Entscheidungsdatum
28.10.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
L516 2152560-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Iran, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2017, Zahl 1097907307/151929302, nach mündlicher Verhandlung am 29.07.2021, zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer ist iranischer Staatsangehöriger und stellte am 04.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens mit Bescheid vom 20.03.2017 (I.) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG sowie (II.) des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG ab. Das BFA erteilte unter einem (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG, stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung in den Iran, Islamische Republik, gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (IV.) aus, dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.
Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache am 29.07.2021 eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer im Beisein einer Vertreterin teilnahm; die belangte Behörde erschien nicht.
1. Sachverhaltsfeststellungen:
[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: S=Seite; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; NS=Niederschrift; VS=Verhandlungsschrift; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich; SD=Staatendokumentation des BFA; LIB=Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA]
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen im Iran
Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen sowie das ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Iran, er gehört der arabischen Volksgruppe der Ahwazi und der Glaubensgemeinschaft der Sunniten an. Seine Identität steht fest. (NS EB 14.12.2015 S 1, 3; EV 16.01.2017 S 3; AS 253-271)
Der Beschwerdeführer stammt aus der Stadt Ahvaz (auch: Ahwas oder Ahwaz) in der Provinz Khuzestan, wo er bis zu seiner Ausreise auch lebte. Er besuchte im Iran vierzehn Jahre lang die Schule und schloss auch ein XXXX mit einem Bachelor ab. Er leistete seinen Militärdienst ab. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Im Iran leben nach wie vor die Eltern, seine Halbschwester und die zwei Brüder Beschwerdeführers. Sein Bruder XXXX , der zusammen mit dem Beschwerdführer in Österreich eingesreist war, kehrte nach kurzem Aufenthalt in Österreich freiwillig in den Iran zurück, begann ein Studium und heiratete. Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seiner Mutter. (NS EB 14.12.2015 S 3; VS 29.07.2021 S 8, 9)
Der Beschwerdeführer verließ den Iran im Oktober 2015 und reiste über die Türkei, Griechenland und weitere Länder nach Österreich. (NS 14.12.2015 S 3)
1.2. Zu seiner Lebenssituation in Österreich
Der Beschwerdeführer reiste im November 2015 in Österreich ein, wo er sich seither gestützt auf das vorläufige Aufenthaltsrecht nach dem Asylgesetz ununterbrochen aufhält. Es handelt sich gegenständlich um seinen ersten und einzigen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer hat von Beginn seines Verfahrens an, sämtlichen Ladungen Folge geleistet und an seinem Verfahren mitgewirkt, weshalb ihm die bisherige Verfahrensdauer nicht anzulasten ist. (IZR, NS EB 14.12.2015 S 3)
Der Beschwerdeführer bezieht seit seiner Einreise in Österreich mit kurzen Unterbrechungen Leistungen aus der Grundversorgung. Er ist jedoch arbeitswillig und arbeitsfähig. Er hat Deutschkurse besucht, jedoch keine Prüfung abgeschlossen. Der Beschwerdeführer kann Deutsch sehr gut verstehen und sprechen. (GVS; VS 29.07.2021 S 3)
Der Beschwerdeführer lebt in einer aufrechten unehelicher Lebensgemeinschaft und im gemeinsamen Haushalt mit XXXX , geb XXXX , einer österreichischen Staatsangehörigen christlich-römisch-katholischen Glaubens, und beide sind die leiblichen Eltern ihres gemeinsamen Sohnes XXXX , der im XXXX geboren wurde. Der Sohn befindet sich gegenwärtig von Geburt an bei Pflegeltern, da gegenüber der Erziehungsfähigkeit der Mutter seitens des Jugendamtes Vorbehalte bestehen. Zum Sohn besteht nur beschränkter Kontakt; aufgrund seines Status als Asylwerber wurde dem Beschwerdeführer nicht die Obsorge für seinen Sohn übertragen. Der Beschwerdeführer und seine Lebensgefährtin erwarten gegenwärtig ein weiteres gemeinsames Kind. (OZ 14; VS 29.07.2021 S 6, 7)
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten (Strafregister der Republik Österreich)
1.3 Zum Gesundheitszustand
Beim Beschwerdeführer wurde von einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie das Vorliegen des Vollbildes einer posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert. Zudem wurde bei ihm eine Knochenfraktur des rechten Unterkieferknochens diagnotiziert und als deren Folge mussten ihm in Österreich mehrere Backenzähne entfernt werden, die im Zuge des Knochenbruchs zu Schaden kamen. Davon abgesehen fühlt sich der Beschwerdeführer gesund. (Fachärztlicher Bericht 16.05.2017 (OZ 5); Röntgenbefund 21.04.2017 (OZ 5); NS EV 16.01.2017 S 6; VS 29.07.2021 S 4, 9)
1.4 Der Beschwerdeführer brachte zur Beründung seines Antrages auf internationalen Schutz zusammengefasst im Wesentlichen vor:
Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz – zusammengefasst – damit, dass er ein Angehöriger der Minderheit der Ahwazi sei und – ohne dies zu wissen – als Aktivist für die oppositionellen Partei Al Tadhamun, der Demokratischen Solidaritätspartei von Ahwaz, gearbeitet habe. Er habe ein Jahr lang einmal in der Woche von einem Mann namens XXXX Broschüren über die Geschichte und aktuelle Unterdrückung der Ahwazi erhalten und diese in Häusern verteilt, habe an Demonstrationen gegen die Regierung teilgenommen und sei als Folge einer Demonstrationsteilnahme von iranischen Sicherheitskräften festgenommen, gefoltert und dabei sein Kiefer gebrochen worden. Aufgrund seiner Verletzungen sei er ins Spital gebracht worden, aus welchem er nach mehreren Wochen und zwei Operationen habe fliehen können. Es sei gebe auch einen Haftbefehl sowie ein Gerichturteil gegen ihn, wonach er zu sechzehn Jahren Haft verurteilt worden sei. (NS EB 04.12.2015 S 5; NS EV 16.01.2017 S 5 ff; NS EV 01.02.2017 S 2ff; VS 29.07.2021 S )
Der Beschwerdeführer legte auch Fotos von drei farsi-sprachigen Dokumenten vor, die in ihrer Übersetzung in die deutsche Sprache als als Gerichtsurteil, Ladung, und Haftbefehl bezeichnet werden. Originale dazu wurden von ihm trotz Aufforderung durch das BFA nicht vorgelegt. (AS 121-125; 149-153; 137)
1.5 Zur Glaubhaftigkeit der vorgebrachten Antragsgründe und Rückkehrbefürchtung
Nicht glaubhaft ist, dass der Beschwerdeführer für die Partei Al Tadhamun aktiv war, er Broschüren verteilt hat, gegen ihn ein Haftbefehl erlassen wurde und er mit einem Gerichtsurteil zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde.
