TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/1 W189 2245829-1

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Veröffentlicht am 01.10.2021
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Entscheidungsdatum

01.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W189 2245829-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH - BBU, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.08.2021, Zl. 1281220103-211004748, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.09.2021, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides hat zu lauten hat: "Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung."

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge: BF), eine Staatsangehörige der Ukraine, reiste am 21.07.2021 illegal in das Bundesgebiet ein, stellte am 22.07.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am 23.07.2021 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Polizeiinspektion Schwechat) erstbefragt. Die BF legte keinerlei identitätsbezeugende Dokumente, da diese ihr bei ihrer Einreise beim Praterstern gestohlen worden seien.

Zu ihren Fluchtgründen brachte sie vor, dass sie, als sie noch mit ihrem Mann zusammengelebt habe, einen großen Kredit aufgenommen und als Selbständige gearbeitet habe. Ihr Mann habe ihr gesagt, dass sie alles was sie habe, auf seinen Namen schreiben solle, damit sie sicher sei. Sie habe das auch getan. Kurze Zeit später habe er sie rausgeschmissen. Sie habe sich woanders eine Wohnung mieten müssen und arbeiten müssen, damit sie den Kredit zurückzahlen habe können. Vor ca. 1 Jahr [Anm: vor der Erstbefragung], habe sie weitere private Kredite aufgenommen. Sie habe nicht gewusst, dass diese Leute Mafiosi [Anm: die Kreditgeber] gewesen seien. Durch die Corona Pandemie habe sie alles verloren. Vor ca. 10 Tagen sei sie bei ihrer Mutter gewesen. Jene Leute, welchen sie das Geld schulde, haben sie dort gefunden. Sie haben sie in einen Wald gebracht und ihr gesagt, dass sie eine Woche Zeit habe, das Geld zurückzuzahlen. Sonst würden sie sie töten und in einem Wald begraben. Da sie nicht gewusst habe, was ich machen solle, sei sie nach Österreich geflüchtet. Bei einer Rückkehr in ihre Heimat würde sie getötet werden.

2. Am 05.08.2021 wurde die BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen. Im Zuge dessen gab sie an, dass sie abermals keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen könne, da ihr diese am Praterstern gestohlen worden seien. Zur Polizei sei sie nicht gegangen, weil sie gedacht habe, dass sie die Polizei gleich zur ukrainischen Botschaft schicken würde. Sie wolle nicht zurück. Die BF gab an, dass sie XXXX heiße und am XXXX in XXXX / Deutschland geboren sei. Sie sei seit 8 Monaten, das heißt seit Dezember 2020 geschieden. Gearbeitet habe sie als Selbständige seit 1990 im Möbelverkauf. Ihr Vater sei gestorben. Ihre Mutter und 2 erwachsene Kinder würden in der Ukraine leben. Vor ihrer Ausreise sei sie nicht mehr berufstätig gewesen. Sie habe bis Dezember 2020 gearbeitet. Danach habe sie von Ersparnissen gelebt, danach habe sie auch einen Kredit aufgenommen, weil sie ihr Geschäft aufbauen habe wollen. Den Kredit habe sie vor 2 Jahren aufgenommen. Nach Österreich sei sie am 22.07.2021 eingereist und davor habe sie sich bei ihrer Mutter aufgehalten. Sie habe noch nie im Ausland [Anm: Außerhalb der Ukraine] gearbeitet. Sie bestreite nun ihren Lebensunterhalt durch die Grundversorgung. Sie arbeite auch in der Betreuungsstelle als Reinigungskraft und möchte sich ein kleines Taschengeld verdienen. Sie sei bei keinen Vereinen oder Organisationen in Österreich tätig. Sie verstehe nahezu kein Deutsch und könne nur einzelne Wörter sagen. Sie habe keinen Kontakt zu ihren Familienangehörigen in der Ukraine, weil ihr Handy am Prater gestohlen worden sei. Sie arbeite um sich ein neues Handy zu besorgen. Sie müsse zur ukrainischen Kirche nach Wien fahren, dort würde es Landsleute geben. Diese Leute würden vielleicht jemanden kennen, der in der Ukraine zu ihrer Familie fahren könne. Ihre Kinder würden sie abgelehnt haben, weil die BF ihre Wohnung auf ihren Mann überschrieben habe. Ihr Mann habe ihre Tochter aus dieser Wohnung geschmissen, deswegen sei diese böse und der Sohn der BF befinde sich in den Kriegsgebieten. Sie habe ihn immer unterstützt aber um sie habe sich niemand gekümmert. Bei der Ausreise hab die Mutter der BF ihr finanziell geholfen. Sie habe keine in Österreich aufhältigen Verwandte oder soziale Kontakte. In der Ukraine habe sie nie Probleme mit dem Gesetz oder den Behörden gehabt und habe immer ihre Steuern gezahlt. Sie würde nicht staatlich/behördlich verfolgt werden, sondern nur von Privaten. Bei der Erstbefragung habe sie alle ihre Fluchtgründe genannt; sie würde verfolgt werden und man wolle sie umbringen. In Österreich wolle sie ruhig leben und arbeiten und ihren Beitrag an Österreich leisten. In der Ukraine sei es wie auf einem Vulkan, man könne nicht in Ruhe leben und arbeiten. Hier sei es ruhig und zivilisiert.

