feststellungen zur Person und zur (damaligen) Lage in Afghanistan getroffen. In der Beweiswürdigung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Beschwerdeführer bei der Schilderung der behaupteten Gefährdungslage jegliches Detail habe vermissen lassen und seien die Behauptungen überdies nicht nachvollziehbar und widersprüchlich gewesen. Weiter sei auch die Behauptung, dass er von einem anderen Clan in der Türkei gesucht und bedroht worden sei, nicht plausibel.
In der rechtlichen Beurteilung zu Spruchteil I. wurde zunächst ausgeführt, dass das Vorbringen nicht als glaubhaft einzustufen gewesen sei und dass überdies der Beschwerdeführer die Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative gehabt habe. Zum Spruchteil II. wurde noch ausführlicher auf eine inländische Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat eingegangen. Es wurde ausgeführt, dass weder nach dem Vorbringen noch der allgemeinen Situation etwas ersichtlich sei, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr eine unmenschliche Behandlung im gesamten Herkunftsstaat oder ihm eine extreme Gefährdungslage drohen würde. Auch die aktuelle COVID-19-Pandemie erfordere nicht die Zuerkennung von subsidiärem Schutz. Zu Spruchteil III. wurde insbesondere ausgeführt, dass keine der drei Voraussetzungen des § 57 AsylG vorläge, zu Spruchpunkt IV., dass der Beschwerdeführer über keine zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigte Verwandtschaft verfüge und auch sonst keine sonstigen privaten Bindungen nach Österreich habe. Er verfüge über keine Deutschkenntnisse oder eine sonstige Integration in Österreich und habe mit seiner illegalen Einreise gegen die Vorschriften des Fremdenwesens verstoßen und habe daher die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu unterbleiben gehabt und sei eine Rückkehrentscheidung zulässig. Zu Spruchpunkt V. wurde insbesondere ausgeführt, dass sich im vorliegenden Fall keine Gefährdung iSd § 50 FPG ergebe und einer Abschiebung auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entgegenstehe, sodass diese zulässig sei (ohne dass ein konkretes Land genannt wurde.). Zu Spruchpunkt VI. wurde schließlich dargelegt, dass besondere Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise nicht hätten festgestellt werden können.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller, damals vertreten durch den XXXX , fristgerecht gegen alle Spruchpunkte Beschwerde und beantragte ausdrücklich die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Zunächst wurde das bisherige Vorbringen gerafft wiedergegeben. Die Behörde sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Kernfamilie des Beschwerdeführers weiterhin in Afghanistan aufhältig sei, obwohl er ausdrücklich angegeben habe, dass diese (außer den verheirateten Schwestern, die nach den afghanischen Sitten nicht mehr zur Familie zählen würden) in Pakistan aufhältig sei. Der Beschwerdeführer sei auch nach den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender als Mitglied der Polizei/des Militärs gefährdet und sei sein Vorbringen auch deswegen asylrelevant, weil der Staat ihn weder schützen könne noch schützen wolle. Der Einfluss der Taliban nehme in Afghanistan sukzessive zu und wurde in der Folge insbesondere auch aus einem Gutachten der Sachverständigen Friederike STAHLMANN für das Verwaltungsgericht XXXX zitiert, aus dem die vielschichtigen Gefährdungslagen hervorgingen, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr treffen würden.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 01.07.2021 an, vorweg wurde eine Vollmacht der Bundesbetreuungsagentur vorgelegt. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung. Am Beginn der Verhandlung legte der Beschwerdeführervertreter einen Arztbrief des XXXX mit der Diagnose Gastronenteritis vor.
Der Beschwerdeführer hielt seine Beschwerde und das bisherige Vorbringen aufrecht. Er hielt fest, dass er zuerst viermal angerufen worden sei, dann sei ein Drohbrief gekommen und schließlich ein Drohbrief in der Familie. Beim BFA sei dies nicht in der richtigen Reihenfolge protokolliert worden. Außerdem sei geschrieben worden, dass er XXXX gewesen sei. Dies sei ein Offiziersdienstgrad. Er sei aber XXXX gewesen.
