TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/28 I411 1314905-5

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Veröffentlicht am 28.09.2021
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Entscheidungsdatum

28.09.2021

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs7
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §53 Abs2
FPG §55 Abs4
IntG §9
VwGVG §24
VwGVG §27
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I411 1314905-5/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Robert POLLANZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gerhard MORY, Wolf-Dietrich-Straße 19, 5020 Salzburg, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl Erstaufnahmestelle West vom 11.08.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-Verfahrensgesetz für auf Dauer unzulässig erklärt. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus " für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

II. Die Spruchpunkte V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text



Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte erstmals am 20.07.2006 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Das gegen diesen Antrag abweisenden Bescheid des ehemaligen Bundesasylamtes vom 19.09.2007, Zl. 06 07.570-BAS, erhobene Rechtsmittel wurde nach Durchführung einer Verhandlung mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 28.06.2013, Zl. D11 314905-1/2008/7E, abgewiesen.

2. Am 12.11.2015 stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, der letztlich im Beschwerdeverfahren seitens des Bundesverwaltungsgerichtes mit Erkenntnis vom 13.05.2019, GZ: I411 1314905-2/8E und I411 1314905-3/3E, wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde. Eine dagegen erhobene Revision wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.09.2019, Ra 2019/14/0425, als verspätet zurückgewiesen.

3. Am 02.06.2020 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Folgeantrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag wies das Bundesamt mit dem Bescheid vom 11.08.2020, Zl. XXXX , hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurück. Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt V). Ihm wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.). Ferner ist gegen ihn ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen worden (Spruchpunkt VII.).

4. Die gegen den Bescheid vom 11.08.2020 erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgerichts nach Durchführung einer Verhandlung am 12.01.2021 mit Erkenntnis vom 26.01.2021, GZ: I411 1314905-5/16E und I411 1314905-3/21E, als unbegründet ab.

Der dagegen eingebrachten Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 08.07.2021, GZ: Ra 2021/20/0080, teilweise stattgegeben. Das angefochtene Erkenntnis vom 26.01.2021 ist wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben worden, soweit damit gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt wurde, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt und ein für die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der oben angeführte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer ist ledig, Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Er gehört der Volksgruppe der Yoruba an. Seine Identität steht nicht fest.

In Nigeria hat der Beschwerdeführer die Mittelschule absolviert und war im Reifenverkauf tätig.

Er reiste illegal ins Bundesgebiet ein und hält sich zumindest seit dem 20.07.2006 in Österreich auf. Seit 01.08.2006 ist der Beschwerdeführer bis auf den Zeitraum vom 21.11. bis 29.11.2006 durchgehend melderechtlich mit Hauptwohnsitz erfasst.

Aufgrund psychischer Symptome in Form einer rezidivierend depressiven Störung (ICD-10: F33.1), Insomnie (ICD-10: F51.0) und einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) befand er sich zuletzt im Jahr 2015 in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Zurzeit nimmt der Beschwerdeführer schlaffördernde Medikamente ein.

Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig, derzeit geht er jedoch in Österreich keiner Beschäftigung nach und bezieht Leistungen von der staatlichen Grundversorgung. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig. Von 01.07.2012 bis 31.07.2012 war er als gewerblich selbständig Erwerbstätiger sozialversichert. Einer geringfügigen Beschäftigung ging er im Zeitraum vom 05.10.2011 bis 14.01.2012 und vom 18.07.2012 bis 24.02.2013 nach.

Gemeinsam mit der britischen Staatsangehörigen XXXX , geb. XXXX , hat er zwei Kinder. Seine minderjährigen Söhne XXXX , geb. XXXX und XXXX , geb. am XXXX , sind britische Staatsangehörige und leben mit ihrer Mutter im Vereinigten Königreich. Der Kontakt zu denselben gestaltet sich derart, dass XXXX mitsamt den Söhnen den Beschwerdeführer in Österreich etwa zwei- bis dreimal jährlich besucht und ansonsten ein telefonischer Kontakt besteht. In Großbritannien kümmert sie sich alleine sowohl um die Erziehung der Kinder als auch um die finanziellen Angelegenheiten. Zudem hat der Beschwerdeführer auch in Nigeria eine Tochter namens XXXX , geb. XXXX , zu welcher er jedoch nicht in Kontakt steht. Weitere Familienangehörige des Beschwerdeführers, nämlich seine zwei Schwestern, leben ebenfalls in Nigeria. In Österreich verfügt er über keine Verwandten und familiären Beziehungen.

Der Beschwerdeführer nutzte in Österreich die Zeit, um sich zu integrieren, und setzte einige Integrationsschritte.

Er absolvierte die Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz auf dem Sprachniveau A2 und zu Werte und Orientierungswissen. Weiters erwarb er den österreichischen Führerschein und ging von August 2013 bis August 2018 einer ehrenamtlichen Tätigkeit beim Samariterbund nach. Zudem war er als Trommellehrer tätig und verfügt über verschiedene Einstellungszusagen. Der Arbeitsvorvertrag vom 20.12.2019 für die Tätigkeit als Hilfsarbeiter, geknüpft an die Erteilung eines Aufenthaltstitels mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt, hat entsprechend eines Schreibens des Arbeitgebers vom 08.02.2021 nach wie vor seine Gültigkeit.