Glaubhaft ist, dass der Beschwerdeführer als Angehöriger der arabischen Minderheit der Ahwazi im Iran an Protesten und Demonstrationen gegen die iranische Regierung aufgrund der von dieser Minderheit wahrgenommenen Benachteiligungen in beruflicher, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht teilgenommen, und bei einer solchen Teilnahme wegen der von ihm dadurch zum Ausdruck gebrachteen politisch oppositionellen Gesinnung von iranischen Sicherheitskräften festgenommen, gefoltert und dabei sein Kiefer gebrochen worden ist.
Der Beschwerdeführer führt zudem eine außereheliche sexuelle Beziehung einer österreichischen Staatsangehörigen christlichen Glaubens. Der Beziehung entstammt der in Österreich geborene gemeinsame Sohn. Der Beschwerdeführer und seine Lebensgefährtin erwarten gegenwärtig ein weiteres gemeinsames Kind. (Geburtsurkunde des Sohnes (OZ 14); VS 29.07.2021 S 5, 7)
1.6 Zur Lage im Iran
Sicherheitslage
In der Provinz Kurdistan und der ebenfalls von Kurden bewohnten Provinz West-Aserbaidschan gibt es wiederholt Anschläge gegen Sicherheitskräfte, lokale Repräsentanten der Justiz und des Klerus. In diesem Zusammenhang haben Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen kurdische Separatistengruppen sowie Kontrollen mit Checkpoints noch einmal verstärkt. Seit 2015 kommt es nach iranischen Angaben in der Provinz Khuzestan und in anderen Landesteilen, auch in Teheran, wiederholt zu Verhaftungen von Personen, die mit dem sogenannten Islamischen Staat in Verbindung stehen und Terroranschläge in Iran geplant haben sollen (AA 14.6.2021b). Im iranisch-irakischen Grenzgebiet sind zahlreiche Minenfelder vorhanden (in der Regel Sperrzonen). Die unsichere Lage und die Konflikte in Irak verursachen Spannungen im Grenzgebiet. Gelegentlich kommt es zu Schusswechseln zwischen aufständischen Gruppierungen und den Sicherheitskräften (EDA 14.6.2021). Schmuggler, die zwischen dem iranischen und irakischen Kurdistan verkehren, werden mitunter erschossen, auch wenn sie unbewaffnet sind (ÖB Teheran 10.2020). Gelegentlich kommt es auch im Grenzgebiet zur Türkei zu Schusswechseln zwischen militanten Gruppierungen und den iranischen Sicherheitskräften. Auch für unbeteiligte Personen besteht das Risiko, unversehens in einen Schusswechsel zu geraten (EDA 14.6.2021).
Sicherheitsbehörden, Stand Juni 2021
Mit willkürlichen Verhaftungen kann und muss jederzeit gerechnet werden, da die Geheimdienste (der Regierung und der Revolutionsgarden) sowie die Basijis nicht nach iranischen rechtsstaatlichen Standards handeln. Auch Verhaltensweisen, die an sich (noch) legal sind, können das Misstrauen der Basijis hervorrufen. Bereits auffälliges Hören von (insbesondere westlicher) Musik, ungewöhnliche Bekleidung oder Haarschnitt, die Äußerung der eigenen Meinung zum Islam, Partys oder gemeinsame Autofahrten junger, nicht miteinander verheirateter Männer und Frauen könnte den Unwillen zufällig anwesender Basijis bzw. mit diesen sympathisierenden Personen hervorrufen. Willkürliche Verhaftungen oder Misshandlung durch Basijis können in diesem Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden (ÖB Teheran 10.2020).
Haftbedingungen
Die Haftbedingungen in iranischen Gefängnissen sind von massiver Überbelegung geprägt (ÖB Teheran 10.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, FH 3.3.2021, AI 7.4.2021). Berichten zufolge kommt es auch vor, dass bei Überbelegung der Zellen Häftlinge im Freien untergebracht werden (ÖB Teheran 10.2020), oder sie müssen auf Gängen oder am Boden schlafen (USDOS 30.3.2021). Die Haftbedingungen sind sehr oft auch gesundheitsschädigend. Berichtet wird über unzureichende Ernährung und Verweigerung notwendiger medizinischer Behandlung - in Einzelfällen mit tödlichen Folgen. Von mangelnden hygienischen Zuständen ist auszugehen (ÖB Teheran 10.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, FH 3.3.2021, AI 7.4.2021). Im Allgemeinen verschlechterten sich die Haftbedingungen während der COVID-19-Pandemie erheblich (USDOS 30.3.2021). Politische Gefangene haben in den letzten Jahren wiederholt Hungerstreiks durchgeführt, um gegen Misshandlungen in Gewahrsam zu protestieren (FH 3.3.2021; vgl. USDOS 30.3.2021). Von Februar bis Mai 2020 ließen die Behörden als Reaktion auf die Corona-Pandemie etwa 128.000 Gefangene vorübergehend frei und begnadigten 10.000 weitere (AI 7.4.2021), um die Ausbreitung von COVID-19 in Gefängnissen zu verhindern. Berichten zufolge befanden sich nur sehr wenige politische Gefangene unter jenen, denen Urlaub gewährt wurde (FH 3.3.2021). Hunderte gewaltlose politische Gefangene waren von Begnadigungen und vorübergehenden Freilassungen ausgeschlossen (AI 7.4.2021). Mehrere Menschenrechtsverteidiger wurden unter der richterlichen Anordnung bezüglich COVID-19 freigelassen. In vielen anderen Fällen haben sich die Behörden trotz der Gesundheitsrisiken geweigert, Menschenrechtsverteidigern vorübergehende Freilassungen zu gewähren (HRW 13.3.2021). Die Zahl der Coronavirus-Infektionen in Gefängnissen dürfte höher sein als von den Behörden angegeben (FH 3.3.2021).