Er sei afghanischer Staatsbürger und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei sunnitischer Moslem. Er übe seine Religion auch in Österreich aus. Er sei im Jahr XXXX in der Provinz Nangarhar im Distrikt XXXX geboren. Zum Vorhalt, dass sich aus seiner Tazkira unterschiedliche Geburtsjahrgänge ergeben würden, gab er an, dass er seine ursprüngliche Tazkira beim Militär abgegeben habe und die zweite Tazkira über Bitten durch seinen Cousin ausgestellt worden sei, als er in der Türkei gewesen sei. Er sei in XXXX geboren und aufgewachsen und habe dort neun Jahre lang die Schule besucht. Er habe dort immer gelebt, aber Dienst habe er in Kabul, in Kandarhar und in Helmand gemacht. Die Familie habe Grundstücke in Afghanistan gehabt und von deren Ertrag gelebt. Seine Eltern würden in Pakistan leben. Er habe fünf Schwestern und sechs Brüder. Seine älteste Schwester sei verheiratet und lebe in XXXX , die restlichen bei seinen Eltern in Pakistan, ebenso wie seine Brüder. Er sei weder verheiratet noch verlobt und habe auch keine Kinder. Gefragt, warum er der afghanischen Nationalarmee beigetreten sei, gab er an, dass er großes Interesse daran gehabt habe und auch sein Onkel väterlicherseits dort auch Dienst gemacht habe. Nachdem er neun Jahre lang die Schule besucht habe, habe er eine Aufnahmsprüfung gemacht und sei aufgenommen worden. Er habe dann eine drei Monate lang eine Ausbildung zum XXXX (Unteroffizier) gemacht. Er habe sechs Männer unter sich gehabt und sei insgesamt 1,5 Jahre beim Militär gewesen. Über Vorhalt, dass er beim BFA (AS 67) von elf Monaten Militärdienst gesprochen habe, gab er an, dass er elf Monate Dienst gemacht habe und fünf Monate eine Ausbildung. Er sei Schütze gewesen. Er habe eine Waffe XXXX und ein Maschinengewehr XXXX bedient. Dies seien amerikanische Waffen. Befragt, was der Kaliber der beiden Waffen sei, gab er an, dass die Waffe 30 Kugeln benötige. Die Grundausbildung habe er in Kabul gemacht, dann sei er ein Monat in Kandahar gewesen. Dort habe er Fahren gelernt und den Dienst habe er dann in Helmand verrichtet. Über Vorhalt, dass er beim BFA einerseits angegeben habe „Ich war kein Kommandant“ und andererseits „Ich hatte sechs Soldaten unter mir.“ und er weiters eine Urkunde über eine Offiziersausbildung vorgelegt habe, wurde nach Einsicht der Dolmetscherin in das entsprechende Dokument festgehalten, dass dies eine Ausbildung zum Zugführer, was in Afghanistan bereits ein Unteroffiziersdienstgrad sei, gewesen sei. Als er in Helmand gewesen sei, sei ein Kommandant bei einem Gefecht erschossen worden. Befragt nach Drohbriefen oder Drohanrufen gab er an, dass er den ersten Anruf in Kandahar erhalten habe. Auch als er in Helmand im Dienst gewesen sei, sei er dort angerufen worden und zwar einmal in Kandahar und drei Mal hintereinander in Helmand. Die Anrufer hätten ihn aufgefordert, sich zu ergeben und „zu ihnen“ zu kommen. Einen der Anrufer habe er sogar an der Stimme erkannt, weil er ihn von der Schule gekannt habe. Zwischen dem ersten und dem zweiten Anruf sei ein Monat vergangen, zwischen dem zweiten und dritten Anruf eine Woche. Dann seien nur zwei Tage und bis zum letzten Anruf sei wieder ein Monat vergangen. Er habe die Anrufer immer wieder vertröstet, aber er habe dann Drohbriefe erhalten, wobei ihm auch gedroht wurde, wenn er die Seiten nicht wechseln würde, würden sie ihn umbringen. Befragt, wann und aus welchen Gründen er die afghanische Nationalarmee wieder verlassen habe, gab er an, dass er das genaue Datum wohl nicht mehr sagen könne, aber ca. eineinhalb Jahre, nachdem er beigetreten sei. Er habe den Dienst deswegen beenden müssen, weil seinetwegen seine gesamte Familie Drohbriefe erhalten habe und sein Vater ihm gesagt habe, dass er seine Familie in Gefahr gebracht habe und er den Militärdienst beenden müsse. Er sei ein paar Tage zu seiner Schwester nach XXXX gefahren und habe sich vom Dienst freigenommen. Anschließend habe er seinen Kommandanten angerufen, dass er nicht mehr zurückkehren werde. Er habe seinem Kommandanten mitgeteilt, dass sein Leben in Afghanistan in Gefahr sei. Dieser habe keine besondere Reaktion darauf gezeigt. Er sei dann noch eine Woche bei seiner Schwester in XXXX geblieben und von