Ferner knüpfte der Beschwerdeführer in Österreich einige Freunde und Bekannte. Zuletzt schloss er am 12.07.2021 die Pflichtschulprüfung an der Mittelschule Nonntal ab.

Er ist in Österreich nicht vorbestraft.

2. Beweiswürdigung:

Der erkennende Richter des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung folgende Erwägungen getroffen:

2.1. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz.

Ergänzend wurden Auszüge aus dem zentralen Melderegister, dem Strafregister, dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung und der Sozialversicherungsdatenbank eingeholt.

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und dem vorliegenden Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Volljährigkeit und Staatsangehörigkeit gründen ebenso wie die Feststellungen zur Glaubens- und Volksgruppenzugehörigkeit auf den diesbezüglichen glaubhaften und gleichbleibenden Angaben des Beschwerdeführers im Zuge der geführten Asyl- und Fremdenrechtsverfahren.

Da er den österreichischen Behörden bislang keine identitätsbezeugenden Dokumente vorgelegt hat, steht seine Identität nicht fest.

Die Feststellung zum Beginn seines Aufenthaltes im Bundesgebiet ergibt sich aus dem Datum der erstmaligen Asylantragstellung. Die melderechtliche Erfassung des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem eingeholten Auszug aus dem zentralen Melderegister.

Auf seine Aussagen in der mündlichen Verhandlung, den in dieser Verhandlung durch den erkennenden Richter gewonnenen persönlichen Eindruck und den vorgelegten Ambulanzbericht vom 03.07.2015 gehen die Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand und seiner Arbeitsfähigkeit zurück.

Die Feststellungen zum Bildungs- und Berufswerdegang in Nigeria basieren auf den diesbezüglichen Ausführungen des Beschwerdeführers vor dem erkennenden Richter im Zuge seiner mündlichen Beschwerdeverhandlung (Protokoll vom 12.01.2021, S 5).

Hinsichtlich der in London lebenden Söhne wurden die entsprechenden Geburtsurkunden in Vorlage gebracht (AS 159 & AS 161). Obgleich der Beschwerdeführer in den Geburtsurkunden nicht als Vater eingetragen ist, ist dessen Vaterschaft ob des Nachnamens der beiden Kinder, seiner Angaben und der Zeugenaussage der XXXX jedenfalls als glaubhaft anzusehen. Aus der Reisepasskopie von XXXX , geb. XXXX , und seines Sohnes XXXX , geb. XXXX , geht die britische Staatsbürgerschaft hervor (AS 155 & AS 157). Zwar legte der Beschwerdeführer keine Reisepasskopie seines zweitgeborenen Sohnes, XXXX , geb. am XXXX , vor, jedoch stellt sich auch dessen Staatsbürgerschaft in Anbetracht der Staatsbürgerschaft der Mutter und des älteren Bruders jedenfalls als glaubhaft dar. Der Umstand, dass die Lebensgefährtin und die beiden Kinder in Großbritannien leben, geht übereinstimmend aus den Ausführungen des Beschwerdeführers (Protokoll vom 12.01.2021, S 10) und der Zeugin XXXX (Protokoll vom 12.01.2021, S 16 ff) hervor. In Zusammenhang mit dem Kontakt zum Beschwerdeführer sowie hinsichtlich der alleinigen Erziehung samt Finanzierung des Lebensunterhalts durch XXXX kann auf ihre glaubhaften Angaben im Zuge ihrer Zeugeneinvernahme verwiesen werden (Protokoll vom 12.02.2021, S 17). Zur Bekräftigung der Beziehung bzw. Partnerschaft wurde zudem ein gemeinsames Familienfoto sowie ein Bestätigungsschreiben seiner Lebensgefährtin vorgelegt (AS 163 und AS 165).

Der Umstand, dass sowohl die Tochter des Beschwerdeführers als auch dessen Schwestern in Nigeria aufhältig sind, ergibt sich aus seinen Ausführungen im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung (Protokoll vom 12.01.2021, S 4 & S 8), selbiges gilt dafür, dass er über keine in Österreich lebenden Verwandten verfügt (Protokoll vom 12.01.2021, S 4 & S 10).

Auf die im Verfahren vorgelegten Unterlagen und auf seine Aussagen in der mündlichen Verhandlung gehen die Feststellungen zu seiner Integration zurück.

Dass der Beschwerdeführer derzeit keiner Beschäftigung nachgeht und Leistungen aus der Grundversorgung bezieht, ergibt sich aus dem abgefragten Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem und dem eingeholten Sozialversicherungsdatenauszug.

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Zur Rückkehrentscheidung und zur Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 (Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides):

3.1.1. Rechtslage

Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig auf Dauer unzulässig erklärt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung auf Basis des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG für unzulässig zu erklären ist.

Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere die in § 9 Abs. 2 Z 1 bis 9 BFA-VG aufgezählten Gesichtspunkte zu berücksichtigen (die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist).

Nach § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze des § 5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird (Z 2).

