Entscheidungsdatum
01.10.2021Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15Spruch
W258 2187035-1/22E
Schriftliche Ausfertigung des am 14.07.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 04.01.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.07.2021, zu Recht:
A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid abgeändert, dass es insgesamt zu lauten hat:
I. XXXX , geb. XXXX , wird gemäß § 3 Abs 1 iVm § 34 Abs 2 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (in Folge auch kurz „BF“) stellte am XXXX in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 30.11.2015 und in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge „belangte Behörde“) am 10.11.2017 brachte der BF im Wesentlichen vor, er sei Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan (in Folge kurz „Afghanistan“), stamme aus der Stadt Kabul und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken sowie der Glaubensgemeinschaft der Sunniten an. Aus Afghanistan sei er geflohen, weil sein Vater sich geweigert habe, seine Töchter mit den Brüdern eines Dritten zu verheiraten, weshalb er getötet und seine Familie bedroht worden sei.
Die belangte Behörde wies den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt 1.) und subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt 2.) ab, sprach aus, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt 3.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt 4.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt 5.) und legte die Frist für die freiwillige Ausreise des BF mit vierzehn Tagen fest (Spruchpunkt 6.).
Dagegen richtet sich die gegenständliche Beschwerde des BF wegen näher genannter verfahrensrechtlicher Mängel und inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
Am 14.07.2021 wurde über seine Beschwerde sowie zur hg AZ W258 2187042-1 über die Beschwerde seiner Schwester XXXX (in Folge auch kurz „Schwester“) mündlich verhandelt und die Erkenntnisse mündlich verkündet: Seiner Schwester wurde der Status der Asylberechtigten zuerkannt, ihm wurde im Familienverfahren der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Mit Schriftsatz vom 27.07.2021 stellte die belangte Behörde einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses.
Beweis wurde aufgenommen durch Einvernahme des BF und seiner Schwester als Partei sowie Einsicht in den Verwaltungsakt (OZ 1) und in die folgenden Urkunden:
? Strafregisterauszug des BF vom 14.07.2021;
? EASO – European Asylum Support Office Country Guidance Afghanistan; Guidance note and common analysis, Dezember 2020 (EASO) als Beilage ./I;
? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Version 4, vom 11.06.2021 (LIB) als Beilage ./II;
? UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR) als Beilage ./III;
? Max-Planck Manual of Family Law in Afghanistan Part 2 (Juli 2012) (MPM) als Beilage ./IV.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Der folgende Sachverhalt steht fest:
1.1. Zur individuellen Situation des BF:
1.1.1. Allgemeines:
Der männliche BF, ein Staatsangehöriger Afghanistans, ist volljährig, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, ist Sunnit und spricht als Muttersprache Dari. Er wurde am XXXX in Afghanistan in der Stadt Kabul geboren, wo er aufgewachsen ist und bis zu seiner Ausreise gelebt hat.
Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zum Vorliegen eines Familienverfahrens:
Der BF ist gemeinsam mit seiner Schwester XXXX , seiner Mutter, einem Bruder und einer weiteren Schwester im Jahr 2015 aus Afghanistan ausgereist. An der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei wurde der BF und seine Schwester vom Rest der Familie getrennt, weshalb sie ihre Reise zu zweit fortsetzten und schließlich nach Österreich eingereist sind, wo sie am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Der BF war zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Afghanistan 23 Jahre alt. Seine Schwester war zum Zeitpunkt ihrer Einreise in das Bundesgebiet 14 Jahre alt und ledig. Ihr Vater war zum Zeitpunkt der Ausreise aus Afghanistan bereits verstorben. Die BF hat väterlicherseits auch keine anderen männlichen geradlinigen Vorfahren.
Auf der Flucht hat der BF die Entscheidungen für seine Schwester getroffen, sie versorgt und geschützt. Der BF wurde in Österreich mit der Pflege- und Erziehung seiner Schwester betraut.