Der erste Kredit den sie aufgenommen habe, habe 10.000 Dollar betragen, der zweite 5.000 Dollar. Es seien deswegen Dollar gewesen, weil die BF in US-Dollar Möbel angekauft habe. Den Kredit habe sie in Kiew auf einer Bank bekommen. Sie habe ihn nach einem Unfall und zwar im Jänner 2020 aufgenommen [nach der Übersetzung wurde dieses Datum auf 2019 geändert]. Von den Kriminellen habe die BF erst 2020 Geld erhalten. Auf die Frage bzw. Nachfrage wie lange hat es gedauert habe bis die BF eine neue Wohnung gefunden habe, nachdem Sie Ihr Mann damals verlassen habe, antwortet die BF schließlich, dass sie zu ihrer Mutter gefahren sei. Weitere Kredite habe sie deswegen aufgenommen, weil sie ihr Business weiter finanzieren habe müssen und neue Möbel habe ankaufen müssen. Diese Kredite habe sie im Frühling 2019 aufgenommen. Zu den aufgenommenen Krediten nach der Trennung von ihrem Mann gefragt, antwortete die BF, dass sie etwas auf der Bank aufgenommen habe und nach der Scheidung bei den Kriminellen 20.000 EUR aufgenommen habe. Diese hätten sie bei ihrer Mutter gefunden und seien mit ihr in einen Wald gefahren und hätten sie umbringen wollen. Das sei kein Kredit gewesen, sondern von Kriminellen. Bekannte hätten ihr empfohlen, von diesen Leuten Geld zu nehmen, aber sie habe nicht gewusst, dass sie kriminell seien. Sie habe das Geld für ihr Geschäft gebraucht und habe auf der Bank kein Geld mehr bekommen. Als sie das Geld von den Kriminellen bekommen habe, sei noch alles in Ordnung gewesen, dann sei Corona gekommen, 8 Monate seien alle Geschäfte zu gewesen, somit habe sie diese Probleme bekommen. Sie habe Telefonanrufe bekommen. Die Kriminellen seien zu ihr nach Hause gekommen. Sie könne umgebracht werden, deshalb sei sie geflüchtet. Das Geschäft sei nun geschlossen. Die BF habe sich bei ihrer Mutter versteckt, auch da haben die Kriminellen sie gefunden. Ihr Mann habe ihr gesagt, sie solle alles auf ihn überschreiben, damit sie es wegen Corona nicht verliere. Es solle quasi eine fiktive Scheidung sein. Die Bank würde ihr ansonsten alles wegenehmen können. Er habe sie aber angelogen und rausgeschmissen. Er habe jetzt alles. Deswegen habe sie auch Probleme mit ihrer Tochter. Die kriminellen Personen kenne sie nicht. Das Risiko sei sie eingegangen, weil ein Bekannter ihr diese Leute empfohlen habe. Keiner habe gewusst, dass das Virus so zerstörerisch sein würde. Im Fall der Rückkehr in das Heimatland, würden sie die Kriminellen umbringen. Ihre Mutter habe sie alleine gelassen, weil man einer 83-jährigen Frau nichts wegnehmen könne. Als die BF weggegangen sei, sei die Mutter zu einer Freundin gefahren.

Das Heimatland sei nicht so wie in den Länderfeststellungen beschrieben. In Österreich werde man geschätzt und es werde einem geholfen. Die Polizei in der Ukraine sei mit Kriminellen eng verbunden. Ihr sei die Rippe gebrochen worden und der Nachbar habe ihrer Mutter erzählt, dass Busse wöchentlich nach Wien fahren. Als sie sich erholt habe, sei sie ausgereist. Die BF wolle nicht zurückkehren. In Österreich könne sie arbeiten. Das habe sie auch bei der Rückkehrberatung gesagt.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 10.08.2021 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der BF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt V.). Eine Frist zur freiwilligen Ausreise wurde nicht gewährt (Spruchpunkt VI.). Schließlich wurde der Beschwerde gem. § 18 Abs 1 Z 1 BFA-Verfahrensgesetz die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).

