TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/24 W131 2212716-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.09.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

24.09.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W131 2212716-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Reinhard GRASBÖCK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in Folge: Bf) stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab der Bf an, dass er am XXXX in Afghanistan geboren worden sei. Er sei schiitischer Moslem. Er sei ledig und habe keine Kinder. Er habe zwölf Jahre lang die Grundschule besucht, verfüge jedoch weder über eine Berufsausbildung noch über eine Berufserfahrung.

Es sei geflohen, weil in Afghanistan Krieg herrsche. In Ghazni würden die Taliban über große Macht verfügen und die Bevölkerung zum Kämpfen zwingen. Seine Eltern hätten beschlossen, dass er nach Europa gehe, als sie erfahren hätten, dass die Grenzen offen seien.

3. Am XXXX wurde der Bf von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren: belangte Behörde) und in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen und gab dabei an, der Volksgruppe der Hazara anzugehören und schiitischer Moslem zu sein. Er stamme aus dem Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der Provinz XXXX und habe auch bis zuletzt dort gewohnt. Er habe seinem Vater, seit seinem zehnten Lebensjahr, in der Landwirtschaft geholfen.

Sein Vater habe entschieden, dass er in ein anderes Land reisen müsse. Dem zuvor gegangen sei ein Besuch von drei Männern beim Bf zu Hause. Zuerst sei über Landwirtschaft gesprochen worden, danach hätten diese Männer gesagt, dass der Dschihad Pflicht sei und sie gegen die Amerikaner kämpfen müssten. Sie hätten zu seinem Vater gesagt, dass auch er (Anm. der Bf) gegen die Amerikaner kämpfen müsse. Es sei Dschihad und er sei noch jung. Er müsse sie nach XXXX begleiten, wo sich die Madrasa befinde und er unterrichtet werden solle. Es sei ihm von ihnen mitgeteilt worden, dass er mit ihnen mitfahren solle. Sie seien dann in Richtung XXXX Stadt gefahren und zu einem Haus gekommen. Er sei dort von den drei Männern einem Mullah übergeben worden. Dort habe er viele jugendliche Männer gesehen. Nachdem die drei Männer gegessen hätten, seien sie weggefahren und er im Haus verblieben. Am nächsten Tag, nachdem er aufgestanden sei, sei gebetet und der Koran gelesen worden. Nach dem Frühstück habe der Mullah um neun Uhr damit begonnen über den Dschihad zu erzählen, wobei er ausgeführt habe, dass die Muslime gegen die Amerikaner kämpfen würden. Dies sei, acht Tage lang, der Tagesablauf gewesen. Nach acht Tagen habe er, nach dem Abendgebet, mit drei anderen im Auto mitfahren müssen. Die drei anderen Personen hätten eine neue Kleidung bekommen und irgendetwas gefeiert. Nachdem sie vom Haus weggefahren seien, seien sie stehen geblieben, wo ein Auto- XXXX gestanden sei. Er sei dann in ein anderes Auto gestiegen, worin auch sein Vater gesessen sei. Das andere Auto mit den drei Männer sei danach weggefahren. Der Autofahrer sei nach XXXX -Stadt gefahren, wo sie auch übernachtet hätten. Nachdem er die ganze Geschichte seinem Vater erzählt habe, habe dieser entschieden, dass er (Anm. der Bf) in ein anderes Land reisen müsse.

4. Mit Bescheid vom XXXX , zu der im Spruch genannten Zl., wurde der Antrag des Bf auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen den Bf gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG setzte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Bf eine zweiwöchige Frist ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für seine freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Bf seine Fluchtgründe, wonach der von ihm geschilderte Vorfall eine Bedrohung dargestellt habe, nicht habe glaubhaft machen können. In seinem Fall habe es keine ausreichenden Hinweise auf eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung gemäß der GFK gegeben. Das Verfolgungsinteresse der Taliban sei lokal auf die Herkunftsregion des Bf beschränkt. Aufgrund des geringen Verfolgungsinteresses und der fehlenden Adressregistrierung sei eine Verfolgung in anderen Provinzen als unwahrscheinlich anzusehen. Ebenso wäre es dem Bf möglich gewesen, sich in einer anderen Provinz niederzulassen. Es drohe dem Bf auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif in Anspruch nehmen. Der Bf verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

5. Der Bf erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde.

6. Mit Schreiben vom XXXX brachte der Bf Dokumente hinsichtlich seiner Integration in Österreich in Vorlage.

7. Mit Schreiben vom XXXX übermittelte das Bundesverwaltungsgericht die vom Bf vorgelegten Integrationsunterlagen der belangten Behörde zum Parteiengehör.

8. Mit Eingabe vom XXXX übermittelte der Bf weitere Integrationsunterlagen.

9. Mit Schreiben vom XXXX wurde sowohl dem Bf als auch der belangten Behörde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2020 zum Parteiengehör übermittelt.