dort ausgereist. Ein Cousin väterlicherseits, ein Cousin mütterlicherseits und zwei Onkel seien auch noch bei der Armee gewesen. Die Onkel seien aber schon in Pension gewesen. Befragt nach dem unmittelbaren Anlass der Ausreise gab er an, dass ihm nach seinen Drohbriefen bewusstgeworden sei, dass er keine andere Wahl mehr habe. Er habe auf dem Landwege Afghanistan verlassen und sei dann ca. zweieinhalb Jahre in der Türkei geblieben. In der Türkei habe er Burschen aus XXXX wiedergesehen. Seine Familie sei dann nach Pakistan gegangen. Der Sohn seines Onkels, der beim Militär gewesen sei, habe bei einem Anschlag beide Beinen verloren. Dieser sei bei seinem Onkel in Kabul. Sonst habe er keine Verwandten mehr in Afghanistan.
Er leide an Magenschmerzen und habe auch Angstzustände, er sei aber zurzeit nicht in Behandlung. Es sei ihm bisher nicht möglich gewesen, einen Deutschkurs zu bekommen. Eine Arbeit habe er sich ergeben.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre sein Leben in Gefahr. Er würde das nicht überleben. Über Hinweis auf eine allfällige inländische Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif gab er an, dass die Sicherheitslage nirgends sehr gut sei. Sein Cousin sei in Kabul bei einem Bombenanschlag der Taliban verletzt worden. Dieser habe bei der Nationalpolizei gearbeitet und er selbst sei das Ziel des Anschlages gewesen. Er habe sich nach Kabul begeben, weil er gedacht habe, dass er dort sicher sei, aber die Taliban hätten ihn auch dort erwischt. Abschließend betonte der Beschwerdeführer nochmals, dass man den Taliban nicht entkommen könne. Auch ein Cousin mütterlicherseits sei bei der Nationalarmee gewesen. Er habe seinen Dienst beendet und trotzdem hätten die Taliban ihn aufgespürt und einen Anschlag auf ihn verübt. Ein anderer Cousin sei bei einem Anschlag getötet worden.
Verlesen wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers, in dem keine Verurteilung aufscheint. Am Schluss der Verhandlung wurde den Verfahrensparteien das (damals) aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (soweit verfahrensrelevant) unter Einräumung einer Frist von zwei Wochen zur Abgabe einer Stellungnahme vorgehalten.
Von der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme machte der Beschwerdeführer durch seine ausgewiesene Vertretung Gebrauch. Darin wurde zunächst darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer glaubhaft und widerspruchsfrei vorgebracht hat, dass er sich in der afghanischen Armee zum Unteroffizier habe ausbilden lassen und in der Folge auch an Kampfhandlungen teilgenommen hat. Dadurch sei er zur Zielscheibe der Taliban geworden, wobei überdies eine den Taliban angehörige verfeindete Familie die Taliban mit Informationen versorgt habe. Auch habe er die Drohungen seitens der Taliban widerspruchsfrei darlegen können und habe überdies bereits beim BFA diesbezügliche Drohbriefe vorgelegt. Überdies sei sein Cousin mütterlicherseits Ziel eines gezielten Anschlages der Taliban geworden, weil er ebenfalls Mitglied der afghanischen Nationalarmee gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe daher die relevanten Tatsachen glaubhaft machen können, sodass eine asylrelevante Verfolgungsgefahr beim Beschwerdeführer objektiv begründet sei. Weiters wurde ausgiebig auf das Nichtbestehen einer inländischen Fluchtalternative in Herat und Mazar-e Sharif eingegangen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan und gehört der paschtunischen Volksgruppe an und ist sunnitischer Moslem. Er übt seine Religion in Österreich auch aus. Er wurde XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar geboren und ist dort auch aufgewachsen. Nach neun Jahren Schulbesuch arbeitete er zunächst in der Landwirtschaft. Schon in früher Jugend hatte er Interesse für die Tätigkeit bei der afghanischen Nationalarmee, wo auch schon sein Onkel väterlicherseits (und weitere Verwandte) tätig gewesen waren. Nach Absolvierung einer Aufnahmeprüfung wurde er 2016 in die afghanische Nationalarmee aufgenommen und machte eine Ausbildung zum Unteroffizier. Er hat dann als Maschinengewehrschütze in der Provinz Helmand Dienst versehen, wobei er auch in Gefechte verwickelt wurde, bei denen Kameraden getötet wurden.