In den Gefängnissen wird auch von physischer und psychischer Folter berichtet. Dies gilt auch und gerade im Zusammenhang mit Häftlingen, die unter politischem Druck stehen, zu intensive Kontakte mit Ausländern pflegen, etc. (ÖB Teheran 10.2020). Folter und andere Misshandlungen sind nach wie vor weit verbreitet und werden systematisch angewendet - vor allem während Verhören (AI 7.4.2021). Neben Elektroschocks werden u.a. Schläge, Verbrennungen, Vergewaltigungen, Scheinhinrichtungen, Verhaftung der Familie, Einzelhaft und Schlafentzug verwendet. Dazu kommt vielfach der nicht oder nur ganz selten mögliche Kontakt mit der Außenwelt. Oft ist es Angehörigen während mehrerer Wochen oder Monate nicht möglich, Häftlinge zu besuchen. Politische Gefangene oder Minderjährige werden teils mit kriminellen Straftätern zusammengelegt, wodurch Übergriffe nicht selten sind (ÖB Teheran 10.2020).
Eines der berüchtigtsten Gefängnisse ist nach wie vor das im Norden Teherans gelegene, von den Amerikanern für den Schah (und den Geheimdienst SAVAK) errichtete Evin-Gefängnis. Von außen fällt auf, dass es weniger aus Gebäuden, sondern eher aus Hügeln besteht, zumal sich ein Großteil des Gefängnisses in unterirdischen Anlagen befindet. Dies verstärkt den psychischen Druck (Mangel an Tageslicht). Manche Trakte unterstehen nicht der Justiz/Polizei, sondern direkt den Nachrichtendiensten der Revolutionsgarden. Aber auch andere Gefängnisse, wie das neue 'Große Teheraner Gefängnis' im Süden der Stadt sind für ihre Haftbedingungen berüchtigt (ÖB Teheran 10.2020).
Straflosigkeit bei Vergehen von Beamten ist weiterhin ein Problem. Berichten zufolge hat Folter zu mehreren Todesfällen in Gewahrsam geführt (AI 7.4.2021). Gefangene können Beschwerden bei den Justizbehörden einreichen, werden jedoch häufig mit Zensur oder Vergeltung in Form von Verleumdung, Schlägen, Folter und Verweigerung von medizinischer Versorgung und Medikamenten oder Urlaubsanträgen sowie Anklage wegen zusätzlicher Straftaten konfrontiert (USDOS 30.3.2021).
Die Haftbedingungen für politische und sonstige Häftlinge weichen stark voneinander ab. Dies betrifft in erster Linie den Zugang zu medizinischer Versorgung (einschließlich Verweigerung grundlegender Versorgung oder lebenswichtiger Medikamente) sowie hygienische Verhältnisse. Es kommt regelmäßig zu Hungerstreiks gegen Haftbedingungen (AA 26.2.2020), in der Regel entschließen sich politische Häftlinge dazu (ÖB Teheran 10.2020; vgl. FH 3.3.2021). Im März und April 2020 protestierten Gefangene im ganzen Land mit Hungerstreiks und Aufständen, weil die Behörden nicht in der Lage waren, sie vor Corona-Infektionen zu schützen. Die Behörden reagierten mit rechtswidrigen Mitteln. Sie schlugen die Inhaftierten und beschossen sie mit scharfer Munition, Metallkugeln und Tränengas, um die Proteste niederzuschlagen. Dies führte dazu, dass am 31. März 2020 im Sheiban-Gefängnis in Ahwaz in der Provinz Khuzestan mehrere Gefangene, die der arabischen Ahwazi-Minderheit angehörten, getötet und viele weitere verletzt wurden (AI 7.4.2021).
Die Grenzen zwischen Freiheit, Hausarrest und Haft sind in Iran manchmal fließend. Politisch als unzuverlässig geltende Personen werden manchmal in 'sichere Häuser' gebracht, die den iranischen Sicherheitsbehörden unterstehen. Dort werden sie ohne Gerichtsverfahren Monate oder sogar Jahre festgehalten (ÖB Teheran 10.2020). Ein besonders prominentes Beispiel ist Oppositionsführer Mehdi Karroubi, der zusammen mit seiner Frau und zwei anderen Oppositionsführern seit 2011 unter Hausarrest steht (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Todesstrafe
Der Iran ist auch weiterhin eines der Ländern, wo die Todesstrafe am häufigsten durchgeführt wird (HRW 13.1.2021; vgl. CSW 3.2021). Die Todesstrafe steht auf Mord (wobei die Familie des Opfers gegen Zahlung von Blutgeld auf die Hinrichtung verzichten kann), Sexualdelikte, gemeinschaftlichen Raub, wiederholten schweren Diebstahl, Drogenschmuggel (nur mehr bei besonders schweren Vergehen), schwerwiegende Verbrechen gegen die Staatssicherheit, 'Moharebeh' (Waffenaufnahme gegen Gott) und homosexuelle bzw. außereheliche Handlungen (ÖB Teheran 10.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AA 26.2.2020). Des Weiteren terroristische Aktivitäten, Waffenbeschaffung, Hoch- und Landesverrat, Veruntreuung und Unterschlagung öffentlicher Gelder, Bandenbildung, Beleidigung oder Entweihung von heiligen Institutionen des Islams oder heiligen Personen (z.B. durch Missionstätigkeit), Vergewaltigung und Geschlechtsverkehr eines Nicht-Muslimen mit einer Muslimin (AA 26.2.2020). Auch der Abfall vom Islam (Apostasie) kann mit der Todesstrafe geahndet werden (AA 26.2.2020; vgl. ÖB Teheran 10.2020). In den letzten 20 Jahren ist es jedoch zu keiner Hinrichtung aus diesem Grund gekommen (AA 26.2.2020).