1.3. Zum Obsorgerecht Afghanistans:
1.3.1. Allgemeines:
Artikel 162 der neuen Afghanischen Verfassung legt fest, dass Gesetze und Verordnungen, die ihren Bestimmungen widersprechen, ungültig sind. Das bedeutet, dass die bisherigen gesetzlichen Regelungen, wie das Zivilgesetzbuch 1977 (in Folge ZGB 1977), solange gültig sind, bis neue Gesetze erlassen werden, sofern sie der neuen Verfassung nicht widersprechen. (MPM Part 1 B. II. S 12) Das Zivilgesetzbuch 1977 gilt derzeit noch immer (vgl LIB Kapitel 7.2. Familienrecht).
Daher bilden die aktuellen im Zivilgesetzbuch enthaltenen familienrechtlichen Bestimmungen die Basis für die Beurteilung von Familienangelegenheiten. (MPM Part 1 B. II. S 12)
Das Zivilgesetzbuch 1977 ist auf die gesamte Bevölkerung Afghanistans anwendbar. Gemäß Artikel 1 Abs 2 des Zivilgesetzbuchs 1977 sollen Rechtslücken mit dem „Hanafi-Recht“ gefüllt werden. Artikel 131 der Afghanischen Verfassung erkennt aber neben dem „Hanafi-Recht“ auch schiitisches Recht an. Dementsprechend wurde im Juli 2009 das „Schiitische Personenstandsgesetz“ erlassen, dass nur auf Schiiten anwendbar ist. (MPM Part 2 D S 15)
1.3.2. Zum Obsorgerecht:
Die elterliche Obsorge ist ein Schutzverhältnis, das den Interessen des minderjährigen Kindes dient und ein Verpflichtungsrecht darstellt, das gegenüber jedermann gültig ist. Im Vordergrund steht die elterliche Verantwortung und damit der Pflichtaspekt. Das elterliche Sorgerecht wird im islamischen Recht in drei Kategorien eingeteilt:
1. Das Sorgerecht (hed?nat) bezieht sich auf die Betreuung eines Säuglings in seinen frühen Lebensjahren, wenn er von einer Frau betreut werden muss. Diese Betreuung erfolgt durch die Mutter oder eine andere dafür beauftragte Frau;
2. Die Vormundschaft (vel?yat-e nafs) oder die Erziehungsvormundschaft (vel?yat-e tarbiyat) bezieht sich auf die Verpflichtung des Erziehungsberechtigten, für Bildung, Erziehung, Entwicklung, Gesundheit und Sicherheit des Kindes zu sorgen. Der Vater des Kindes als gesetzlicher Vormund wird vor anderen zum Vormund bestellt;
3. Die Vermögensvormundschaft (vel?yat-e amv?l) bezieht sich auf die Pflicht des gesetzlichen Vormunds, das Vermögen des Kindes zu verwalten. Auch hier ist zunächst der Vater als Erziehungsberechtigter verpflichtet, das Vermögen des Kindes zu verwalten. (MPM Part 4 A IV 3. a) aa) S 103)
1.3.3. Zu 1.: Sorgerecht (hed?nat):
Der Begriff Sorgerecht (hed?nat) ist in Artikel 236 ZGB 1977 definiert als die Betreuung und Erziehung des Kindes während der Zeit, in der es solche Dienste benötigt. Die erforderliche Betreuungs- und Erziehungsdauer des Kindes durch eine Frau ist im Gesetz detailliert geregelt. Nach Artikel 249 ZGB 1977 endet das Sorgerecht, wenn ein Junge sieben und ein Mädchen neun Jahre alt wird. Das Gericht ist jedoch ermächtigt, die Dauer des Sorgerechts gemäß Artikel 250 ZGB 1977 zu verlängern, sofern die Verlängerung zwei Jahre nicht überschreitet. […] (MPM IV 3. a) aa) S 103)
1.3.4. Zu 2.: Personenvormundschaft (vel?yat-e tarbiyat oder vel?yat-e nafs):
Definition
[…] Die Vormundschaft ist im afghanischen Zivilgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelt. Alle islamischen Rechtsschulen stimmen jedoch darin überein, dass der Vater verpflichtet ist, für Bildung, Erziehung, Entwicklung, Gesundheit und Sicherheit des minderjährigen Kindes zu sorgen. Diese Betreuung durch den Vater wird Personenvormundschaft genannt. Wenn das Sorgerecht für die Mutter endet, beginnt die Vormundschaftsphase durch den Erziehungsberechtigten.