10. An der am XXXX durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführten öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung nahm der Bf und dessen bevollmächtigter Rechtsvertreter teil. Zudem war ein Vertreter der belangten Behörde anwesend.

11. Mit Schreiben vom XXXX wurde dem Bf und der belangten Behörde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 und die EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 zum Parteiengehör übermittelt.

12. Mit Schreiben vom XXXX wurden der Bf und die belangte Behörde auf die aktuelle Kurzinformation zu Afghanistan vom 20.08.2021 hingewiesen und wurde ihnen freigestellt zur aktuellen Situation in Afghanistan binnen vierzehn Tagen Stellung zu nehmen. Zudem wurde der belangten Behörde die Stellungnahme des Bf vom 07.07.2021 zum Parteiengehör übermittelt.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Bf:

Der Bf führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er spricht zudem Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.

Der Bf wurde in der Provinz XXXX , im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester auf. Die Eltern des Bf leben mit dessen Schwester im Iran. Er hat keine Angehörigen mehr in Afghanistan. Der Bf besuchte dreizehn Jahre lang die Grundschule. Der Bf erlernte keinen Beruf. Der Bf arbeitete seit seinem zehnten Lebensjahr in der Landwirtschaft seines Vaters mit.

Der Bf ist gesund.

Der Bf ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Bf:

Die Familie des Bf ist eines Tages von Taliban aufgesucht worden und haben diese dem Vater des Bf gesagt, dass es nunmehr Pflicht ist, im Dschihad gegen die Amerikaner zu kämpfen. Der Vater hat den Taliban daraufhin seinen Sohn mitgegeben, dieser ist zirka eine Woche lang in einer Madrasa unterrichtet worden. Nach dieser Woche hat der Vater den Sohn mit 150.000 Afghani beim Mullah der Madrasa freigekauft und dessen Flucht nach Europa organisiert, um den Taliban den Zugriff auf seinen Sohn zu entziehen.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 mit Kurzinformation vom 20.08.2021 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO).

1.3.1.  Aktuelle Entwicklungen

Kurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 20.08.2021 zu aktuellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert):

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a). Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.08.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens zwölf Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.08.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es, die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (£ Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR- Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17.09.2021 (VN 18.08.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu‘minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b). [...]“

1.3.2.  Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021). […]

1.3.2.1. Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 12.5.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 12.5.2021). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 30.3.2021).

Anmerkung: Ausführliche Informationen zu Angriffen auf schiitische Glaubensstätten sind dem Kapitel „Sicherheitslage“ zu entnehmen; ausführlichere Informationen zu den Hazara können dem Dossier der Staatendokumentation (7.2016) entnommen werden. Informationen zur religiösen Gruppe der Schiiten, die auch andere Volksgruppen umfasst, können dem Unterkapitel „Schiiten“ entnommen werden. […]

1.3.3.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (UNAMA 2.2021a). […]

1.3.3.1. Taliban:

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021). […]

1.3.3.2. Struktur und Führung

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019). […]


1.3.3.3. Rekrutierungsstrategien

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.6.2017).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Know-how und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017).

Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.3.2021; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a). […]

1.3.3.4. Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse:

Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Taliban zufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021).

Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021).

Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021).

Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021).

Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021).

Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021).

Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a).

Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mitzivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a). […]

2.       Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt, aktuelle Länderinformationen sowie in den Gerichtsakt und durch Einvernahme des Bf in der mündlichen Verhandlung.

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Bf:

Die Feststellungen zur Identität des Bf ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Bf gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Bf im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Bf, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seine familiäre Situation in Afghanistan, seiner Schulausbildung, seiner fehlenden Berufsausbildung und seiner Berufserfahrung in der Landwirtschaft gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Bf zu zweifeln.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Bf bei der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung (Einvernahme BFA S. 12; VHS S. 3) und auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Bf ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Bf:

Die Feststellung zur versuchten Rekrutierung des Bf, seiner Unterrichtung in der Madrasa und zum Freikaufen durch seinen Vater ergibt sich aus den Angaben des Bf in der Einvernahme vor der belangten Behörde vom XXXX und den Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom XXXX . Im Zuge beider Einvernahmen machte der Bf im Wesentlichen gleichlautende Angaben, die auch mit dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts über das Vorgehen der Taliban im Herkunftsstaat übereinstimmen und somit plausibel sind. Der Bf lässt bei der Schilderung seiner Fluchtgründe eine lineare Handlung und ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse erkennen. Wesentlich bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Bf war der Umstand, dass er sein Fluchtvorbringen umfangreich, schlüssig und detailliert schildern konnte. So führte der Bf auch im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, gleichbleibend, aus, dass er von den Taliban rekrutiert worden sei, weil diese die Absicht gehabt hätten, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er gab weiters an, dass er in einer Madrasa gewesen sei und durch die Hilfe seines Vaters, der dem Mullah 150.000 Afghani übergeben habe, befreit worden sei. Er betonte zudem, dass er, für den Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat, dasselbe Probleme mit den Taliban bekommen würde (VHS S. 3).

