TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/7 L529 2156130-1

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Veröffentlicht am 07.10.2021
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Entscheidungsdatum

07.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L529 2156128-1/33E

L529 2156130-1/33E

Schriftliche Ausfertigung des in der Verhandlung am 28.04.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von 1) XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, und 2) XXXX , geb. XXXX , StA. Marokko, beide vertreten durch die BBU, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.04.2017, Zlen zu 1) XXXX und 2) XXXX , nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 26.02.2021 und 28.04.2021, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als “BF“ bzw. gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch als BF1 – BF2 bezeichnet) sind verheiratet und stellten nach illegaler Einreise in Österreich am 09.09.2015 Anträge auf internationalen Schutz. Der BF1 ist Staatsangehöriger des Irak, er gehört der Volksgruppe der Araber und der schiitischen Religionsgemeinschaft an. Die BF2 ist Staatsangehörige von Marokko und gehört der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Sie lebte mit ihrem Ehemann, dem BF1, die letzten 5 Jahre vor ihrer Ausreise im Irak.

I.2. Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.09.2015 gab der BF1 zum Fluchtgrund befragt an, dass er bei einer Gerichtsverhandlung von einem bestochenen Richter ungerecht behandelt worden sei. Er habe den Richter angezeigt und sei in der Folge von Milizen bedroht worden. Seine Autoscheibe sei eingeschlagen worden und im Auto habe sich ein Drohbrief befunden; er sei darin aufgefordert worden, die Klage zurückzuziehen, ansonsten werde er umgebracht werden. Daraufhin habe er mit seiner Frau sein Heimatland verlassen. Bei Rückkehr fürchte er um seine Sicherheit.

Die BF2 gab anlässlich der Erstbefragung an, dass sie Araberin mit marokkanischer Staatsbürgerschaft sei, aber seit 5 Jahren mit ihrem Ehemann im Irak lebe. Sie habe keine eigenen Fluchtgründe, sondern sei mit ihrem Mann mitgegangen.

I.3. Am 01.03.2016 wurden die BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF1 gab dabei an, er sei von 1998 – 2012 in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) als Autoteilehändler tätig gewesen. Nach seiner Rückkehr in den Irak im Jahr 2012 habe er bis zu seiner Ausreise bei einer verwitweten Tante in Kerbala gewohnt. Er sei Schiite, aber nicht sehr religiös eingestellt, sein Fluchtgrund habe auch keinen religiösen Hintergrund. Zum Fluchtgrund befragt gab der BF1 an, er habe im Irak Liegenschaften und Fahrzeuge besessen, die mit einer gefälschten Vollmacht verkauft worden seien. Er habe dies zur Anzeige gebracht und sei in der Folge mit dem Umbringen bedroht worden, wenn er die Klage nicht zurückziehe. Den Wert des von ihm angestrengten Verfahrens bezifferte der BF1 mit 0,5 Mio Dollar. Er habe auch gegen zwei Richter und den Präsidenten des Berufungsgerichtes Anzeige wegen Bestechung und Korruption erstattet. Er habe seinen Sohn wegen dieser Bedrohungen schon zuvor nach Österreich geschickt. Ein weiterer Fluchtgrund sei der Umstand, dass seine Frau Sunnitin sei. Sie hätten zwar deshalb noch keine Probleme gehabt, er mache sich aber Sorgen. Zum Beweis seines Vorbringens brachte der BF1 Kopien der gefälschten Vollmacht und eines Haftbefehls in Vorlage.

Die BF2 gab in der niederschriftlichen Einvernahme an, dass sie 2002 aus Marokko in die VAE ausgewandert sei. Sie sei sunnitische Araberin und betreffend Marokko gebe es keine Fluchtgründe, wenngleich es auch dort konfessionelle Konflikte gebe. Zum Fluchtgrund aus dem Irak befragt führte die BF2 aus, dass sie sich auf den Fluchtgrund ihres Ehemannes beziehe. Darüber hinaus gebe es Probleme, weil sie als Sunnitin mit einem Schiiten verheiratet sei und in einem schiitischen Land lebe.

I.4. Mit Untersuchungsbericht vom 18.03.2016 des Bundeskriminalamtes wurde festgestellt, dass es sich bei der von den BF vorgelegten Heiratsurkunde um eine Totalfälschung handle.