Berechtigte Personen
Das Vormundschaftsrecht des Vaters ist im afghanischen Recht nicht verankert. Es ergibt sich aus Art 71 Abs 1 ZGB 1977 über die Vormundschaft in Bezug auf die Verehelichung eines Mädchens zwischen 15 und 16 Jahren.
Darüber hinaus sind im Abschnitt über die Vermögensverwaltung für ein beschränkt geschäftsfähiges Kind die Personen aufgeführt, die zur Vormundschaft berechtigt sind. Es ist strittig, ob diese Vorschriften auch auf die Personenvormundschaft und ob die Hierarchie der zur Verwaltung des Vermögens eines beschränkt geschäftsfähigen Kindes befugten Personen auch auf die Personenvormundschaft Anwendung finden kann. Da das Gesetz jedoch die Vermögensvormundschaft eines beschränkt geschäftsfähigen Kindes ausdrücklich regelt und zur Frage der Personenvormundschaft schweigt, erscheint es sinnvoller, von einer Gesetzeslücke zu sprechen. In Ermangelung einer gesetzlichen Regelung können nach Art. 1 Abs. 2 ZGB 1977 die allgemeinen Grundsätze des „Hanafi-Rechts“ als Auslegungsmittel herangezogen werden, wonach der Vater vor allen anderen als Vormund eines beschränkt geschäftsfähigen Kindes eingesetzt wird. Ist der Vater tot oder zur Vormundschaft ungeeignet, stellt sich die Frage, wer an seiner Stelle zur Vormundschaft berechtigt ist.
Nach den allgemeinen Grundsätzen des Hanafi-Rechts geht die Vormundschaft einer Person nach dem Tod des Vaters auf den Großvater väterlicherseits über. Ist auch der Großvater verstorben, wird die Vormundschaft nach der gesetzlichen Erbfolge an den nächsten männlichen Verwandten väterlicherseits übertragen. Die Hierarchie der sogenannten agnatischen Erben, die nach den allgemeinen Grundsätzen des Hanafi-Rechts berechtigt sind, nach dem Ableben des Vaters und des Großvaters väterlicherseits die Vormundschaft auszuüben, wurde bereits im Abschnitt zu den Sorgeberechtigten beschrieben. […] (zu allem MPM Part 4 A IV 3. b) bb) S 106 f)
Sie sind demnach gemäß Artikel 240 ZGB 1977:
1. Der Vater;
2. Der Großvater väterlicherseits und die männlichen Vorfahren in der väterlichen Linie;
3. Der Vollbruder. (MPM Part 4 A IV 3 a bb S 104)
1.3.5. Zur Übernahme/Übertragung der Obsorge (LIB 7.2.3 Sorgerecht und Vormundschaft):
In der Praxis ist es möglich und auch üblich, dass ein Familienmitglied, zum Beispiel die ältere, verheiratete Schwester, die Vormundschaft für einen verwaisten Teenager übernimmt, ohne dass dies formell geklärt wird.
Es ist aus rechtlicher oder religiöser Sicht für eine erwachsene, verheiratete Schwester möglich, die Vormundschaft für einen Teenager zu übernehmen, auch wenn es andere Verwandte gäbe, die in der Reihenfolge der Zuständigkeit vor ihr stünden, jedoch benötigt es in diesem Fall aus rechtlicher Sicht die Zustimmung derer, die in der Reihenfolge davor stünden. Ansonsten könnte dies rechtlich vor Gericht beeinsprucht werden. Auch sollte die Schwester in diesem Fall in der Lage sein, darzulegen, dass sie und ihr Mann die Interessen des Kindes besser wahrnehmen könnten, als die, welche in der Reihenfolge vor ihnen stehen.