Begründend wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass keine asylrelevante Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht und somit auch nicht festgestellt worden sei. Betreffend Spruchpunkt II. bestehe im Herkunftsstaat der BF keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention die für die BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Daran ändere sich auch durch die COVID-19 Pandemie nichts. Hinsichtlich Spruchpunkt III. seien die Voraussetzungen des § 57 Asylgesetz deswegen nicht vorliegend, weil die BF erst seit 21.07.2021 (illegal) im Bundesgebiet sei, bis dato nicht strafrechtlich aufgefallen sei und kein Opfer von Gewalt sei. Weiters seien keine Personen festgestellt worden, mit denen die BF im Bundesgebiet im gemeinsamen Haushalt lebe oder zu denen ein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis bestehe oder mit welchen die BF ein im Sinne des Art. 8 EMRK relevantes Familienleben führen würde. Es haben sich keine Hinweise ergeben, dass durch eine Außerlandesbringung in unzulässiger Weise in das im Sd Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privatlebens eingegriffen werde. Vor allem der kurze Aufenthalt der BF im Bundesgebiet sei hier anzuführen (Verweis auf der Erkenntnis des VfGH vom 06.03.2008, B 2400/07-9). Betreffend die Erlassung der Rückkehrentscheidung in Spruchpunkt IV. sei diese aufgrund dessen gem. § 9 Abs. 1-3 BFA-VG zulässig. Zu Spruchpunkt V. führte das Bundesamt an, dass eine Abschiebung in die Ukraine insbesondere deswegen zulässig sei, weil eine RKE gegen die BF erlassen worden sei, keine Gründe gem. § 50 Abs. 1 FPG gegen die Abschiebung vorliegen würden, der BF keine Flüchtlingseigenschaft zukommen würde, und keine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ihr entgegenstehe. Das Nichtbestehen einer Frist für die freiwillige Ausreise in Spruchpunkt VI- stützte das BFA auf § 55 Abs 1a FPG. Schließlich sei – in Hinblick auf Spruchpunkt VII. – die aufschiebende Wirkung abzuerkennen gewesen, weil die BF aus einem sicheren Herkunftsstaat stamme.

4. Mit Schriftsatz vom 25.08.2021 erhob die BF durch ihre Rechtsvertreterin binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass das BFA ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe. So sei insbesondere der Umstand, dass die BF versucht habe, eine Anzeige gegen die Verfolger [Anm: die kriminellen Geldleiher] zu erstatten, diese jedoch von der örtlichen Polizei nicht angenommen worden sei, dies mit der Begründung, sie solle diese Probleme privat oder zivilrechtlich klären, vom BFA nicht geprüft worden und damit Ermittlungsvorschriften verletzt worden seien. Hätte die Behörde ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren geführt, so hätten andere bzw. ergänzende Feststellungen getroffen werden müssen. So hätte festgestellt werden müssen, dass die BF bei einer Rückkehr in die Ukraine dem realen Risiko einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt ist. Zur Lage in der Ukraine sei unter Verweis auf Seite 30 ersichtlich, dass die Sicherheitsbehörde bzw. staatliche Polizei nicht willig sei eigene Bürger vor Gewalt und Misshandlungen zu schützen. Weiteres seien durch das mangelhafte Ermittlungsverfahren Feststellungen nicht getroffen worden, was das BFA wiederum zur unqualifizierten persönlichen Unglaubwürdigkeit der BF geführt habe und habe das BFA jedenfalls eine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens nicht vorgenommen.

Der BF hätte jedenfalls der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden müssen, da die Verfolgung durch Private asylrelevanten Charakter hat, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. I Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (Hinweis E vom 13. November 2011, 2000/01/0098; im gleichen Sinne auch Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU Statusrichtlinie). Weiters hätte das BFA bei Führung eines entsprechenden Ermittlungsverfahrens die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklären müssen und ihr einen Aufenthaltstitel gem. § 55 Abs 1 AsylG erteilen müssen, da die Rückkehrentscheidung in ihr Recht auf Privat- und Familienleben gem. Art 8 EMRK eingreift, ohne dass ein solcher gem. Art 8 Abs 2 EMRK notwendig wäre. Die Unzulässigkeit der Abschiebung wäre aufgrund des realen Risikos, die Abschiebung der BF in die Ukraine würde eine Verletzung ihrer durch Art 2 und 3 EMRK iVm Art 4 GRC garantierten Rechte bedeuten, bei einem ordentlichen Ermittlungsverfahren und dementsprechenden Beweiswürdigung anzunehmen gewesen. Da die BF in der Ukraine, ihrer Ansicht nach einem unsicheren Drittstaat, im Fall einer Abschiebung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSd Art 3 EMRK und Art 4 GRC ausgesetzt wäre, würden auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung vorliegen.

5. Mit Beschluss vom 30.08.2021 zu GZ W189 2245829-1/3Z erkannte das Bundesverwaltungsgericht, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG idgF die aufschiebende Wirkung zu, da im Sinne einer Grobprüfung nicht von vornherein ausgeschlossen erschien, dass die Angaben der BF als "vertretbare Behauptungen" zu qualifizieren seien, die in den Schutzbereich der hier relevanten Bestimmungen der EMRK reichen würden.

6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.09.2021 eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer geeigneten Dolmetscherin für die Sprache Russisch durch, an welcher die BF teilnahm. Die BF wurde ausführlich zu ihrer Person und den Fluchtgründen befragt, und es wurde ihr Gelegenheit gegeben, die Fluchtgründe umfassend darzulegen, sich zu ihren Rückkehrbefürchtungen und der Integration im Bundesgebiet zu äußern, sowie zu den im Rahmen der Verhandlung in das Verfahren eingeführten und ihr mit der Ladung zugestellten Länderberichten Stellung zu nehmen. Die BF legte, abgesehen von der Verfahrenskarte gem. § 50 AsylG 2005, keine Dokumente oder Unterlagen vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person der BF

Die BF führt den Namen XXXX , geboren in XXXX /Deutschland am XXXX . Ihre Identität steht nicht fest. Sie ist ukrainische Staatsangehörige und der Glaubensrichtung des Christentums angehörig. Die BF ist geschieden, hat eine volljährige Tochter, die geschieden ist und zwei Kinder hat, sowie einen volljährigen Sohn, der Militärdienst im Donbas leistet; alle leben in der Ukraine. Auch ihre Mutter lebt in der Ukraine. Ihr Vater ist verstorben. Es kann nicht festgestellt werden, ob die BF vor ihrer Ausreise bei ihrer Mutter in Kiew oder Lviv gelebt hat.

Die BF hat die Grundschule sowie die Handelsakademie besucht. Sie war in der Ukraine langjährig selbstständig im Möbelverkauf tätig.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten. Sie ist grundsätzlich gesund. Sie spricht Russisch und Ukrainisch.

1.2. Zum Fluchtvorbringen der BF

Die BF wird in der Ukraine nicht von Kriminellen aufgrund eines nicht zurückgezahlten Privatkredites bei ihrer Rückkehr mit dem Tod bedroht. Es droht der BF in der Ukraine auch sonst keine Gefahr aus Konventionsgründen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine

1.3.1. Gemäß Verordnung der Bundesregierung, mit der Staaten als sichere Herkunftsstaaten festgelegt werden (Herkunftsstaaten-Verordnung - HStV), zuletzt geändert mit BGBl. II Nr. 145/2019, gehört die Ukraine zu den sicheren Herkunftsstaaten.

1.3.2. Die relevanten Länderfeststellungen vom 06.07.2020 zur Ukraine lauten wie folgt:

Politische Lage

Letzte Änderung: 27.5.2020

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).

Die nach der „Revolution der Würde“auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).

Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).

Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (6.3.2020): Ukraine: Steckbrief, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/steckbrief/201830, Zugriff 25.5.2020

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail

- Brookings Institution (20.5.2020): Zelenskiy’s first year: New beginning or false dawn?, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2020/05/20/zelenskiys-first-year-new-beginning-or-false-dawn/, Zugriff 22.5.2020

- DS – Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren, https://www.derstandard.at/story/2000106566433/diener-des-volkes-werden-kiew-regieren, Zugriff 25.5.2020

- DW – Deutsche Welle (3.3.2020): Ukraine Prime Minister Oleksiy Honcharuk resigns for second time, https://www.dw.com/en/ukraine-prime-minister-oleksiy-honcharuk-resigns-for-second-time/a-52628402, Zugriff 25.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- FH - Freedom House (6.5.2020): Nations in Transit 2020 - Ukraine,
https://www.ecoi.net/de/dokument/2029666.html, Zugriff 25.5.2020

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/ukraine/geschichte-staat/#c4037, Zugriff 22.5.2020

- Jamestown Foundation (24.2.2020): Looming Confrontation in President Zelenskyy’s Entourage Could Lead to Reset of Ukrainian Government, https://jamestown.org/program/looming-confrontation-in-president-zelenskyys-entourage-could-lead-to-reset-of-ukrainian-government/, Zugriff 25.5.2020

- KP – Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine’s new parliament sworn in, Dmytro Razumkov becomes speaker, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ukraines-new-parliament-sworn-in.html?cn-reloaded=1, Zugriff 25.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine’s Zelenskiy Inducts Politically Untested Government, https://www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-new-government-honcharuk/30137220.html, Zugriff 25.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (25.4.2020): Zelenskiy's First Year: He Promised Sweeping Changes. How's He Doing?, https://www.rferl.org/a/zelenskiys-first-year-he-promised-sweeping-changes-how-s-he-doing-/30576329.html, Zugriff 25.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.5.2020

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).

Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 25.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020

- SO – Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 25.5.2020

Halbinsel Krim

Letzte Änderung: 27.5.2020

Auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Im Februar 2014 besetzten russische Truppen die Halbinsel Krim militärisch. Im März wurde die Krim nach einem Scheinreferendum schließlich annektiert und zum Teil der Russischen Föderation erklärt. Die Vereinten Nationen verurteilten diesen Schritt und riefen dazu auf, dies nicht anzuerkennen. Auf der Krim gilt seither de facto russisches Recht, es wurde eine russische Regierung installiert, die von Sergey Aksyonov als „Premierminister“ des “Staatsrats der Republik Krim“ geführt wird. Der “Staatsrat“ ist für die tägliche Verwaltung und andere Regierungsfunktionen zuständig. Die schwerwiegendsten Probleme in Bezug auf die Einschränkung der Menschenrechte beinhalten: Verschwindenlassen; Folter, einschließlich strafweise psychiatrische Einweisung; Misshandlung von Inhaftierten als Strafe oder zur Erpressung von Geständnissen; harte Haftbedingungen und Überführung von Gefangenen nach Russland; willkürliche Festnahme und Inhaftierung, auch aus politischen Gründen; allgegenwärtige Missachtung der Privatsphäre; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der Medien einschließlich Schließungen und Gewalt gegen Journalisten; Beschränkungen des Internets; grobe und weit verbreitete Unterdrückung der Versammlungsfreiheit; Einschränkung der Religionsfreiheit; starke Einschränkung der Vereinigungsfreiheit, einschließlich Verbot der Selbstverwaltung (Mejlis) der Krimtataren; Einschränkung von Bewegungsfreiheit und Teilnahme am politischen Prozess; systemische Korruption; sowie Gewalt gegen und systematische Diskriminierung von Krimtataren und ethnischen Ukrainern. Die russischen Behörden unternehmen kaum Schritte, um Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich zu verfolgen, wodurch eine Atmosphäre der Straflosigkeit und Gesetzlosigkeit geschaffen wurde (USDOS 11.3.2020b).

Auf der Krim werden seit der völkerrechtswidrigen Annexion durch Russland im März 2014 staatliche Aufgaben von russischen Behörden ausgeübt. Die Einwohner wurden pauschal eingebürgert, es wurde begonnen, sie mit russischen Inlandspässen, seit September 2014 auch mit russischen Reisepässen, auszustatten. Die Einwohner der Krim werden von der Russischen Föderation, wenn sie nicht ihr Widerspruchsrecht genutzt und damit u.a. den Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung verloren haben, als eigene Staatsangehörige behandelt. Die Minderheit der Krimtataren unterliegt erheblichen Restriktionen. Besorgniserregend sind weiterhin Meldungen, wonach exponierte Vertreter der tatarischen Minderheit aufgrund politisch motivierter Vorwürfe inhaftiert werden, verschwinden, nicht mehr auf die Krim zurückreisen dürfen bzw. vielfältigen Diskriminierungen wie willkürlichen Hausdurchsuchungen oder wirtschaftlichem Druck ausgesetzt sind. Außerdem werden tatarische Vereine in ihrer Handlungsfähigkeit beschnitten und unter Druck gesetzt, teilweise auch kriminalisiert oder zur Auflösung gezwungen. Die gewählte Versammlung der Krimtataren (Mejlis) wird von den de-facto-Behörden als terroristische Vereinigung eingestuft, ihre Mitglieder verfolgt. Es gibt Berichte über systematische Diskriminierungen ukrainisch-orthodoxer und muslimischer Gemeinden. Unabhängige Medien werden unterdrückt, dem unabhängigen Fernsehsender der Tataren ATR wurde die Lizenz entzogen; er hat seinen Sitz nach Kiew verlegt. Seine, sowie Sendungen anderer ukrainischer Sender, können auf der Krim nur noch sehr eingeschränkt verfolgt werden. Eine offene Zivilgesellschaft gibt es nicht mehr, Auskunftspersonen haben die Krim verlassen. Religiöse Literatur gilt den Behörden als extremistisch. Auch jüngste Berichte von UNHCR, Amnesty International sowie des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte listen eine Reihe von Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf der Krim auf, die von einer Einschränkung des Versammlungsrechts über willkürliche Verhaftungen bis hin zu Entführungen, Folter und willkürlichen Tötungen reicht. Versuche der UN, der OSZE oder des Europarats eine kontinuierliche Beobachtung der Menschenrechtssituation auf der Krim vor Ort vorzunehmen, sind bisher gescheitert (AA 29.2.2020).

Seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim häufen sich Berichte über den Versuch der systematischen Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch die russischen Behörden unter dem Vorwand sicherheitspolitischer Erwägungen. Dies wirkt sich insbesondere auf die Aktivitäten der Krimtataren, jedoch auch auf Vertreter der ukrainischen Minderheit aus (ÖB 2.2019; vgl. HRW 17.1.2019). Während des Jahres 2019 setzten die russischen Behörden die Schikanen gegen Krimtataren fort und verfolgten Dutzende von ihnen wegen erfundener Terrorismusvorwürfe (HRW 14.1.2020).

Seit 2014 sind konstant Menschenrechtsverletzungen seitens der russischen Behörden zu beobachten: Gefangene legen Geständnisse ab, die durch Misshandlung und Folter erlangt wurden. Individuen bestimmter Gruppen werden in psychiatrische geschlossene Anstalten zwangseingewiesen. Anwälte können nicht uneingeschränkt ihrer Arbeit nachgehen. Menschen, die keinen russischen Pass haben, wird der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen verwehrt. Weiters besteht Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Genderidentität. Menschen mit abweichender politischer Meinung werden verhaftet und unter Bezugnahme auf russische Anti-Terror-Gesetzgebung zu Haftstrafen verurteilt. Auch werden Personen entführt oder verschwinden plötzlich. Wenige bis keine dieser Fälle werden ausreichend strafverfolgt. Besonders die ethnische Gruppe der Krimtataren, aber auch Ukrainer anderer ethnischer oder religiöser Gruppen, sind von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wird massiv eingeschränkt (ÖB 2.2019).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 – Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002209.html, Zugriff 26.5.2020

- HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022722.html, Zugriff 20.5.2020

- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 12.4.2019

- USDOS – US Department of State (11.3.2020b): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Ukraine – Crimea, https://www.state.gov/reports/2019-country-reports-on-human-rights-practices/ukraine/crimea/, Zugriff 26.5.2020

Ukrainer von der Krim mit russischen Reisepässen

Letzte Änderung: 27.5.2020

Die Gesetzgebung der Ukraine sieht die einzige Staatsbürgerschaft vor. Wenn ein ukrainischer Staatsbürger legal die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation annehmen möchte, muss er auf die ukrainische Staatsbürgerschaft verzichten. Von den russischen Behörden werden jedoch, entgegen ukrainischen und internationalen rechtlichen Normen, russische Reisepässe an die Bevölkerung der Krim mit ukrainischer Staatsbürgerschaft ausgegeben. Diese Reisepässe der Russischen Föderation für Einwohner der Krim, werden international nur von einigen Ländern anerkannt (Nordkorea, Bolivien, Nicaragua, Armenien) (VB 28.1.2019). Die Frage der Staatsangehörigkeit der Einwohner der Krim ist damit eigentlich ungeklärt. Da die Beendigung der Staatsbürgerschaft der Ukraine erst durch einen entsprechenden Erlass des Präsidenten der Ukraine erfolgen kann, ist davon auszugehen, dass nach ukrainischem Recht die Einwohner der Krim Staatsbürger der Ukraine geblieben sind (BFH 30.6.2016).

Krim-Bewohner, die über keinen ukrainischen Reisepass, sondern nur über von russischen Behörden auf der Krim ausgestellte Reisedokumente verfügen, haben Schwierigkeiten bei der Einreise auf das ukrainische Festland, da diese Dokumente nicht anerkannt werden. Alle Krim-Bewohner wurden von der Russischen Föderation zu russischen Staatsbürgern erklärt. Krim-Bewohner, welche die russische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, gelten als Ausländer und benötigen eine Aufenthaltserlaubnis. Personen, die eine Aufenthaltsgenehmigung ohne russische Staatsbürgerschaft besitzen, werden wichtiger Rechte beraubt und dürfen weder landwirtschaftliches Land besitzen, noch wählen oder kandidieren, noch eine religiöse Gemeinde registrieren oder ein Fahrzeug anmelden. Die Behörden verweigern denjenigen, welche die russische Staatsbürgerschaft ablehnten, unter anderem den Zugang zu staatlichen Jobs, Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Möglichkeit, Bankkonten zu eröffnen und Versicherungen abzuschließen. Die Ablehnung der russischen Staatsbürgerschaft kann zur Ausweisung bzw. Abschiebung führen. Nach Angaben der Crimean Human Rights Group wurden in den fünf Jahren der russischen Besatzung mehr als 1.500 Ukrainer wegen fehlender russischer Dokumente strafrechtlich verfolgt und 450 Personen zur Deportation verurteilt. In einigen Fällen wurden Krim-Bewohner von den Behörden gezwungen, ihren ukrainischen Reisepass abzugeben, was Auslandsreisen entsprechend erschwert (USDOS 11.3.2020b; vgl. IRB 28.2.2020).

Im November 2018 wurde ein Einreiseverbot in die Ukraine für männliche russische Staatsbürger im Alter von 16 bis 60 Jahren verhängt, das weiterhin gilt. Wenn Einwohner der Krim die Grenze als Bürger der Russischen Föderation passieren wollen, gilt dieses Verbot auch für sie. Wenn sie jedoch noch einen gültigen ukrainischen Pass vorweisen können, gilt dieses Verbot für sie nicht (VB 28.1.2019).

Quellen:

- BFH - Bergmann/Ferid/Henrich (30.6.2016): Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht – Ukraine, https://www.vfst.de/apps/elbib/media/IEK_UKR-img-ukr218_20160630-pdf.pdf, Zugriff 26.5.2020

- IRB – Immigration and Refugee Board of Canada (28.2.2020): Russia and Ukraine: Issuance of Russian passports and citizenship rights to Ukraine citizens living in the territories of Crimea and Donbas [Donbass] (2014-February 2020) [ZZZ106331.E], https://www.ecoi.net/de/dokument/2027872.html, Zugriff 26.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020b): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Ukraine – Crimea, https://www.state.gov/reports/2019-country-reports-on-human-rights-practices/ukraine/crimea/, Zugriff 26.5.2020

- VB des BM.I für Ukraine (28.1.2019): Bericht des Vertrauensanwalts, per E-Mail

Ostukraine

Letzte Änderung: 27.5.2020

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. IDPs sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer geflohen (AA 29.2.2020). An der Dynamik des Konfliktes hat sich wenig verändert, obwohl 2019 einige Durchbrüche gelangen, wie der mehrmalige Austausch von Gefangenen, die Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, und eine relativ erfolgreiche Waffenruhe im August 2019 (KAS 4.2020). Auch im April 2020 kam es wieder zu einem Gefangenenaustausch (RFE/RL 16.4.2020).

In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es besonders 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 29.2.2020).

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. 2018 wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen, wenn eine Person an Verbrechen gegen die Sicherheit von DPR oder LPR beteiligt gewesen sein soll. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter und wird als hart und teils lebensbedrohlich bezeichnet. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie körperliche Misshandlung, Folter, Hunger, sexuelle Gewalt, öffentliche Demütigung, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020).

Im Donbas unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. In der LPR sollen die Websites von mehr als 50 ukrainischen Nachrichtenagenturen blockiert worden sein. Journalisten werden in der DNR genau überwacht, müssen die „Behörden“ der Separatisten z.B. über ihre Aktivitäten informieren oder werden von Mitgliedern bewaffneter Gruppen begleitet, wenn sie sich in der Nähe der Kontaktlinie bewegen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen „Behörden“ unterstützt oder organisiert werden; oft mit erzwungener Teilnahme. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 11.3.2020).

Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB 2.2019). Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019). 2019 soll sich laut Berichten das soziale Stigma und die Intoleranz aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verschärft haben; v.a. aufgrund der Anwendung von Gesetzen, welche die "Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen" kriminalisieren (USDOS 11.3.2020). Obwohl DNR und LNR in ihren Verfassungen Religionsfreiheit garantieren, sind Anhänger von Glaubensrichtungen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehören, Verfolgung ausgesetzt. Am schlimmsten betroffen sind die Zeugen Jehovas, die 2018 als extremistische Organisation vollständig verboten wurden und deren Eigentum beschlagnahmt wurde (FH 2020).

Die separatistischen Kräfte im Gebiet Donezk verboten die humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung und schränken die Hilfe internationaler humanitärer Organisationen ein. Infolgedessen sind Berichten zufolge die Preise für Grundnahrungsmittel für viele Personen, die auf dem von Russland kontrollierten Gebiet verblieben, zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen „humanitären Hilfe“ an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 11.3.2020). Die laufende Handelsblockade zwischen den besetzten Gebieten in der Ostukraine und dem Rest der Ukraine dämpfte, kombiniert mit Korruption und anhaltenden Kampfhandlungen, die Bemühungen zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft. Viele Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (FH 2020).

Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019). Die Bewegungsfreiheit nach Russland ist weniger eingeschränkt (FH 2020).

Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon „Ajdar“ wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 29.2.2020).

Es gibt Berichte über Entführungen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Am häufigsten wurden Zivilisten von den von Russland geführten Streitkräften an Ein-/Ausreisekontrollpunkten entlang der Kontaktlinie festgenommen. Beide Konfliktparteien setzen Landminen ohne Umzäunung, Beschilderung oder andere Maßnahmen ein, wodurch Opfer unter der Zivilbevölkerung verhindert werden könnten. Besonders akut sind die Risiken für Personen, die in Städten und Siedlungen in der Nähe der Kontaktlinie leben, sowie für Personen, welche die Kontaktlinie täglich überqueren müssen (USDOS 11.3.2020). Von Jänner bis November 2019 dokumentierte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte 162 konfliktbezogene zivile Unfallopfer; davon kamen 26 zu Tode, 136 wurden verletzt. Dabei wurden 101 der Unfälle durch Handfeuerwaffen und 58 durch Minen und Sprengstoffe verursacht. Insgesamt war im Jahr 2019 gegenüber 2018 ein Rückgang konfliktbedingter Unfälle um fast 40% zu verzeichnen (AA 29.2.2020). Zu den fünf Gruppen, die am stärksten vom Konflikt betroffen sind, gehören ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, IDPs, Kinder und Familien von Alleinerzieherinnen (UN 1.2020).

Im Juni 2019 begann die Russische Föderation damit, in einem erleichterten Verfahren russische Pässe für ukrainische Staatsbürger, die in den besetzten Gebieten leben, auszustellen (FH 2020). Acht Monate nach der Vereinfachung des Verfahrens zum Erwerb eines russischen Passes für die Donbas-Bewohner gab Russland bekannt, dass es bereits über 196.000 Ukrainern die Staatsbürgerschaft verliehen hatte (TMT 3.1.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FH – Freedom House (2020): Freedom in the World Index 2020, Eastern Donbas, https://freedomhouse.org/country/eastern-donbas/freedom-world/2020, Zugriff 26.5.2020

- HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 – Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002209.html, Zugriff 26.5.2020

- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020

- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020

- PCU – Protection Cluster Ukraine (3.2019): Mine Action in Ukraine, https://www.unhcr.org/ua/wp-content/uploads/sites/38/2019/04/2019_03_advocacy_note_on_mine_action_eng-1.pdf, Zugriff 26.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (16.4.2020): Ukraine, Russia-Backed Separatists Hold Another Prisoner Swap, https://www.rferl.org/a/ukraine-russia-backed-separatists-begin-new-round-in-prisoner-swap/30558758.html, Zugriff 26.5.2020

- TMT – The Moscow Times (3.1.2020): Kyiv Post: Moscow Says it Issued Nearly 200,000 Russian Passports in Ukraine’s Donbass, https://www.themoscowtimes.com/2020/01/03/kyiv-post-moscow-says-it-issued-nearly-200000-russian-passports-in-ukraines-donbass-a68807, Zugriff 26.5.2020

- UN – United Nations (1.2020): UKRAINE, At a glance: 2020 Humanitarian Needs Overview, https://www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/documents/files/ukriane_2020_hno_at_a_glance-en.pdf, Zugriff 25.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

- USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 26.5.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 27.5.2020

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 6.7.2020

Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Sou

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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