I.5. Am 06.04.2016 wurden die BF abermals beim BFA niederschriftlich einvernommen. Nach Vorhalt der Heiratsurkunde bestritten die BF deren Fälschung. Der BF1 führte ergänzend dazu aus, dass seine Ehefrau erst in den Irak einreisen habe dürfen, nachdem der Ehevertrag ausgestellt worden sei.

I.6. Die Anträge auf internationalen Schutz wurden mit im Spruch genannten Bescheiden des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurden die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak (BF1) bzw. Marokko (BF2) abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in den Irak (BF1) bzw. Marokko (BF2) gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Das BFA stellte fest, dass der BF1 im Irak keiner staatlichen Verfolgung ausgesetzt war und dass auch kein religiöses Motiv festgestellt werden konnte. In Bezug auf die BF2 stellte das BFA fest, dass diese Marokko aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht habe.

I.7. Gegen diese Bescheide wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben und diese in vollem Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens, mangelhafter Beweiswürdigung sowie wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten.

I.8. Der Verwaltungsakt langte am 10.05.2017 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde vorerst der Gerichtsabteilung L506 zugeteilt. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L506 abgenommen und mit 04.10.2018 der Gerichtsabteilung L528 neu zugewiesen. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2019 wurde die Rechtssache wegen Ausscheidens des Leiters der Gerichtabteilung L528 der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und mit 06.03.2019 der Gerichtsabteilung L529 neu zugeteilt.

I.9. Für den 18.11.2020 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung, diese wurde aber am 13.11.2020 wieder abberaumt. Für den 26.02.2021 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien neuerlich zu einer mündlichen Verhandlung. Mit der Ladung wurden den BF länderkundliche Informationen übermittelt und die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu eingeräumt.

I.10. Am 26.02.2021 wurde von 08.39 Uhr bis 16.10 Uhr eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, bei der die BF Gelegenheit hatten, zum Fluchtvorbringen, zu ihrer Integration und ihrer Rückkehrsituation Stellung zu nehmen.

Die Verhandlung vom 26.02.2021 wurde auf den 28.04.2021 vertagt und den BF eine Frist von 14 Tagen zur nochmaligen Vorlage von Dokumenten in leserlicher Form, vorzugsweise im Original, aufgetragen. Die BF ersuchten am 05.03.2021 um Fristerstreckung, da die BF2 aufgrund des Verdachts einer Ansteckung mit Covid-19 behördlich abgesondert worden sei.

I.11. In Entsprechung des gerichtlichen Auftrages vom 26.02.2021 übermittelten die BF ein Konvolut an Unterlagen.

I.12. Am 28.04.2021 fand von 08.30 bis 15.05 Uhr die fortgesetzte öffentliche mündliche Verhandlung statt.

Am Ende der Verhandlung wurden mittels mündlich verkündetem Erkenntnis die Beschwerden als unbegründet abgewiesen. Die Niederschrift der mündlichen Verkündung enthält die wesentlichen Entscheidungsgründe.

I.13. Mit – beim BVwG am 04.05.2021 eingelangtem – Schriftsatz beantragten die BF die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

I.14. Hinsichtlich des detaillierten Verfahrensherganges wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen (Sachverhalt):

II.1.1. Zur Person der BF:

Der BF1 ist Staatsangehöriger des Irak, führt den im Spruch genannten Namen und gehört der Volksgruppe der Araber und der schiitischen Religionsgemeinschaft an. Seine Identität steht fest.

Die BF2 ist Staatsangehörige von Marokko, führt den im Spruch genannten Namen und gehört der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Ihre Identität steht fest.

Die BF sind miteinander verheiratet. Die BF haben in den VAE 2007 geheiratet.

Die BF reisten illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 09.09.2015 Anträge auf internationalen Schutz.

Der BF1 stammt aus Kerbala. Er hat im Irak 12 Jahre die Schule besucht, mit Matura abgeschlossen und ein Sportstudium (Abschluss 1989) absolviert. Von 1989 – 1999 verdiente er im Irak seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Autoteilen. Nach einem etwa einjährigen Aufenthalt in Jordanien, wo er seinen Lebensunterhalt mit der Montage von Beleuchtungsschildern verdiente, reiste er in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), wo er sich von 2000 bis 24.10.2010 aufhielt. In den VAE war er von 2004 im Autoexport tätig, ab 2005 betrieb er eine Transportfirma, welche innerhalb der VAE Baumaterialien, Schutt und Erdaushub transportierte.

Familienangehörige des BF1 leben nach wie vor im Irak. Der BF steht zumindest mit zwei seiner Töchter aus erster Ehe in Kontakt.