1.3.6. Zur Ende der Obsorge/zum Erreichen der Volljährigkeit bzw Geschäftsfähigkeit
Die Geschäftsfähigkeit (ahliyat-e ad?’) schafft die Fähigkeit, in Rechtsgeschäfte abzuschließen. Die Geschäftsfähigkeit ist ein unveräußerliches Recht, das einer Person zusteht, die die Volljährigkeit erreicht. Eine volljährige Person ist jedoch nur dann geschäftsfähig, wenn sie gesunden Menschenverstandes ist und diese Rechte aus keinem Rechtsgrund entzogen wurden. Artikel 39 ZGB 1977 bestimmt, wann eine Person die Volljährigkeit erreicht. In diesem Artikel heißt es:
„Die Volljährigkeit beginnt mit dem Erreichen des Alters von 18 Sonnenjahren. Eine volljährige Person hat uneingeschränkte Handlungsfähigkeit bei Abschluss von Rechtsgeschäften, sofern er/sie bei gesundem Verstand ist.“
1.4. Zum Aufenthaltsstatus der Schwester des BF:
Der Schwester des Beschwerdeführers wurde mit mündlicher Verkündung vom 14.07.2021, GZ W258 2187042-1/14Z, gemäß § 3 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
2. Die Feststellungen gründen in der folgenden Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zu den persönlichen Daten, zur Familie, zum Leben, zur Ausreise und den Ereignissen auf der Flucht des BF und seiner Schwester aus Afghanistan sowie zur Einreise in das Bundesgebiet ergeben sich aus den im Wesentlichen gleichbleibenden, übereinstimmenden und schlüssigen Aussagen des BF und seiner Schwester im behördlichen und im gerichtlichen Verfahren, die in Bezug auf die Einreise mit dem Verwaltungsakt in Einklang stehen.
Die Feststellung zum Leumund des BF ergeben sich aus seinem Strafregisterauszug.
Die Feststellungen zum Obsorgerecht Afghanistans gründen auf den jeweils zitierten Quellen.
Die Feststellungen zum Verfahrensstatus der Schwester des BF gründen in ihrem hg Verfahrensakt, AZ W258 2187042-1.
3. Rechtlich folgt daraus:
3.1. Beschwerde gegen Spruchpunkt I., Asyl nach § 3 Asylgesetz 2005:
3.1.1. Rechtsgrundlagen:
Gemäß § 34 Abs 2 Asylgesetz 2005 hat die Behörde auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist.
Gemäß § 2 Abs 1 Z 22 lit d Asylgesetz 2005 ist ua Familienangehöriger iSd § 34 Abs 2 Asylgesetz 2005 (VwGH 29.04.2019, Ra 2018/20/0031), wer gesetzlicher Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers ist, sofern die gesetzliche Vertretung bereits vor der Einreise bestanden hat.
Maßgeblich für den Status des Familienangehörigen iSd § 34 AsylG ist dabei der Zeitpunkt der Antragstellung; nachträgliche Änderungen, etwa eine nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz eingetreten Volljährigkeit, schaden nicht (zur Unbeachtlichkeit einer zwischen Antragstellung und Entscheidung eingetretenen Volljährigkeit siehe etwa VwGH 29.04.2019, Ra 2018/20/0031).
Gemäß § 27 Abs 1 IPRG sind die Voraussetzungen für die Anordnung und die Beendigung sowie die Wirkungen der Obsorge oder einer Kuratel nach dem Personalstatut der schutzberechtigten Person zu beurteilen. Das Personalstatut einer natürlichen Person ist das Recht des Staates, dem die Person angehört (§ 9 Abs 1 1. Satz IPRG).
Nach dem für den Beschwerdeführer als Sunniten anwendbaren afghanischen Zivilgesetzbuches 1977, ist es in der Praxis möglich und auch üblich, dass einem Familienmitglied zB einer älteren Schwester die Vormundschaft für einen verwaisten Teenager übernommen wird, ohne dass dies formell erklärt werde.
Wenn die Tochter 9 Jahre alt wird, übernimmt grundsätzlich der Vater die Vormundschaft. Nach dem Tod des Vaters wird die sie auf ihren väterlichen Großvater übertragen. Ist auch dieser verstorben und gibt es keine anderen väterlichen männlichen Verwandten in aufsteigender Linie, kommt die Vormundschaft dem Vollbruder zu.
3.1.2. Angewendet auf den Sachverhalt bedeutet das:
Fraglich ist, ob dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten gemäß § 34 Abs 2 bzw 3 AsylG 2005 im Familienverfahren zuzuerkennen ist, weil seiner Schwester der Status der Asylberechtigten zuerkennt worden ist. Die wäre der Fall, wenn der Beschwerdeführer vor seiner Einreise in das Bundesgebiet gesetzlicher Vertreter seiner Schwester war, sie zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig und ledig war, er nicht straffällig geworden ist, keine Ausschlussgründe iSd § 6 AsylG 2005 vorliegen und hinsichtlich seiner Schwester kein Verfahren zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten anhängig ist.
Der Beschwerdeführer als gesetzlicher Vertreter seiner Schwester
Die Obsorge ist nach dem Recht des Personalstatutes der schutzberechtigten Person, dh nach dem Recht des Staates, dem die Schwester des BF angehört, somit Afghanistan, zu beurteilen (§§ 27 Abs 1 und 9 Abs 1 1. Satz IPRG). Nach den Feststellungen zum Obsorgerecht Afghanistans steht die Obsorge für eine minderjährige Tochter ab ihrem zehnten Lebensjahr grundsätzlich dem Vater zu. Ist er verstorben und gibt es keine männlichen Vorfahren in der väterlichen Linie, kommt die Vormundschaft dem Vollbruder zu. Aber auch andere Familienmitglieder könnten mit Zustimmung vorrangig Obsorgeberechtigter die Obsorge übernehmen. Dies ist in der Praxis formlos möglich und üblich.
Der BF und seine Schwester sind bei ihrer Flucht an der Grenze zwischen Türkei und Iran vom Rest ihrer Familie getrennt worden. Selbst wenn seine Mutter auf der Flucht noch die Obsorge für seine Schwester übernommen gehabt haben sollte, hat der Beschwerdeführer spätestens mit der Trennung der Familie faktisch die Vormundschaft für seine Schwester übernommen. Sie stand ihm auch rechtlich zu, weil sein Vater und andere männliche Vorfahren in der väterlichen geraden Linie bereits verstorben waren und seine minderjährige Schwester bereits das neunte Lebensjahr vollendet hatte.
Zum Zeitpunkt der Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz war seine Schwester nach wir vor minderjährig, weshalb die Obsorge nach wie vor bestanden hat.
Die Schwester des Beschwerdeführers war zum Zeitpunkt ihrer Einreise in das Bundesgebiet ledig und vierzehn Jahre alt, dh minderjährig.
Da der Beschwerdeführer somit bereits vor der Einreise in das Bundesgebiet nach afghanischem Recht zur Obsorge für seine Schwester verpflichtet war, und sie minderjährig, ledig und Asylwerber war, gilt er als gesetzlicher Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers und damit auch als Familienangehöriger im Sinne des § 2 Abs 1 Z 22 AsylG 2005, weshalb § 34 AsylG 2005 auf ihn anzuwenden ist. Die zwischenzeitlich eingetretene Volljährigkeit der Schwester schadet dabei nicht (VwGH 29.04.2019, Ra 2018/20/0031).
Zu den weiteren Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Familienverfahren
Da der Schwester des Beschwerdeführers der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, ein Verfahren zur Aberkennung dieses Status nicht anhängig ist, der Beschwerdeführer nicht straffällig geworden ist und hinsichtlich des Beschwerdeführers keine Ausschlussgründe vorliegen, war ihm daher im Familienverfahren gemäß § 34 Abs 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
3.1.3. „Asyl auf Zeit“:
Festzuhalten ist, dass der Beschwerdeführer seinen Antrag auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 gestellt hat, weshalb die Regelung „Asyl auf Zeit“ des § 3 Abs 4 AsylG 2005 zur Anwendung kommt.
3.2. Zu Spruchpunkt B), Zulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig, weil zur Frage, ob ein gesetzlicher Vertreter im Sinne des § 2 Abs 2 Z 22 AsylG 2005 auch dann vorliegt, wenn die Übertragung der Obsorge ohne gerichtlichen Beschluss oder anderem Formalakt erfolgt ist, selbst wenn ein solch formfreier Akt nach dem anzuwendenden fremden Recht nicht erforderlich ist, keine Rechtsprechung des VwGH besteht.
Schlagworte
Asyl auf Zeit Asylgewährung von Familienangehörigen Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung Familienangehöriger Familienleben Familienverfahren Flüchtlingseigenschaft mündliche Verhandlung mündliche Verkündung schriftliche AusfertigungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W258.2187035.1.00Im RIS seit
02.02.2022Zuletzt aktualisiert am
02.02.2022