Liegt nur die Voraussetzung des §55 Abs 1 Z 1 vor, ist gemäß § 55 Abs 2 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall

Mit Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen. Zu prüfen ist daher, ob die von der belangten Behörde verfügte Rückkehrentscheidung mit Art 8 EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht käme.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK vorliegen bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 25.09.2018, Ra 2018/21/0108, Rn. 8, mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in seinem Erkenntnis vom 08.11.2018, Ra 2016/22/0120, mwN, die Rechtsansicht, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen ist. Nur dann, wenn der Fremde die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach einem so langen Inlandsaufenthalt noch als verhältnismäßig angesehen.

Folgende Umstände - zumeist in Verbindung mit anderen Aspekten - stellen Anhaltspunkte dafür dar, dass der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit zumindest in gewissem Ausmaß genützt hat, um sich zu integrieren: Erwerbstätigkeit des Fremden (vgl. E 26. Februar 2015, Ra 2014/22/0025; E 18. Oktober 2012, 2010/22/0136; E 20. Jänner 2011, 2010/22/0158), das Vorhandensein einer Beschäftigungsbewilligung (vgl. E 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253), eine Einstellungszusage (vgl. E 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0165; E 26. März 2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082), das Vorhandensein ausreichender Deutschkenntnisse (vgl. E 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253; E 14. April 2016, Ra 2016/21/0029 bis 0032), familiäre Bindungen zu in Österreich lebenden, aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen (vgl. E 23. Mai 2012, 2010/22/0128; (betreffend nicht zur Kernfamilie zählende Angehörige) E 9. September 2014, 2013/22/0247), ein Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich bzw. die Vorlage von Empfehlungsschreiben (vgl. E 18. März 2014, 2013/22/0129; E 31. Jänner 2013, 2011/23/0365), eine aktive Teilnahme an einem Vereinsleben (vgl. E 10. Dezember 2013, 2012/22/0151), freiwillige Hilfstätigkeiten (vgl. E 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253), ein Schulabschluss (vgl. E 16. Oktober 2012, 2012/18/0062) bzw. eine gute schulische Integration in Österreich (vgl. E, 4. August 2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253; E 26. März 2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082) oder der Erwerb des Führerscheins (vgl. E 31. Jänner 2013, 2011/23/0365).

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner ersten Asylantragstellung am 20.07.2006 in Österreich auf und nützte die Zeit, um einige Integrationsschritte zu setzen. Er absolvierte die Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz auf dem Sprachniveau A2 und zu Werte und Orientierungswissen und erwarb den österreichischen Führerschein. Zudem bekundete er durch seine ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeiten sowie durch die Ablegung der Pflichtschulprüfung seine Teilnahme am sozialen und gesellschaftlichen Leben in Österreich. Darüber hinaus knüpfte der Beschwerdeführer in Österreich einige Freunde und konnte einen Arbeitsvorvertrag in Vorlage bringen.

Insgesamt kann sohin jedenfalls nicht davon gesprochen werden, dass er die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich zu integrieren.

Im gegenständlichen Fall liegen auch keine Umstände vor, die das gegen einen Verbleib des Beschwerdeführers im Inland sprechende öffentliche Interesse gravierend verstärken bzw. die Länge seiner Aufenthaltsdauer in Österreich erheblich relativieren würden. Der Beschwerdeführer ist unbescholten und die Nichtbefolgung des Ausreisebefehls nach Abschluss des Asylverfahrens tritt gegenüber der langen Aufenthaltsdauer jedenfalls in den Hintergrund (vgl. VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243).

Zu berücksichtigen ist auch, dass das Verfahren über seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz bis zur Entscheidung des Asylgerichtshofes fast 7 Jahre dauerte und die lange Verfahrensdauer nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen ist.

Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen sowie der in § 9 Abs. 2 BFA-VG normierten Tatbestände, die bei der Beurteilung eines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind, überwiegen im gegenständlichen Fall die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich, weshalb die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären war.

Der Beschwerdeführer hat die Integrationsprüfung auf Niveau A2 absolviert und Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz erfüllt. Ihm war aus diesem Grund eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 zu erteilen.

Das Bundesamt hat dem Beschwerdeführer den Aufenthaltstitel gemäß § 58 Abs. 7 AsylG auszufolgen. Er hat dabei gemäß § 58 Abs. 11 AsylG 2005 mitzuwirken. Gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 sind Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten, beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Frist für die freiwillige Ausreise sowie die Erlassung des befristeten Einreiseverbotes stehen in untrennbarem Zusammenhang mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung. Da mit gegenständlichem Erkenntnis die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, waren die Spruchpunkte V. bis VII. ersatzlos zu beheben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder fehlt es an einer Rechtsprechung betreffend die Prüfung der Zulässigkeit und Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung bei einem Aufenthalt von über 10 Jahren, noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltstitel befristete Aufenthaltsberechtigung Einreiseverbot aufgehoben ersatzlose Teilbehebung Integration Interessenabwägung Kassation öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Rückkehrentscheidung behoben Spruchpunktbehebung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:I411.1314905.5.00

Im RIS seit

02.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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