Die BF2 hat in Marokko 12 Jahre die Schule besucht und als Friseurin gearbeitet. Sie ist aus wirtschaftlichen Gründen im Jahr 2002 in die VAE ausgewandert.

Familienangehörige der BF2 leben nach wie vor in Marokko und die BF2 steht in Kontakt mit ihnen. Sie war auch mehrmals zu Besuchszwecken in Marokko.

Der BF1 leidet an keiner lebensbedrohlichen oder akut behandlungsbedürften Erkrankung und er ist arbeitsfähig.

Die BF2 ist gesund und arbeitsfähig.

In Österreich hat der BF1 mit Ausnahme seiner Ehefrau noch zwei Töchter und einen Sohn. Mit dem Sohn, einer Tochter und deren Kind leben die BF in einer gemeinsamen Wohnung, die zweite Tochter lebt mit ihrer Familie in Wien; die BF stehen auch mit dieser Tochter (und deren Familie) in regelmäßigem Kontakt. Die BF2 kam mit ihrem Ehemann, dem BF1, nach Österreich und steht in Kontakt mit dessen hier aufhältigen Kindern und deren Familien.

Die BF haben bislang keine Deutschprüfung abgelegt und verfügen über geringe (BF1) bzw. bloß rudimentäre (BF2) Deutschkenntnisse. Sie sind nicht selbsterhaltungsfähig, waren bislang nicht karitativ tätig, sind nicht Mitglieder in einem Verein oder in einer sonstigen Organisation und verfügen auch über keine Unterstützungs- oder Empfehlungsschreiben.

Die BF sind strafrechtlich unbescholten.

II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF1 in seinem Heimatland einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt war oder im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine solche zu erwarten hätte.

Es konnte zudem, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände, nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF1 in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF1 als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Es wird festgestellt, dass dem BF1 im Rückkehrfall keine lebens- bzw. existenzbedrohende Notlage droht. Dem BF1 ist eine Rückkehr in seine Herkunftsregion zum Entscheidungszeitpunkt zumutbar.

Die BF2 machte keine eigenen Fluchtgründe geltend, sondern es sollten für sie die Fluchtgründe ihres Ehemannes gelten. Eine Bedrohung der BF1 in ihrem Herkunftsland Marokko oder auch im Irak wurde von der BF2 nicht geltend gemacht und war auch aufgrund der Aktenlage nicht feststellbar. Wie dem BF1 ist der BF2 eine Rückkehr zumutbar.

II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

II.1.3.1. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak wurden den BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Länderinformationsblatt mit letzter Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020) übermittelt und wurden in der mündlichen Verhandlung am 26.02.2021 ergänzende dokumente ins Verfahren eingeführt (VHS Seite 39, 40) und wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen:

Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranische PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

[…]

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro

Monat jeweils ein Balken).

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

Iraq Body Count, Teilausdruck vom 27.01.2021

Monatliche zivile Todesfälle durch Gewalt, ab 2003; Teilausdruck vom 23.06.2021

 

Jan

Feb

Mar

Apr

Mai

Jun

Jul

Aug

Sep

Okt

Nov

Dec

 

2003

3

2

3977

3438

545

597

646

833

566

515

487

524

12,133

2004

610

663

1004

1303

655

910

834

878

1042

1033

1676

1129

11,737

2005

1222

1297

905

1145

1396

1347

1536

2352

1444

1311

1487

1141

16,583

2006

1546

1579

1957

1805

2279

2594

3298

2865

2567

3041

3095

2900

29,526

2007

3035

2680

2728

2573

2854

2219

2702

2483

1391

1326

1124

997

26,112

2008

861

1093

1669

1317

915

755

640

30°

612

594

540

586

10,286

2009

372

409

438

590

428

564

431

653

352

441

226

478

5,382

2010

267

305

336

385

387

385

488

520

254

315

307

218

4,167

2011

389

254

311

289

381

386

308

401

397

366

288

392

4,162

2012

531

356

377

392

304

529

469

422

400

290

253

299

4,622

2013

357

360

403

545

888

659

1145

1013

1306

1180

870

1126

9,852

2014

1097

972

1029

1037

1100

4088

1580

3340

1474

1738

1436

1327

20,218

2015

1490

1625

1105

2013

1295

1355

1845

1991

1445

1297

1021

1096

17,578

2016

1374

1258

1459

1192

1276

1405

1280

1375

935

1970

1738

1131

16,393

2017

1119

982

1918

1816

1871

1858

1498

597

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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