Mit seinen Ausführungen vermochte der BF dabei, ein umfassendes Bild der erlebten Geschehnisse zu zeichnen, bei welcher er eine stetig zunehmende Angst vor Verfolgung durch die Taliban darlegen konnte. Das Fluchtvorbringen war in sich stimmig und wies keine Widersprüche auf, sodass das Bundesverwaltungsgericht dieses – vor allem auch aufgrund des vom Bf in der öffentlichen mündlichen Verhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks – als glaubwürdig erachtet.

Die Ansicht der belangten Behörde, wonach Schiiten in Afghanistan keiner Verfolgung unterliegen würden, ist in diesem Zusammenhang irrelevant, da der Bf nicht vorgebracht hat, wegen der Zugehörigkeit zum schiitischen Islam verfolgt worden zu sein. Wenn die belangte Behörde vorbringt, dass sich zwischen den Angaben in der Erstbefragung und jenen vor der belangten Behörde bzw vor Gericht Diskrepanzen ergeben hätten, so ist die belangte Behörde auf die einschlägige höchstgerichtliche Judikatur zu verweisen (Ra 2019/14/0429 et al). Außerdem kann das Bundesverwaltungsgericht ein völliges Austauschen der Fluchtgeschichte nicht erkennen, hat der Bf doch in der Erstbefragung angegeben: „In Gazni haben die Taliban große Macht und zwingen die Bevölkerung für sie zu kämpfen." Der Bf hat somit die Problematik der Zwangsrekrutierung bereits in der Erstbefragung angeführt.

Dass der Bf aufgrund seines Alters ins Blickfeld der Taliban geraten ist, erscheint nicht zuletzt aufgrund der eingeführten Länderberichte als schlüssig und plausibel, zumal die Herkunftsprovinz des Bf – wo sich die geschilderten Vorfälle ereignet haben sollen – zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans, mit einer hohen Talibanpräsenz, zählt.

Das Bundesverwaltungsgericht gelangt im Gegensatz zur belangten Behörde daher zum Ergebnis, dass die Angaben des Bf zu seinen Fluchtgründen (versuchte Zwangsrekrutierung durch die Taliban) glaubhaft sind und das Fluchtvorbringen des Bf nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl erfüllt, weshalb davon auszugehen ist, dass dem Bf im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung (zumindest) aufgrund der ihm unterstellten politischen oppositionellen Gesinnung durch die Taliban drohen würde und - die mittlerweile durch die Taliban übernommenen staatlichen Einrichtungen Afghanistans, insbesondere nach der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban – nicht in der Lage sein würden, dem Bf vor dieser Verfolgung im ausreichenden Maß Schutz zu bieten.

Für das Bundesverwaltungsgericht besteht daher kein Zweifel, dass sich das vom Bf Geschilderte tatsächlich zugetragen hat.

2.3.    Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u.a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingetreten ist. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt.


3.       Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1.    Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

Gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 iVm Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung droht.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182). Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011).

Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordert eine Prognose (VwGH 16.02.2000, 99/01/0397). Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183). Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Einer von Privatpersonen und privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung kommt Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 21.04.2011, 2011/01/0100). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119; 28.10.2009, 2006/01/0793, mwN). Die Richtlinie (EU) 2011/95 (Statusrichtlinie) sieht einerseits vor, dass die staatliche Schutzfähigkeit zwar generell bei Einrichtung eines entsprechenden staatlichen Sicherheitssystems gewährleistet ist, verlangt aber anderseits eine Prüfung im Einzelfall, ob der Asylwerber unter Berücksichtigung seiner besonderen Umstände in der Lage ist, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).

Abgesehen davon, dass einer derartigen, nicht vom Staat sondern von Privatpersonen ausgehenden Bedrohung nur dann Asylrelevanz zuzubilligen wäre, wenn solche Übergriffe von staatlichen Stellen geduldet würden (VwGH 10.03.1993, 92/01/1090) bzw wenn der betreffende Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt wäre, diese Verfolgung hintanzuhalten, hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass die Asylgewährung für den Fall einer solchen Bedrohung nur dann in Betracht kommt, wenn diese von Privatpersonen ausgehende Verfolgung auf Konventionsgründe zurückzuführen ist (vgl etwa VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551).

Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der "hierzu geeigneten Beweismittel", insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Im Falle der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können positive Feststellungen von der Behörde nicht getroffen werden (vgl VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0058). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069, Rz 16).

Gemäß § 3 Abs 3 Z 1 und § 11 Abs 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann („innerstaatliche Fluchtalternative“). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann (vgl zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 zB VwGH 15.03.2001, 99/20/0036 und 15.03.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist – wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert – nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „inländischen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Ex

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten