Entscheidungsdatum
12.10.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W159 2200277-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan und vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.09.2021 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 1 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, gelangte spätestens am 19.10.2015 irregulär nach Österreich und stellte noch an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 19.10.2015 wurde er im XXXX einer Erstbefragung nach dem AsylG unterzogen. Zu seinen Fluchtgründen führte er aus, dass er und seine Familie vor einem Jahr von den iranischen Behörden nach Afghanistan zurückgeschoben worden seien. Der Onkel des BF habe gewollt, dass der BF, seine Mutter und seine zwei Schwestern schnell heiraten. Der Onkel des BF habe weiters gewollt, dass der BF für die Taliban kämpfe, weshalb er und seine Familie von Afghanistan geflüchtet seien. Bei einer Rückkehr fürchte der BF, dass sein Onkel ihn zu Taliban schicken könne.
Mit Schriftsatz vom 23.02.2018 brachte der Beschwerdeführer, damals vertreten durch die XXXX , eine Ergänzung zur Erstbefragung ein. Der Beschwerdeführer legte mehrere Fotos, auf dem er mit Taliban-Anhängern zu sehen sei, Schulbesuchsbestätigungen, Schulzeugnisse, eine Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs, Deutschzertifikate des ÖSD, Teilnahmebestätigungen an kreativen Aktivitäten sowie Bewerbungsunterlagen vor. Im Zuge der Ergänzung gab der Beschwerdeführer an, seine Eltern seien vor rund 30 Jahren in den Iran geflüchtet. Die Eltern hätten sich getrennt, als der Beschwerdeführer etwa sechs Jahre alt gewesen sei. Seine Mutter sowie seine Geschwister seien im Iran aufhältig. Der Beschwerdeführer vermute, dass auch sein Vater wieder im Iran aufhältig sei. Eine Schwester des Beschwerdeführers sowie deren Ehegatte, mit denen der Beschwerdeführer damals geflohen sei, seien ebenfalls in Österreich aufhältig. Auch ein Bruder sowie eine Tante des Beschwerdeführers seien in Österreich, weshalb Österreich das Zielland des Beschwerdeführers gewesen sei. Der Bruder der Mutter des Beschwerdeführers sei ein Talib, welcher zwar kein richtiger Anführer, aber vergleichsweise mächtig sei und dessen Ansichten und Weisungen andere Taliban folgen würden. Der Onkel des Beschwerdeführers habe sich als „Oberbefehlshaber“ der Familie gesehen. Der Onkel habe sofort versucht, die Mutter und die Schwestern des Beschwerdeführers mit Zwang zu verehelichen, wofür er Geld bekommen hätte. Der Beschwerdeführer sei gegen seinen Willen von den Taliban ausgebildet worden. Der Beschwerdeführer sei ganz klar zur Tötung von Menschen ausgebildet worden, die den Taliban nicht passen würden. Auch der Beschwerdeführer würde nicht zu den Taliban wollen, was er nicht sagen habe können. Ansonsten wären die Taliban sauer gewesen und so habe der Beschwerdeführer auch flüchten können. Der Beschwerdeführer habe in Afghanistan einen Kulturschock erlitten.
Weiters brachte der Beschwerdeführer vor, dass allein seine „westliche Schulbildung“ ein Dorn im Auge der Taliban sei. Würden die Taliban wissen, was der Beschwerdeführer über die Ideologie der Taliban denke und fühle, wäre das schon Grund genug, den Beschwerdeführer zu töten. Seine politischen Meinungen seien zutiefst säkular bzw. westlich. Er schätze jeden Menschen, unabhängig vom Glauben oder Geschlecht. Zwangsehen seien nach Ansicht des Beschwerdeführers falsch. Die Auslegung des Beschwerdeführers gelte als Abkehr vom Islam. Auch wenn die offizielle Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers dieselbe sei wie die der Taliban, bestünde eine Inkompatibilität. Der Beschwerdeführer habe darüber hinaus einen iranischen Akzent und würde als möglicher „Rückkehrer“ gelten. Der Beschwerdeführer würde jedenfalls nicht so handeln, wie man es von ihm erwarten würde. Er sei schon 2014 in Afghanistan aufgefallen und die Situation wäre bei einer Rückkehr jedenfalls noch schlimmer.
Der Beschwerdeführer legte weiters diverse Dokumente über seine Schulausbildung im Iran vor. In Österreich sei der Beschwerdeführer aktiv gewesen und legte Zeugnisse von österreichischen Schulen vor. Auch Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen und Unterlagen hinsichtlich bestandener Deutschprüfungen beim ÖSD legte der Beschwerdeführer in Vorlage vor.
Am 21.03.2018 erfolgte eine inhaltliche Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich. Der Beschwerdeführer sei im Iran, XXXX geboren, wo er bis zu seinem 12. oder 13. Lebensjahr mit seiner Familie gelebt habe. Seine Familie sei vor 28 oder 30 Jahren wegen des Krieges in Afghanistan in den Iran geflüchtet. Er habe im Iran sieben Jahre eine offizielle Schule besucht. In der Zeit im Iran hätten er, seine Mutter und seine drei Schwestern eine Aufenthaltskarte gehabt. Danach sei die gesamte Familie von den iranischen Behörden nach Herat, Afghanistan abgeschoben worden. In der Folge sei der Beschwerdeführer, seine Mutter und seine Schwestern nach Kabul gefahren. Sein Onkel mütterlicherseits habe sie abgeholt und nach XXXX und anschließend nach Kunar mitgenommen. Der Beschwerdeführer habe bis zu seiner Ausreise ca. ein Jahr in Kunar gelebt. Der Beschwerdeführer sei mit seiner Mutter und drei Schwestern wieder ausgereist. Die gesamte Familie habe den Iran verlassen wollen. In dieser Zeit habe die Schwester des Beschwerdeführers ihren Mann kennengelernt. An der türkisch-iranischen Grenze sei die gesamte Familie von den iranischen Behörden festgenommen und nach Herat abgeschoben worden. Der Beschwerdeführer sei weder verheiratet noch habe er Kinder. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei sunnitischer Moslem. Seine Kernfamilie sei nicht mehr in Afghanistan wohnhaft. Seine Mutter und zwei seiner Schwestern würden in XXXX , Iran leben, zu welchen er einmal wöchentlich Kontakt habe. Die dritte Schwester, XXXX , zu welcher der Beschwerdeführer nicht viel Kontakt habe, sowie deren Ehegatte, XXXX , würden seit ca. 2,5 Jahren in Österreich leben. Der Bruder des Beschwerdeführers heiße XXXX , sei seit 2010 in Österreich aufhältig und sei Asylberechtigter. Der Beschwerdeführer habe vier Onkeln und eine Tante mütterlicherseits, die in Kunar leben und – mit Ausnahme der Tante - den Taliban angehören würden. Auch der Ehegatte seiner Tante sei bei den Taliban. Väterlicherseits habe er zwei Onkel, wobei er nicht wisse, wo sich diese aufhalten würden, da er keinen Kontakt zu diesen habe. Der Beschwerdeführer habe auch drei Tanten väterlicherseits, von denen zwei im Iran und eine in Österreich leben würden. Während er zu seiner Tante in Österreich Kontakt pflege, bestünde zu seinen zwei Tanten im Iran kein Kontakt. Seine Tante in Österreich heiße XXXX , sei seit ca. 15 Jahren in Österreich aufhältig und arbeite als Übersetzerin und Dolmetscherin. Der Beschwerdeführer treffe seine in Österreich wohnhafte Tante oft. Sie habe zwei Kinder, auf die der Beschwerdeführer aufpasse. Der Beschwerdeführer sowie seine Familie hätten keine Besitztümer in Afghanistan. Er spreche Farsi sehr gut und Paschtu nicht so gut.
Der Beschwerdeführer gab im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme weiters an, dass er bereits Deutschkurse besucht sowie sich um eine Arbeit bemüht und als Nachweis Bestätigungen bereits vorgelegt habe. Er habe bereits eine Deutschprüfung abgelegt. Er mache gerade den Pflichtschulabschluss, kenne viele Leute in der Schule und verbringe die meiste Zeit mit Lernen. Er sei in Österreich mit dem Gesetz nicht in Konflikt geraten. Er sei als Zeuge wegen eines Vorfalles zu Silvester vernommen worden. In Afghanistan habe er nie Probleme mit den Behörden gehabt und sei auch politisch nicht aktiv gewesen. Er habe keine persönlichen Probleme aufgrund seiner Religionsbekenntnis oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit gehabt. Er habe in Österreich gesehen, wie man hier leben könne. Insbesondere gefalle es ihm, dass er seine Meinung frei kundtun könne. Soetwas kenne er in Afghanistan nicht, wo Meinungsfreiheit Probleme verursache. Männer und Frauen seien gleichgestellt, was ihm am wichtigsten sei. Er sei bemüht, sich eine Zukunft in Österreich aufzubauen. Seine Tante habe ihm vieles beigebracht, wie dass es in Österreich keinen Krieg gebe. Er sei ehrenamtlich nicht tätig noch sei er Mitglied in Vereinen.
Der Beschwerdeführer habe an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teilgenommen, indem er Schulungen in einem Talibanlager bekommen habe, wie man mit einer Waffe umgehe. Wenn er in Afghanistan geblieben wäre, hätte er sicher jemanden im Krieg umbringen müssen. Nachgefragt habe er niemanden erschossen. Als der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Familie von Iran nach Afghanistan abgeschoben worden sei, habe sein Onkel mütterlicherseits, welcher Mitglied der Taliban sei, ihn und seine Familie abgeholt. Der Onkel des Beschwerdeführers habe ihn und seinen Schwager mit Zwang für die Taliban rekrutiert. Der Beschwerdeführer habe sich dem Taliban nicht anschließen wollen. Er sei mit seinem Onkel sowie mit anderen Mitgliedern der Taliban in einem Talibanlager gewesen, wo er beispielsweise drei Nächte auf den Bergen gewesen sei und von der Taliban das Schießen und Verstecken gelernt habe. Er sei fast nie zuhause gewesen. Er habe mit den Taliban auch gegessen. Er erfuhr auch, dass die Taliban vorgehabt habe, seine Mutter und seine Schwestern zwangsweise zu verehelichen. Auch dem Beschwerdeführer hätten die Taliban befohlen, eine Frau zu heiraten, ohne ihn zu fragen, ob er dies wünsche. Entsprechend des Planes seiner Mutter und seines Schwagers hätten der Beschwerdeführer und seine Familie in Kunar eine Tazkira beantragt, welche sie ein bis zwei Tage später in Kabul abgeholt hätten. Von Kabul sei er mit seiner Familie mit einem Auto nach XXXX gefahren und hätten anschließend gemeinsam Afghanistan illegal verlassen.
Die der Taliban angehörigen Onkeln mütterlicherseits würden XXXX , XXXX , XXXX sowie XXXX heißen. XXXX habe den Beschwerdeführer gezwungen, für die Taliban zu kämpfen. Tag und Nacht habe der Beschwerdeführer gehört, was seine Aufgabe sei, warum er kämpfen müsse. Nachgefragt habe der Beschwerdeführer eine Kalaschnikoff zu bedienen gelernt, deren Benutzung er auch detailliert erklärt habe. Das gesamte Gebiet sei von den Taliban besetzt gewesen. Ohne Tazkira habe die Polizei, welche Richtung Zentrum präsent gewesen sei, gewusst, dass man den Taliban angehöre, sodass man mitgenommen worden sei. Die Taliban kämpfe gegen Ungläubige wie Schiiten und wollte er den Islam schützen.
Der Beschwerdeführer wolle niemanden töten noch selbst getötet werden. Seine der Taliban angehörigen Familienmitglieder wüssten, dass er in Österreich aufhältig sei, weshalb der Beschwerdeführer nun als ungläubig angesehen werde. Daher wolle der Beschwerdeführer nicht zurückkehren. Die Taliban wisse, dass er in Europa bzw. in Österreich sei, obwohl er keinen Kontakt mehr mit ihnen habe.
Am 19.04.2018 wurde XXXX , Schwager des Beschwerdeführers, zeugenschaftlich durch das Bundesamt einvernommen. Im Zuge dessen gab XXXX an, dass er mit der Familie zuerst in Herat, nach ein bis zwei Tagen in Kabul und anschließend für zwei bis drei Wochen in XXXX , Kunar gewesen sei. Danach seien sie geflüchtet. Die Verwandten des Beschwerdeführers hätten ihm und dem Beschwerdeführer das Schießen beigebracht, weil sie sich gegen die Polizei verteidigen müssten. Er habe mit dem Beschwerdeführer in der Landwirtschaft gearbeitet. Nebenbei hätten die Verwandten des Beschwerdeführers mit ihm und dem Beschwerdeführer den Islam sowie die Verteidigung von Afghanistan besprochen. Der Beschwerdeführer habe XXXX alles übersetzt, da dieser Paschtu nicht sprechen könne. Er habe von dem Beschwerdeführer erfahren, dass der Beschwerdeführer heiraten müsse. Der Onkel des Beschwerdeführers, XXXX habe sich als Vater des Beschwerdeführers ausgegeben und für den Beschwerdeführer eine Tazkira beantragt. Die Mutter sowie die Schwestern des Beschwerdeführers hätten nie eine Tazkira beantragt. Da die Ehefrau des XXXX vom Onkel des Beschwerdeführers, XXXX , geschlagen und infolge medizinisch behandelt worden sei, seien sie geflüchtet. Die Flucht habe die Großmutter seiner Ehefrau angeraten und organisiert.
Am 19.04.2018 wurde ebenfalls XXXX , Schwester des Beschwerdeführers zeugenschaftlich durch das Bundesamt einvernommen. Im Zuge dessen gab sie an, sie sei mit ihrer Mutter, ihrem Ehemann, ihren zwei Schwestern sowie mit dem Beschwerdeführer zuerst in Herat, dann in Kabul, dann Jalalbad, Stadtteil Kunar gewesen. Sie habe keinen Kontakt zum Beschwerdeführer. Der Beschwerdeführer habe in der Landwirtschaft seines Onkels, XXXX gearbeitet und habe eine Frau heiraten müssen, deren Identität nur dem Onkel bekannt gewesen sei. Ihre Großmutter habe daher die Flucht angeraten und diese auch organisiert.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 08.05.2018, Zahl XXXX wurde unter Spruchpunkt I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchpunkt II. dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen., unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V. die Abschiebung (ohne Nennung eines Zielstaates) für zulässig erklärt und unter Spruchpunkt VI. die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgelegt.
In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegeben Einvernahmen dargestellt sowie Feststellungen zur Person und zur (damaligen) Lage in Afghanistan getroffen. In der Beweiswürdigung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Beschwerdeführer bei der Schilderung der behaupteten Geschehnisse jegliches Detail habe vermissen lassen und seien die Behauptungen überdies nicht nachvollziehbar und zu den Angaben der Zeugen widersprüchlich, weshalb dem Fluchtvorbringen jegliche Glaubwürdigkeit entzogen worden sei. Der Beschwerdeführer habe nicht nachvollziehbar erklären können, weshalb er die Fotos behalten habe, obwohl er behauptet habe, unter enormen Druck der Taliban gestanden zu sein. Es sei auch unwahrscheinlich, dass im Hinblick auf die Person seines Onkels, welcher einfaches Mitglied der Taliban sei, der Beschwerdeführer von den Taliban gezielt verfolgt werde. Die behauptete Zwangsehe erreiche keine Asylrelevanz. Auch eine asylrelevante westliche Gesinnung könne nicht festgestellt werden.
In der rechtlichen Beurteilung zu Spruchpunkt I. wurde ausgeführt, dass das Vorbringen nicht als glaubhaft einzustufen gewesen sei. Zum Spruchpunkt II. wurde auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul eingegangen. Es wurde ausgeführt, dass weder nach dem Vorbringen noch der allgemeinen Situation etwas ersichtlich sei, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr eine unmenschliche Behandlung im gesamten Herkunftsstaat oder ihm eine extreme Gefährdungslage drohen würde. Zu Spruchpunkt III. wurde ausgeführt, dass keiner der drei Voraussetzungen des § 57 AsylG vorläge, zu Spruchpunkt IV., dass der Beschwerdeführer über kein schützenswertes Familienleben in Österreich sowie auch sonst über keine privaten Bindungen verfüge. Er spreche und verstehe teilweise die deutsche Sprache, besuche in Österreich Deutschkurse und habe die A2-Prüfung absolviert. Das Privat- und Familienleben für den Beschwerdeführer sei entstanden, als er sich seines unsicheren Aufenthalts bewusst gewesen sei, welcher nur durch den Antrag auf internationalen Schutz berechtigt gewesen sei. Der Beschwerdeführer verfüge über stärkere Bindungen zur afghanischen Gesellschaft wie zu Österreich. Er sei in afghanisch-stämmigen Familienverbänden aufgewachsen. Er spreche die landestypischen Sprachen und sei grundsätzlich mit den kulturellen und sprachlichen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut. Aus all diesen Gründen habe die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu unterbleiben gehabt und sei die Rückkehrentscheidung zulässig. Zu Spruchpunkt V. wurde insbesondere ausgeführt, dass sich im vorliegenden Fall keine Gefährdung iSd § 50 FPG ergebe, sodass eine Abschiebung (ohne dass ein konkretes Land genannt wurde) zulässig sei. Zu Spruchpunkt VI. wurde schließlich dargelegt, dass besondere Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise nicht hätten festgestellt werden können.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller, damals vertreten durch die XXXX , fristgerecht gegen alle Spruchpunkte Beschwerde und beantragte ausdrücklich die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Es seien Übersetzungsfehler passiert. Die Formulierung auf Seite 6, wonach die Dauer mit einem Jahr angegeben worden sei, entspreche dem Zeitraum zwischen Verlassen des Irans und der Ankunft in Österreich und habe mit der Glaubwürdigkeit, insbesondere bei Jugendlichen per se nichts zu tun. Die Großmutter der Schwester des Beschwerdeführers, welche die Flucht angeraten und organisiert habe, habe dem Beschwerdeführer nicht die gesamte Wahrheit gesagt, weshalb dieser dem Irrtum unterlegen sei, man müsse zu Zwecken der Beantragung einer Tazkira nach Kabul reisen. Der Beschwerdeführer sei nämlich ständig mit den Taliban unterwegs gewesen. Dies hätte man mit einem Vorhalt auch klären können. Mangelnde Detailliertheit könne man Jugendlichen nicht vorwerfen. Der Beschwerdeführer sei öfter mit den Taliban unterwegs gewesen als sein Schwager, welcher nicht der Sprachen Paschtu mächtig sei bzw. die Taliban würden kein Iranisch sprechen, weshalb der Schwager mehr in der Landwirtschaft gearbeitet habe. Zwangsheiraten mit Unbekannten sei asylrelevant. Was unter einer „afghanischen Enklave“ zu verstehen sei, sei nicht angegeben worden. Der Charakter des Beschwerdeführers würde in einer afghanischen Gesellschaft nicht akzeptiert werden und er sohin einem unzumutbaren Leidensdruck ausgesetzt wäre bzw. sein Verhalten würde überhaupt als Blasphemie oder gleichwertigen Straftatbeständen vor Ort ausgelegt werden. Die Behörde unterstelle weiters eine Integrationsfähigkeit zwischen sämtliche Paschtunen lediglich aufgrund ihrer Volksgruppe. Dies bedürfe einer genaueren Begründung. Der bloße Hinweis auf nicht näher definierte Enklaven genüge nicht. Das Bundesamt stelle fest, dass gegen die Schwester und den Schwager des Beschwerdeführers eine Rückkehrentscheidung erlassen worden sei, weshalb ein schützenswertes Familienleben nicht bestünde. Beschwerdeseitig wird dagegen vorgebracht, dass die Rückkehrentscheidungen nicht rechtskräftig seien und das Bundesamt dem Bundesverwaltungsgericht der Entscheidung vorgreifen würde. Jedenfalls habe der Beschwerdeführer mit seiner in Österreich aufhältigen Tante und Bruder ein Netzwerk, welches für junge Menschen von essentieller Bedeutung sei. Diese Familienangehörigen seien daher als Gewichtungsfaktor bei der Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen. Weiters habe das Bundesamt nicht detailliert ausgeführt, inwiefern die Mutter und Schwestern des Beschwerdeführers, welche im Iran aufhältig seien, einen Beitrag bei einem Leben in Kabul leisten könnten. Dies sei vielmehr pauschal festgestellt worden. Darüber hinaus habe das Bundesamt ihre Ermittlungspflichten verletzt. Bei Minderjährigen bedürfe es einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung. Dies hätte bei den behaupteten Widersprüchen berücksichtigt werden müssen. Der maßgebliche Sachverhalt sei infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften unrichtig festgestellt worden.
Mit Schreiben vom 18.06.2019 legte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht eine BFI-Teilnahmebestätigung – Pflichtabschluss-Lehrgänge, ein BFI Zeugnis über die Pflichtschulabschlussprüfung, eine Bestätigung über eine ehrenamtliche Tätigkeit beim XXXX sowie den die Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten beim vorgenannten Verein bestätigenden Pass („Österreichischer Freiwilligenpass“) vor.
Die Staatsanwaltschaft XXXX benachrichtigte das Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 23.06.2019, dass gegen den Beschwerdeführer eine Anklage wegen des Verdachts der Begehung des Verbrechens der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs. 1 und Abs. 2 erhoben worden sei. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 10.09.2019 zu XXXX sei der Beschwerdeführer von der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlung freigesprochen worden.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 08.09.2021 an, vorweg wurde eine Vollmacht der Bundesbetreuungsagentur vorgelegt. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung. Am Beginn der Verhandlung legte der Beschwerdeführervertreter ein Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau B1, ein Empfehlungsschreiben der XXXX , eine Beschäftigungszusage der XXXX , ein Empfehlungsschreiben der XXXX , ein Unterstützungsschreiben der XXXX , ein Unterstützungsschreiben der XXXX , ein Unterstützungsschreiben der XXXX sowie eine Bestätigung über eine ehrenamtliche Tätigkeit des XXXX vor. Der Beschwerdeführer hielt seine Beschwerde und das bisherige Vorbringen aufrecht. Er habe einen Punkt dahingehend korrigiert, dass etwas falsch protokolliert worden sei betreffend seinen Aufenthalt in Afghanistan. Er sei nicht ein Jahr, sondern nur einen Monat in Afghanistan aufhältig gewesen.
Er wisse nicht, welche Staatsangehörigkeit er besitze. Seine Mutter sei afghanische Staatsangehörige. Der Beschwerdeführer gehöre dem Stamm XXXX an. Er glaube zwar an Gott, sei aber konfessionslos. Er habe keine Religion. Der Islam bedeute für ihn nichts, er achte aber jede Religion. Er werde in Zukunft sicherlich aus der islamischen Glaubensgemeinschaft austreten. Er konvertiere nicht zu einer anderen Religion. Er sei am XXXX , in XXXX , im Iran, geboren. Seine Eltern hätten sich im Iran getrennt, als er sechs Jahre alt gewesen sei. Wann genau seine Eltern in den Iran gereist seien, wisse er nicht mehr. Er wisse nicht, wo sich sein Vater aufhalte noch habe er Kontakt zu ihm. Er sei mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern aufgewachsen. Er habe im Laufe seines Lebens im Iran, in Afghanistan sowie in Österreich gelebt. Er habe einen Monat in der Provinz Kunar, besser gesagt in den Gebirgen von Kunar gelebt. Befragt, ob der Beschwerdeführer Ort und Distrikt nennen könne, wo er gelebt habe, gab er an, in XXXX und noch genauer in XXXX gelebt zu haben. Er habe für den Iran eine Art Ausweis gehabt, der nur für die Provinz XXXX gültig gewesen sei. Er sei im Iran sieben Jahre in eine Schule gegangen, in der sowohl afghanische Flüchtlinge als auch Kinder mit iranischer Staatsangehörigkeit unterrichtet worden seien. Er habe bereits mit sechs Jahren gearbeitet. Zuerst habe er am Markt, danach als Automechaniker und am Schluss als Metalltechniker gearbeitet. Seine Mutter habe als Reinigungskraft gearbeitet. Er habe den Iran verlassen, weil er dort nicht mehr arbeiten habe dürfen. Er habe arbeiten dürfen, jedoch nur unter der Bedingung, dass er für den Zugang zum Arbeitsmarkt einen besonderen Ausweis erhalte, welcher zu teuer gewesen sei. Gesellschaftlich gesehen, sei er unter Druck gewesen, weil er es als Junge ohne Vater sehr schwer gehabt habe. Er sei mit seiner Mutter und drei Schwestern im Jahre 2014 nach Afghanistan abgeschoben. Sein Bruder sei schon in Österreich gewesen. Der Beschwerdeführer sei nach Herat abgeschoben worden, weil dies die erste große Stadt nach der iranischen Grenze sei. Er sei mit seiner Mutter und drei Schwestern ein paar Tage in Herat gewesen. Danach habe er und seine Familie einen Bus gefunden, mit dem sie nach Kabul gefahren seien. In Kabul habe der Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers ihn, seine Mutter und seine drei Schwestern abgeholt und nach XXXX gebracht. Danach seien sie mit einem Geländewagen der Taliban nach Kunar gefahren. Seine Onkel mütterlicherseits würden XXXX , XXXX und XXXX heißen. Sein Onkel, XXXX , habe seine Schwestern zwangsverheiraten wollen, um Geld zu kassieren. Sein Onkel, XXXX , habe auch den Beschwerdeführer verheiraten wollen. Datum für eine Verlobung oder für eine Hochzeit habe sein Onkel nicht genannt. Das Mädchen heiße aber XXXX , was er von seiner Mutter erfahren habe. Er habe lediglich den Vater von XXXX gekannt, mit dem er jedoch nicht über die Verehelichung gesprochen habe, da dies sein Onkel, XXXX mit dem Vater von XXXX besprochen habe. Befragt, ob sein Onkel. XXXX ihm etwas über die Taliban erzählt habe, gab er an, dass sein Onkel selbst ein Talib sei, weshalb er darüber nichts mehr zu erzählen brauche. Sein Onkel habe mit ihm über die „wahre Religion“ gesprochen. Er habe jeden Tag zur Moschee gehen müssen, wo er zuerst das Frühgebet verrichtet habe und nachher in eine Koranschule in der Moschee gegangen sei. Er habe sich aufgrund eines Art Befehls seines Onkels dem Taliban angeschlossen. Er habe seinem Onkel keine direkte Antwort geben können, weil, wenn er „nein“ gesagt hätte, wisse er nicht, wo er dann gelandet wäre. Sein Onkel habe ihn nicht bedroht, aber er und seine Familie hätten von vornherein gewusst, dass etwas geschehe, wenn er und seine Familie damit nicht einverstanden gewesen wären. Er habe die Regeln, die in Afghanistan üblich gewesen seien, nicht gekannt. Beispielsweise habe er jemanden nicht richtig gegrüßt, weshalb er manchmal Ohrfeigen von seinem Onkel bekommen habe. Befragt, wie der Alltag mit seinem Onkel ausgesehen habe, gab er an, dass er jeden Tag zuerst zur Moschee gegangen sei, wohin er mitgehen habe müssen. Dann habe er Brennholz in einem Wald gesammelt, indem er und sein Onkel Bäume gefällt und das Holz zerkleinert hätten und mit Hilfe von Eseln nachhause transportiert hätten. Nach der Arbeit hätten sie gegessen. Dann habe er zu den Taliban gehen müssen, wo er gelernt habe, Waffen zu verwenden wie beispielsweise eine Kalaschnikow. Er habe dort einen anderen Namen erhalten, da XXXX ein schiitischer Name sei. Man habe ihn deshalb XXXX genannt. Am Abend sei er manchmal zum Haus seines Onkels zurückgekehrt. Manchmal habe er auch in den Bergen bei den Taliban geschlafen. Sein Onkel sei Kommandant der Taliban. Nachgefragt gab er an, dass sein Onkel eine Art Dorfvorsteher sei. Sein Onkel habe in seinem Dorf das Sagen gehabt.
Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass er aus zwei Gründen geflohen sei. Der erste Grund sei gewesen, dass er und seine Schwester nicht zwangsweise heiraten hätten wollen. Der zweite und wichtigere Grund sei gewesen, dass er und seine Familie nicht mit den Taliban zusammen sein sowie zusammenarbeiten hätten wollen. Die Taliban würden alle, die nicht an das Gleiche, wie sie glauben würden, als „Kafer“, als „Ungläubige ansehen. Er habe kein Mörder werden wollen, weil er der Meinung sei, jene Leute, die von den Taliban als „Ungläubige“ angesehen würden, seien ebenfalls durch denselben Gott geschaffen und seien auch Menschen wie die anderen. Zuerst sei der Beschwerdeführer mit seiner Mutter und drei Schwestern nach XXXX und danach nach Kabul gegangen. Anschließend seien sie nach XXXX und von dort schlepperunterstützt über die Grenze in den Iran gereist. Sein Onkel habe von seiner Ausreise nichts mitbekommen, weil seine Großmutter mütterlicherseits alles organisiert habe. Die Großmutter habe Mitleid gehabt mit dem Beschwerdeführer, seiner Mutter und seinen Schwestern. Bevor der Beschwerdeführer, seine Mutter und seine drei Schwestern losgegangen seien, habe er nicht gewusst, dass sie Afghanistan verlassen würden. Seine Großmutter habe alles mit seinem Schwager besprochen, weshalb sein Onkel nichts mitbekommen habe. Während seine Mutter und zwei seiner Schwestern im Iran verblieben seien, sei er, seine älteste Schwester und deren Ehemann (der Schwager des Beschwerdeführers) nach Österreich gereist. Er habe Kontakt zu seiner Familie in dem Iran, zu seiner zwischenzeitig asylberechtigten ältesten Schwester, seinem in Österreich aufhältigen Bruder sowie zu seiner als Dolmetscherin tätigen Tante in Österreich.
Er arbeite gerade freiwillig als Kinderbetreuer beim „ XXXX “. Er unterstütze dabei neu angekommene Flüchtlinge beim Deutsch lernen und passe auf die Kinder auf, damit deren Eltern in Ruhe Deutsch lernen würden. Er habe eine Deutschprüfung auf dem Niveau B1 absolviert und bestanden. Er habe den Pflichtschulabschlussvorbereitungskurs und vorher einen Basisbildungskurs besucht, wobei im Rahmen des Pflichtschulabschlusses ihm aus finanziellen Gründen nur mehr Englisch fehle. Er habe auch im XXXX legal mit einer erteilten Beschäftigungsbewilligung als Kellner gearbeitet. Die Genehmigung habe er aber nicht mehr. Er sei ledig und gesund. Er habe viele österreichische Freunde und verbringe seine Freizeit gerne im Fitnesscenter, mit Gitarre spielen und Beachvolleyball. Er trinke Alkohol und esse Schweinefleisch. Er habe großen Respekt vor Frauen. Frauen seien heilig und er sei der Meinung, dass Frauen und Männer gleich seien. Befragt, was er von der gegenwärtigen Situation in Afghanistan halte, gab er an, dass er es schade finde, sein Land verloren zu haben. Die Taliban würden alles machen, was sie wollten. Die Menschen seien nicht frei. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre sein Leben in Gefahr, zumal sein Onkel jetzt an der Macht sei und als dessen Neffe wäre er als Rückkehrer aus Europa als „Ungläubiger“ zu sehen, dem vieles passieren könne. Nachgefragt wisse er nicht, was konkret passieren könne. Der Beschwerdeführer habe teilweise die Fragen in gutem Deutsch beantwortet.
Nach dem Beschwerdeführer wurde XXXX , Geschäftsführerin des XXXX , zeugenschaftlich vernommen. Sie habe den Beschwerdeführer bereits vor mehreren Jahren im Verein kennengelernt. Der Beschwerdeführer habe Deutschkurse im Verein besucht. Der Beschwerdeführer habe im Verein ehrenamtlich arbeiten wollen. Er habe sehr lange in der Kinderbetreuung mitgeholfen. Er werde auch bei Festen und Veranstaltungen als zuverlässiger Helfer engagiert, er organisiere andere freiwillige Helfer und dolmetsche, falls dies erforderlich sei. Er nehme auch an verschiedenen Veranstaltungen wie beim Männertreff teil. Befragt, ob die Zeugin etwas über die religiöse Einstellung des Beschwerdeführers wisse, gab sie an, dass der Beschwerdeführer sehr weltoffen sei. Er trinke auch Alkohol. Er habe sich allgemein nicht positiv zur Religion geäußert. Er habe weniger über sein Bekenntnis zu irgendeiner Religion gesprochen. Er habe vielmehr von seinen Problemen wegen seines Namens gesprochen. XXXX sei sunnitisch, XXXX schiitisch, weshalb er mit diesem Namen nur Probleme gehabt habe. Zu seiner Integration gab die Zeugin an, dass er unglaublich viele Kontakte habe, auch zu Österreicherinnen. Er habe den Hauptschulabschluss nachgeholt. Er habe sich immer wieder um Arbeit bemüht. Er wolle eine Lehre anfangen und habe bereits einmal im XXXX im Saisonbetrieb gearbeitet. Die Zeugin spreche sich unbedingt für einen Verbleib des Beschwerdeführers in Österreich aus, weil er ein wertvolles Mitglied für den Verein sei, dessen Hilfe sie weiterhin bräuchten.
Verlesen wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers, in dem keine Verurteilung aufscheint. Am Schluss der Verhandlung wurde den Verfahrensparteien die (damals) aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation sowie des UNHCR unter Einräumung einer Frist von zwei Wochen zur Abgabe einer Stellungnahme vorgehalten.
Von der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme machte der Beschwerdeführer durch seine ausgewiesene Vertretung Gebrauch. Darin wurde zunächst auf die Zwangsrekrutierung eingegangen, indem der Begriff Zwangsrekrutierung unter Quellenangaben definiert wurde. Unter anderem liege eine solche vor, wenn jemand, der sich einer Mobilisierung widersetze, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen durch den Rekrutierer ausgesetzt sei. Die Entscheidung zu mobilisieren, liege bei den Familienoberhäuptern, bei deren Widersetzen die Familie Strafen oder den Tod zu befürchten habe. Der Beschwerdeführer sei aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten und legte er hierzu eine Austrittsbestätigung vor. Nach den Länderinformationen gebe es noch keine Berichte, inwiefern die Machtübernahme der Taliban Auswirkungen auf die Apostasie habe, wobei auf das frühere Verhalten der Taliban hinsichtlich eines Glaubensabfalles verwiesen wurde, welcher rigoros verfolgt und bestraft worden sei. Im Hinblick auf seine westliche Gesinnung sowie einer fehlenden innerstaatlichen Fluchtalternative sei eine Verfolgung durch die Taliban nicht ausgeschlossen. Schließlich wurde auf diverse Zeitungsartikel sowie den Berichten des UNHCR verwiesen. Das UNHCR führe aus, dass in Anbetracht der instabilen Lage in Afghanistan es nicht angemessen sei, Afghanen und Afghaninnen internationalen Schutz auf Grundlage einer internen Flucht- oder Umsiedlungsalternative zu verweigern.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan und gehört der paschtunischen Volksgruppe an. Er trat aus der islamischen Glaubensgemeinschaft aus und ist ohne Bekenntnis. Er ist am XXXX in XXXX , im Iran geboren. Nach sieben Jahren Schulbesuch arbeitete er im Iran zuerst in einem Markt, dann als Automechaniker und zum Schluss als Metalltechniker. Er wurde im Jahr 2014 zusammen mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern nach Afghanistan abgeschoben. In Afghanistan lebten er, seine Mutter und seine drei Schwestern bei seinen Onkeln mütterlicherseits in Kunar.
Der Beschwerdeführer arbeitete in der Landwirtschaft. Er ging mit seinem Onkel in den Wald, fällte Bäumer, zerkleinerte sie und transportierte sie mit einem Esel nachhause. Seine Onkel mütterlicherseits sind Mitglieder der Taliban. Sein Onkel XXXX brachte ihn zu den Bergen, wo sein Onkel ihm das Schießen mit einer Kalaschnikow beibrachte. Er ging jeden Tag zur Moschee, wo er das Frühgebet verrichten und danach in die Koranschule in der Moschee gehen musste. Die Taliban wollten den Beschwerdeführer zwangsrekrutieren. Der Beschwerdeführer hätte darüber hinaus mit Zwang verheiratet werden sollen. Er teilt die Ansichten der Taliban nicht, wonach Menschen, die nicht der Ansichten der Taliban sind, für diese als „Ungläubige“ gelten. Für ihn ist jeder Mensch gleich, unabhängig vom Geschlecht sowie von der Religion eines Menschen. Da er weder von einer Streitmacht zwangsrekrutiert werden wollte, deren Ansichten er nicht folgt, sowie nicht zwangsverheiratet werden wollte, flüchtete er gemeinsam mit seiner Mutter sowie seinen drei Schwestern auf Vorschlag und Organisation seiner Großmutter mütterlicherseits von Afghanistan Richtung Iran. Seine Mutter und zwei seiner Schwester sind im Iran aufhältig, zu welchen der Beschwerdeführer Kontakt pflegt. Seine älteste Schwester und deren Ehegatte (Schwager des Beschwerdeführers) sind in Österreich aufhältig, denen zwischenzeitig rechtskräftig der Asylstatus zuerkannt wurde. Auch seine Tante und Bruder, zu welchen er Kontakt pflegt, sind in Österreich aufhältig.
Der Beschwerdeführer hat viele Freunde in Österreich, unter denen sich auch Österreicher und Österreicherinnen befinden. Er bemühte sich oft um Arbeit und sucht zum Entscheidungszeitpunkt eine Lehrstelle. Er ist zum Entscheidungszeitpunkt im XXXX ehrenamtlich tätig. Er spricht Deutsch gut und hat den Pflichtschulabschluss mit Ausnahme des Unterrichtsgegenstandes Englisch bereits absolviert. Er schätzt die Meinungsfreiheit und die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau.
Der Beschwerdeführer ist unbescholten.
Zur aktuellen Situation in Afghanistan wird Folgendes festgestellt:
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen.
Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. AC-CORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Quellen:
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Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2