Während seiner Ausbildung in Kandahar erhielt er Anrufe der Taliban, mit der Aufforderung, aus dem Militär auszutreten und den Taliban beizutreten. Die Anrufer waren zum Teil ihm bekannte Schulkollegen aus der Umgebung. Die Anrufe, die letztlich auch Morddrohungen erhielten, setzten sich in Helmand fort. Insgesamt erhielt der Beschwerdeführer vier Anrufe. Der Beschwerdeführer bekam in der Folge auch einen persönlichen Drohbrief sowie einen Drohbrief an die Familie. Daraufhin forderte ihn sein Vater auf, da er die Familie in Gefahr gebracht habe, seine Tätigkeit bei der Nationalarmee einzustellen, was der Beschwerdeführer auch tat. Er hielt sich kurz bei seiner verheirateten Schwester in XXXX auf und reiste anschließend aus. In der Folge verließ auch die Familie des Beschwerdeführers mit vier (unverheirateten) Schwestern und sechs Brüdern Afghanistan Richtung Pakistan. Der Beschwerdeführer hielt sich in der Folge zweieinhalb Jahre lang in der Türkei auf, wobei er dort Burschen aus seinem Distrikt, die einem verfeindeten, den Taliban nahestehenden Clan angehörten, wiedersah und sich auch vor diesen fürchtete. Zwei Cousins wurden durch Anschläge schwer verletzt, wobei ein Cousin, der bei der Nationalpolizei war, Opfer eines gezielten Anschlages auf seine Person in Kabul war. Der Beschwerdeführer leidet unter Gastroenteritis und gibt überdies noch Angstzustände an. Er konnte bisher weder einen Deutschkurs besuchen noch in irgendeiner Form in Österreich einer Arbeit nachgehen. Der Beschwerdeführer ist unbescholten und führt kein Familienleben in Österreich.
Zur aktuellen Situation in Afghanistan wird Folgendes festgestellt:
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen.
Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. AC-CORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Quellen:
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• UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.10.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report 15 October 2020, https://relief web.int/report/afghanistan/afghanistan-covid-19-multi-sectoral-response-operationalsituation-report-15, Zugriff 8.9.2021
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Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als QuettaShura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihrenAufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Quellen:
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• AJ - Al Jazeera (23.8.2021): Explainer: The Taliban and Islamic law in Afghanistan, https://www.al jazeera.com/news/2021/8/23/hold-the-taliban-and-sharia-law-in-afghanistan, Zugriff 10.9.2021
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• BZ - Berliner Zeitung (8.9.2021): USA und Deutschland: Keine baldige Anerkennung von Taliban-Regierung, https://www.berliner-zeitung.de/news/usa-und-deutschland-keine-baldige-anerkennung-von-taliban-regierung-li.181782, Zugriff 9.9.2021
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• FR - Frankfurter Rundschau (18.8.2021): Machtübernahme in Afghanistan: Wer sind die Anführer der Taliban, https://www.fr.de/politik/taliban-afghanistan-anfuehrer-regierung-krieg-mudschaheddin-islamis ten-90923873.html, Zugriff 15.9.2021
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• NZZ - Neue Zürcher Zeitung (7.9.2021): Die Taliban bilden eine Regierung – und darin sitzen weder andere politische Kräfte noch Frauen, https://www.nzz.ch/international/die-taliban-bilden-eine-reg ierung-und-darin-sitzen-weder-andere-politische-kraefte-noch-frauen-ld.1644387?kid=nl165_2021-9-7&mktcid=nled &ga=1&mktcval=165_2021-09-08&trco=, Zugriff 8.9.2021
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Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass „irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.20