Der größte Anteil der Hinrichtungen entfällt mittlerweile auf Verurteilungen wegen Mord (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AA 26.2.2020) und Sexualdelikten. Die Hinrichtungen werden regelmäßig durch Erhängen, selten durch Erschießen, z.T. öffentlich durchgeführt (ÖB Teheran 10.2020) und auch (selten) gegen zum Tatzeitpunkt Minderjährige (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AA 26.2.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, HRC 11.1.2021, AI 7.4.2021, CSW 3.2021). Das Alter der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Buben liegt bei 15 und für Mädchen bei 9 Jahren (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AA 26.2.2020) und kann bei Eintritt der Volljährigkeit vollstreckt werden. Mehreren weiteren zur Tatzeit Minderjährigen droht aktuell die Hinrichtung (AA 26.2.2020). In der Vergangenheit konnten einige Hinrichtungen von Jugendlichen aufgrund von großem internationalen Druck (meist in letzter Minute) verhindert werden (ÖB Teheran 10.2020). Hinrichtungen erfolgen weiterhin regelmäßig ohne rechtlich vorgeschriebene vorherige Unterrichtung der Familienangehörigen, die Herausgabe des Leichnams wird teilweise verweigert oder verzögert (AA 26.2.2020).
Im Jänner 2018 trat eine Gesetzesänderung zur Todesstrafe bei Drogendelikten in Kraft. Wer Drogenstraftaten aufgrund von Armut oder Arbeitslosigkeit begeht, wird nicht mehr zum Tode verurteilt. Über gewalttätige Drogenstraftäter und solche, die mehr als 100 Kilogramm Opium oder zwei Kilogramm industrielle Rauschgifte produzieren oder verbreiten, wird weiterhin die Todesstrafe verhängt (ÖB Teheran 10.2020). Diese Gesetzesänderungen führten zu einer Überprüfung der Todesstrafe für Tausende von Häftlingen (FH 3.3.2021). Das neue Gesetz gilt rückwirkend, sodass dadurch etwa 2.000 bis 5.000 bereits zum Tode Verurteilte von der Todesstrafe verschont bleiben könnten (AA 26.2.2020). Ca. 9% aller Exekutionen stehen in Verbindung mit Drogenvergehen (AI 4.2021). In Bezug auf die Anzahl der jährlichen Hinrichtungen befindet sich Iran nach China weltweit an zweiter Stelle (FH 3.3.2021). Im Jahr 2020 wurden mindestens 233 Menschen hingerichtet (HRC 11.1.2021; vgl. AI 4.2021, HRW 13.1.2021). 18 der Hinrichtungen betrafen Drogenvergehen und 11 Moharebeh oder Korruption auf Erden (HRC 11.1.2021). Mindestens drei jugendliche Straftäter wurden hingerichtet (AI 4.2021; HRW 13.1.2021, HRC 11.1.2021).
Viele Todesurteile werden nach internationalen Verfahrensstandards widersprechenden Strafverfahren gefällt (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AI 7.4.2021): Es wird immer wieder von durch Folter erzwungenen Geständnissen oder fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten mit dem Verteidiger bzw. fehlender freier Wahl eines Verteidigers berichtet, insbesondere bei politischen oder die 'nationale Sicherheit' betreffenden Fällen. Derzeit ist bei Ehebruch noch die Strafe der Steinigung vorgesehen (auf welche vom 'Geschädigten' gegen eine Abstandsgeldzahlung verzichtet werden kann). Im Jahr 2002 wurde ein Moratorium für die Verhängung der Steinigungsstrafe erlassen. Seit 2009 sind keine Fälle von Steinigungen belegbar (ÖB Teheran 10.2020).
Folter und unmenschliche Behandlung
Folter ist nach Art. 38 der iranischen Verfassung verboten. Dennoch sind psychische und körperliche Folter sowie unmenschliche Behandlung bei Verhören und in Haft, insbesondere in politischen Fällen, durchaus üblich (AA 26.2.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, DIS 7.2.2020). Folter betrifft vorrangig eben diese nicht registrierten, aber auch offizielle Gefängnisse - insbesondere den berüchtigten Trakt 209 im Teheraner Evin-Gefängnis, welcher unmittelbar dem Geheimdienstministerium untersteht (AA 26.2.2020). Folter und andere Misshandlungen sind nach wie vor weit verbreitet und werden systematisch angewendet, vor allem während Verhören (AI 7.4.2021). Zudem wurden 2020 mindestens 160 Personen zu Peitschen- bzw. Stockhieben verurteilt sowohl wegen Diebstahls oder Überfällen als auch wegen Handlungen, die laut Völkerrecht nicht strafbar sind, wie z.B. Beteiligung an friedlichen Protesten, außereheliche oder einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen sowie Teilnahme an Feiern, bei denen sowohl Männer als auch Frauen anwesend waren. In vielen Fällen wurden die Auspeitschungen vollstreckt (AI 7.4.2021). Berichten zufolge unterhalten Behörden abseits des nationalen Gefängnissystems auch noch inoffizielle, geheime Gefängnisse und Haftanstalten, in denen Missbrauch stattfindet (USDOS 30.3.2021).
Bei Delikten, die im Widerspruch zu islamischen Grundsätzen stehen, können jederzeit Körperstrafen ausgesprochen und auch exekutiert werden. Bereits der Besitz geringer Mengen von Alkohol kann zur Verurteilung zu Peitschenhieben führen (eine zweistellige Zahl an Peitschenhieben ist dabei durchaus realistisch). Die häufigsten Fälle, für welche die Strafe der Auspeitschung durchgeführt wird, sind illegitime Beziehungen, außerehelicher Geschlechtsverkehr, Teilnahme an gemischt-geschlechtlichen Veranstaltungen, Drogendelikte und Vergehen gegen die öffentliche Sicherheit. Auch werden Auspeitschungen zum Teil öffentlich vollstreckt (ÖB Teheran 10.2020). Darüber hinaus gibt es Berichte, wonach politische Gefangene mit Elektroschocks gefoltert werden. Weitere berichtete Foltermethoden sind Verprügeln, Schlagen auf Fußsohlen und andere Körperteile, manchmal während die Häftlinge mit dem Kopf nach unten an der Decke aufgehängt waren, Verbrennungen mit Zigaretten und heißen Metallgegenständen, Scheinhinrichtungen (davon wissen praktisch alle politischen Gefangene aus eigener Erfahrung zu berichten), Vergewaltigungen - teilweise durch Mitgefangene - die Androhung von Vergewaltigung, Einzelhaft, Entzug von Licht, Nahrung und Wasser sowie die Verweigerung medizinischer Behandlung (ÖB Teheran 10.2020; vgl. USDOS 30.3.2021).
Folter und andere Misshandlungen geschehen häufig in der Ermittlungsphase (HRC 8.2.2019; vgl. DIS 7.2.2020), um dadurch Geständnisse zu erzwingen (HRC 8.2.2019; vgl. HRW 13.1.2021). Dies betrifft vor allem Fälle von ausländischen und Doppelstaatsbürgern, Minderheiten, Menschenrechtsverteidigern und jugendlichen Straftätern (HRC 8.2.2019). Obwohl unter Folter erzwungene Geständnisse vor Gericht laut Verfassung unzulässig sind, legt das Strafgesetzbuch fest, dass ein Geständnis allein dazu verwendet werden kann, eine Verurteilung zu begründen, unabhängig von anderen verfügbaren Beweisen (HRC 8.2.2019; vgl. HRC 28.1.2020). Es besteht eine starke institutionelle Erwartung, Geständnisse zu erzielen. Dies wiederum ist einem fairen Verfahren nicht dienlich (HRC 8.2.2019; vgl. HRC 28.1.2020). Ehemalige Gefangene berichten, dass sie während der Haft geschlagen und gefoltert wurden, bis sie Verbrechen gestanden haben, die von Vernehmungsbeamten diktiert wurden (FH 3.3.2021).
Allgemeine Menschenrechtslage
Iran zählt zu den Ländern mit einer anhaltend beunruhigenden Lage der Menschenrechte, die jedoch besser ist als in der Mehrzahl der Nachbarländer (ÖB Teheran 10.2020). Der iranische Staat verstößt regelmäßig gegen die Menschenrechte nach westlicher Definition, jedoch auch immer wieder gegen die islamisch definierten (GIZ 12.2020a). Zu den wichtigsten Menschenrechtsfragen gehören: Hinrichtungen für Verbrechen, die nicht dem internationalen Rechtsstandard der 'schwersten Verbrechen' entsprechen und ohne einen fairen Prozess; rechtswidrige oder willkürliche Tötungen, Verschwindenlassen und Folter durch Regierungsbeamte; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; systematische Inhaftierungen, einschließlich Hunderter von politischen Gefangenen (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 7.4.2021, FH 3.3.2021, HRW 13.1.2021). Weiters gibt es unrechtmäßige Eingriffe in die Privatsphäre; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz, insbesondere der Revolutionsgerichte; Beschränkungen der freien Meinungsäußerung, der Presse und des Internets - einschließlich Gewalt, Androhung von Gewalt sowie ungerechtfertigter Festnahmen und Strafverfolgung gegen Journalisten, Zensur, Blockieren von Webseiten und Kriminalisierung von Verleumdungen; erhebliche Eingriffe in das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit; Einschränkungen der Religionsfreiheit; Beschränkungen der politischen Beteiligung durch willkürliche Kandidatenprüfung; weit verbreitete Korruption auf allen Regierungsebenen; rechtswidrige Rekrutierung von Kindersoldaten durch Regierungsakteure zur Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien; Menschenhandel; Gewalt gegen ethnische Minderheiten; strenge staatliche Beschränkungen der Rechte von Frauen und Minderheiten; Kriminalisierung von sexuellen Minderheiten sowie Verbrechen, die Gewalt oder Gewaltdrohungen gegen Angehörige sexueller Minderheiten beinhalten; und schließlich das Verbot unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 3.3.2021, HRW 13.1.2021). Die Regierung unternimmt kaum Schritte, um verantwortliche Beamte zur Rechenschaft zu ziehen. Viele dieser Missstände sind im Rahmen der Regierungspolitik zu verantworten. Straffreiheit ist auf allen Ebenen der Regierung und der Sicherheitskräfte weit verbreitet (USDOS 30.3.2021).
Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die islamischen Grundsätze infrage stellt. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weit gefasste Straftatbestände (vgl. Art. 279 bis 288 iStGB) sowie Staatsschutzdelikte (insbesondere Art. 1 bis 18 des 5. Buches des iStGB). Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, laufen Gefahr, der Spionage beschuldigt zu werden (AA 26.2.2020). Die Tätigkeit als Frauen- und Menschenrechtsaktivist wird regelmäßig strafrechtlich verfolgt (Vorwurf der Propaganda gegen das Regime o.ä.) und hat oft die Verurteilung zu Haft- oder auch Körperstrafen zur Folge (ÖB Teheran 10.2020). Auch Umweltaktivisten müssen mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen (BS 2020; vgl. ÖB Teheran 10.2020).
Meinungs- und Pressefreiheit, Internet
Die iranische Verfassung garantiert zwar Meinungs- und Pressefreiheit, aber nur insoweit Aussagen nicht 'schädlich' für die grundlegenden Prinzipien des Islams oder die 'Rechte der Öffentlichkeit' sind (ÖB Teheran 10.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). In der Praxis sehen sich Meinungs- und Pressefreiheit mit starken Einschränkungen konfrontiert (AA 26.2.2020; vgl. BS 2020, AI 7.4.2021, USDOS 30.3.2021). Die Justiz- und Sicherheitsbehörden verwenden weiterhin vage definierte Bestimmungen des Strafgesetzbuchs, um Aktivisten, Dissidenten und Menschenrechtsverteidiger wegen freier Meinungsäußerung zu verhaften und strafrechtlich zu verfolgen (HRW 13.1.2021), bzw. nutzen Behörden Gesetze, um Personen, die die Regierung direkt kritisieren oder menschenrechtliche Probleme ansprechen, einzuschüchtern und strafrechtlich zu verfolgen. Die Behörden dulden es nicht, das Regierungssystem, den Obersten Führer oder die Staatsreligion öffentlich zu kritisieren. Sicherheitsbehörden bestrafen jene, die diese Einschränkungen verletzen oder den Präsidenten, das Kabinett oder das Parlament öffentlich kritisieren (USDOS 30.3.2021).
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition
In den letzten drei Jahren haben die iranischen Behörden auf wiederholte und weit verbreitete Proteste im ganzen Land mit übermäßiger und tödlicher Gewalt und willkürlichen Verhaftungen von Tausenden von Demonstranten reagiert (HRW 13.1.2021). Nach den regierungskritischen Protesten im November und Dezember 2019, die aufgrund einer Benzinpreiserhöhung ausgelöst wurden (DW 29.12.2019; vgl. DIS 7.2.2020), wurden Tausende Personen festgenommen (DIS 7.2.2020). Zudem wurden laut inoffiziellen Zahlen zwischen 300 und 1.500 Demonstranten getötet (DW 29.12.2019; vgl. AI 7.4.2021), unter ihnen 180 'Rädelsführer', denen die Todesstrafe droht. Die iranische Regierung weist diese Zahlen als völlig übertrieben zurück (DW 29.12.2019). Mit einer zeitweisen Internetblockade sorgte Teheran damals dafür, dass kaum Informationen, Bilder und Videos der Proteste verbreitet werden konnten (DW 29.12.2019; vgl. HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021).
Sicherheitskräfte setzten exzessive und rechtswidrige tödliche Gewalt gegen massive Proteste im ganzen Land ein, insbesondere gegen Demonstranten, die Straßen blockierten oder in einigen Fällen Steine??warfen und versuchten, öffentliche Gebäude zu übernehmen (HRW 13.1.2021). Auch mehr als ein Jahr nach den Protesten schüchtern die Behörden die Familien der Opfer weiter ein und behindern die Bemühungen, die Zahl der getöteten Demonstranten zu klären (FH 3.3.2021).
Vereinigungen auf Arbeitnehmerseite werden misstrauisch beobachtet. Es gibt keine Betätigungsmöglichkeit für unabhängige Gewerkschaften (ÖB Teheran 10.2020; vgl. FH 3.3.2021). Gewerkschaftliche Aktivitäten werden zum Teil unter dem Vorwurf der 'Propaganda gegen das Regime' und 'Handlungen gegen die nationale Sicherheit' verfolgt. Das Streikrecht hingegen ist prinzipiell gewährleistet (AA 26.2.2020), jedoch können streikende Arbeiter von Entlassung und Verhaftung bedroht sein. Mehrere inhaftierte Arbeiteraktivisten wurden 2019 zu Haftstrafen von 14 Jahren oder mehr verurteilt (FH 3.3.2021). Erlaubt sind nur 'Islamische Arbeitsräte' unter der Aufsicht des 'Haus der Arbeiter' (keine unabhängige Institution). Mitglieder und Gründer unabhängiger Gewerkschaftsgruppierungen wie etwa die Teheraner Busfahrergewerkschaft, die Zuckerrohrarbeitergewerkschaft oder die Lehrergewerkschaft wurden in den letzten Jahren zunehmend häufig verhaftet, gefoltert und bestraft. Proteste gegen zu geringe oder gar nicht ausbezahlte Löhne mehren sich seit Anfang 2018, auch dabei kommt es immer wieder zu Festnahmen. Seit Anfang 2018 sind auch Umweltaktivisten von Verfolgung bedroht. Eine Gruppe von Umweltaktivisten wurde aufgrund von Spionageverdacht verhaftet, unter dem Vorwurf der mitunter 'unbewussten' Spionage im Umfeld von atomaren Einrichtungen. Inzwischen sind einige von diesen Aktivisten zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Und dies obwohl selbst die Regierung und auch der iranische Geheimdienst in den vergangenen zwei Jahren der Meinung waren, dass der Vorwurf der Spionage auf die verhafteten Aktivisten nicht zutreffe. Aber sowohl die Geheimdienstabteilung der Revolutionsgarden als auch die iranische Judikative bestanden darauf, dass diese Umweltaktivisten Spionage betreiben wollten (ÖB Teheran 10.2020).
In Iran gibt es keine politischen Parteien mit vergleichbaren Strukturen westlich-demokratischer Prägung (ÖB Teheran 10.2020; vgl. GIZ 12.2020a). Auch im Parlament existiert keine, mit europäischen Demokratien vergleichbare, in festen Fraktionen organisierte parlamentarische Opposition. Sowohl bei Präsidenten- als auch bei Parlamentswahlen nimmt der Wächterrat die Auswahl der Kandidaten vor. Kandidaten werden unter fadenscheinigen Gründen aussortiert – dabei wurden auch schon ehemalige Präsidenten als 'nicht geeignet' ausgeschlossen. Der Spielraum für die außerparlamentarische Opposition wird vor allem durch einen Überwachungsstaat eingeschränkt, was die Vernetzung oppositioneller Gruppen extrem riskant macht (Einschränkung des Versammlungsrechts, Telefon- und Internetüberwachung, Spitzelwesen, Omnipräsenz von Basij-Vertretern u.a. in Schulen, Universitäten sowie Basij-Sympathisanten im öffentlichen Raum, etc.) (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AA 26.2.2020).
Die Verfassung lässt die Gründung politischer Parteien, von Berufsverbänden oder religiösen Organisationen so lange zu, als sie nicht gegen islamische Prinzipien, die nationale Einheit oder die Souveränität des Staates verstoßen und nicht den Islam als Grundlage des Regierungssystems in Frage stellen. Hinzu kommen immer wieder verhängte drakonische Strafen aufgrund diffuser Straftatbestände ('regimefeindliche Propaganda', 'Beleidigung des Obersten Führers' etc.). Darüber hinaus werden Angehörige der außerparlamentarischen Opposition immer wieder unter anderen Vorwürfen festgenommen (ÖB Teheran 10.2020). Viele Anhänger der Oppositionsbewegungen wurden also verhaftet, haben Iran verlassen oder sind nicht mehr politisch aktiv (AA 26.2.2020). Die Oppositionsführer Mehdi Karroubi und Mir Hossein Mussawi sowie dessen Ehefrau Zahra Rahnavard stehen noch immer ohne Anklage oder Gerichtsverfahren unter Hausarrest, der 2011 gegen sie verhängt worden war (AI 7.4.2021; vgl. BS 2020, ÖB Teheran 10.2020, AA 26.2.2020).
An sich gäbe es ein breites Spektrum an Ideologien, die die Islamische Republik ablehnen, angefangen von den Nationalisten bis hin zu Monarchisten und Kommunisten. Eine markante Führungspersönlichkeit fehlt bei sämtlichen oppositionellen Gruppierungen (ÖB Teheran 10.2020). Ohne entsprechende Führung und angesichts umfassender Überwachung der Kommunikationskanäle spielen die verbleibenden Oppositionellen kaum eine Rolle. Das Fehlen oppositioneller Führungspersonen zeigte sich auch bei den Unruhen zum Jahreswechsel 2017/18 und den Protesten im November 2019 (AA 26.2.2020).
Rückkehr
Allein der Umstand, dass eine Person einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus (AA 26.2.2020). In der iranischen Gesetzgebung gibt es kein Gesetz, das die Beantragung von Asyl im Ausland strafbar macht (Cedoca 30.3.2020). In der Regel dürften die Umstände der Wiedereinreise den iranischen Behörden gar nicht bekannt werden. Trotzdem kann es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt kommen. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert wurden (AA 26.2.2020). Allerdings gibt es zum Thema Rückkehrer nach wie vor kein systematisches Monitoring, das allgemeine Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulassen würde. In Einzelfällen konnte im Falle von Rückkehrern aus Deutschland festgestellt werden, dass diese bei niederschwelligem Verhalten und Abstandnahme von politischen Aktivitäten, mit Ausnahme von Einvernahmen durch die iranischen Behörden unmittelbar nach der Einreise, keine Repressalien zu gewärtigen hatten. Allerdings ist davon auszugehen, dass Rückkehrer keinen aktiven Botschaftskontakt pflegen, der ein seriöses Monitoring ihrer Situation zulassen würde. Auch IOM Iran, die in Iran Unterstützungsleistungen für freiwillige Rückkehrer im Rahmen des ERIN-Programms anbietet, unternimmt ein Monitoring nur hinsichtlich der wirtschaftlichen Wiedereingliederung der Rückkehrer, nicht jedoch im Hinblick auf die ursprünglichen Fluchtgründe und die Erfahrungen mit Behörden nach ihrer Rückkehr. Australien zahlt Rückkehrhilfe an eine bislang überschaubare Gruppe an freiwilligen Rückkehrern in Teheran in Euro aus (ÖB Teheran 10.2020).
Personen, die das Land illegal verlassen und sonst keine weiteren Straftaten begangen haben, können von den iranischen Auslandsvertretungen ein Passersatzpapier bekommen und nach Iran zurückkehren. Eine Einreise ist lediglich mit einem gültigen iranischen Reisepass möglich. Die iranischen Auslandsvertretungen sind angewiesen, diesen jedem iranischen Staatsangehörigen auf Antrag auszustellen (AA 26.2.2020).
Iranische Flüchtlinge im Nordirak können offiziell nach Iran zurückkehren. Dafür werden iranische Identitätsdokumente benötigt. Wenn Personen diese Dokumente nicht besitzen, können sie diese beantragen. Für die Rückkehr nach Iran braucht man eine offizielle Erlaubnis des iranischen Staates. Die Rückkehr wird mit den Behörden von Fall zu Fall verhandelt. Iranische Rückkehrer, die nicht aktiv kurdische Oppositionsparteien, wie beispielsweise die KDPI oder Komala unterstützen, werden nicht direkt von den Behörden ins Visier genommen werden. Sie können aber durchaus zu ihrem Leben im Nordirak befragt werden. Der Fall kann aber anders aussehen, wenn Rückkehrer Waffen transportiert haben, oder politisch aktiv sind und deshalb Strafverfolgung in Iran riskieren. Die Rückkehr aus einem der Camps in Nordirak kann als Zugehörigkeit zu einer der kurdischen Oppositionsparteien gedeutet werden und deshalb problematisch sein (DIS/DRC 23.2.2018).
In Bezug auf Nachkommen von politisch aktiven Personen wird berichtet, dass es solche Rückkehrer gibt, aber keine Statistiken dazu vorhanden sind. Es ist auch durchaus üblich, dass Personen die Grenze zwischen Irak und Iran überqueren. Auch illegale Grenzübertritte sind weit verbreitet. Nachkommen von politisch aktiven Personen riskieren nicht notwendigerweise Strafverfolgung, wenn sie nach Iran zurückkehren. Ob solch ein Rückkehrer Strafverfolgung befürchten muss, würde von den Profilen der Eltern und wie bekannt diese waren, abhängen. Befragungen durch Behörden sind natürlich möglich, aber wenn sie beweisen können, dass sie nicht politisch aktiv sind und nicht in bewaffneten Aktivitäten involviert waren, wird das Risiko für Repressionen eher gering ausfallen (DIS/DRC 23.2.2018).
Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regime-kritisch äußern und dann nach Iran zurückkehren, können von Repressionen betroffen sein (AA 26.2.2020). Wenn Kurden im Ausland politisch aktiv sind, beispielsweise durch Kritik an der politischen Freiheit in Iran in einem Blog oder anderen Online-Medien, oder wenn eine Person Informationen an die ausländische Presse weitergibt, kann das bei einer Rückreise eine gewisse Bedeutung haben. Die Schwere des Problems für solche Personen hängt aber vom Inhalt und Ausmaß der Aktivitäten im Ausland und auch vom persönlichen Aktivismus in Iran ab (DIS/DRC 23.2.2018).
Das Verbot der Doppelbestrafung gilt nur stark eingeschränkt. Nach IStGB wird jeder Iraner oder Ausländer, der bestimmte Straftaten im Ausland begangen hat und in Iran festgenommen wird, nach den jeweils geltenden iranischen Gesetzen bestraft. Bei der Verhängung von islamischen Strafen haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen. In jüngster Vergangenheit sind keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 26.2.2020).
Ethnische Minderheiten
Der Vielvölkerstaat Iran verfolgt gegenüber ethnischen Minderheiten grundsätzlich eine auf Ausgleich bedachte Politik, v.a. die Aseri sind in Staat und Wirtschaft sehr gut integriert (AA 26.2.2020). Allerdings ist die Infrastruktur von Regionen, wo Minderheiten wohnen, zum Teil stark vernachlässigt (BMI 2015; vgl. AA 26.2.2020, FH 3.3.2021, AI 7.4.2021). Es sind keine Rechtsverletzungen gegen Mitglieder ethnischer Minderheiten aus rein ethnischen Gesichtspunkten bekannt.
Staatliche Maßnahmen betreffen allerdings unverhältnismäßig oft Angehörige ethnischer Minderheiten wie Kurden, Ahwazi-Araber, Aseris und Belutschen. Unabhängig von der Art der vorgeworfenen strafbaren Handlung werden sie öfter zum Tode verurteilt, gefoltert und verbringen mehr Zeit in Untersuchungshaft (ÖB Teheran 10.2020). Zudem wird von Diskriminierungen im Alltag (rechtlich, wirtschaftlich und/oder kulturell, z.B. Zugang zu Wohnraum, Wasser und Bildung) u.a. gegen Angehörige der arabischen Gemeinschaft der Ahwazi, Aseris, Belutschen, Kurden und Turkmenen berichtet. Der Gebrauch ihrer jeweiligen Muttersprache in Behörden und Schulen ist weiterhin verboten. Menschen, die sich für Minderheitenrechte einsetzen, werden mitunter bedroht, festgenommen und bestraft (ÖB Teheran 10.2020; vgl. FH 3.3.2021, AI 7.4.2021).
Araber
Ahwazi-Araber (nach Schätzungen rund zwei Millionen) sind teilweise sunnitischen Glaubens und bewohnen die an Erdölvorkommen reiche Grenzregion zu Irak und Kuwait. Mangels Unterricht in der Muttersprache sind viele Araber Analphabeten, und es herrscht unter der arabischen Minderheit eine hohe Armutsrate (ÖB Teheran 10.2020). Von Arabern bewohnte Gebiete sind oft nicht an die Wasser- und Elektrizitätsversorgung angeschlossen (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Die arabische Minderheit in Iran fühlt sich Diskriminierungen ausgesetzt. Sie leidet unter Umweltproblemen (Verschmutzung, Staubstürme) sowie wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und macht eine Vernachlässigung ihres Siedlungsgebietes (v.a. Provinz Khuzestan) durch die Zentralregierung dafür verantwortlich. Menschenrechtsorganisationen sehen Benachteiligungen im beruflichen und schulischen Umfeld, die zu wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Ausgrenzung der arabischen Minderheit führen (AA 26.2.2020). Arabische Ahwazi beklagen zudem, dass die Behörden Ausdrucksformen der arabischen Kultur, wie traditionelle Kleidung oder Dichtkunst, unterdrücken (AI 7.4.2021).
Die Regierung schränkt kulturelle und politische Aktivitäten der Araber ein (HRW 13.1.2021), jedoch wurden einige lokale Clanführer in Khuzestan und anderen Gegenden, wo Ahwazi-Araber leben, in lokale Räte gewählt, wo sie auch sehr unverblümt sprechen. Ins Visier der Behörden können Ahwazi-Araber geraten, wenn sie Journalisten oder politische Aktivisten sind, die sich für Minderheitenrechte einsetzen (DIS/DRC 23.2.2018). Infolge dieser Diskriminierung setzen sich verschiedene separatistische Gruppierungen auch gewaltsam für eine Abspaltung ein, u.a. die von der Regierung als terroristische Organisation geführte Arab Struggle Movement for the Liberation of Ahwaz (ASMLA) in der Region Khuzestan (AA 26.2.2020).
Es gibt Berichte über die Vertreibung von Arabern von ihren Grundstücken aufgrund staatlicher Entwicklungsprojekte. Obwohl nicht erwiesen ist, dass Araber aufgrund ihrer Ethnizität verfolgt werden, ist zu beobachten, dass sie häufig wegen unklar definierten Anschuldigungen (etwa wegen 'mohareb' und 'mofsid-fil-arz') zu sehr hohen Strafen verurteilt werden. Nach dem terroristischen Angriff in Ahwaz im September 2018 mit 30 Toten wurden offiziell 22 Personen aus dem Umfeld der Untergrundorganisation 'Al-Ahvaziya' festgenommen, die Opposition hat von bis zu 800 Festnahmen berichtet. Sowohl die mangelnde Strom- und Wasserversorgung, als auch die Aneignung der Grundstücke der Araber durch staatliche und halb-staatliche Institutionen haben im August 2020 zu größeren Protesten geführt. Die Regierung hat durch dringende Maßnahmen bei der Wasserversorgung als auch durch Rücknahme der Forderungen vorübergehend die Proteste in dieser Region beruhigen können. Mit weiterer Repression gegen arabische Oppositionsgruppen ist zu rechnen (ÖB Teheran 10.2020).
[Beweisquelle: BFA Länderinformationsblatt, Version 3, 01.07.2021]
Informationen zu einer Demonstration mit Todesopfern in Ahwaz am 26.1.1384
Zu Vorfällen im Jahr 2015 berichtet HRW im April 2015 zudem, dass die iranischen Sicherheits- und Geheimdienste eine Reihe von Ahwazi-AraberInnen, darunter mehrere Kinder, in der Provinz Khuzistan festgenommen hätten. Laut Aktivisten und Familienangehörigen seien viele Festnahmen im Vorfeld des zehnten Jahrestags von Massenprotesten gegen die Regierung in der Provinz im April 2005 durchgeführt worden. Bewaffnete Männer, die den Sicherheits- und Geheimdiensten angehören würden, hätten die Festnahmen ohne Haftbefehl und meist nach Hausdurchsuchungen bei AktivistInnen der Ahwazi-Gemeinschaft vorgenommen.
Menschenrechtsorganisationen hätten Besorgnis darüber gezeigt, dass Personen möglicherweise nur aufgrund ihrer angeblichen politischen Meinungen, der friedlichen Kundgebung anderer Meinungen, oder der offenen Zurschaustellung ihrer arabischen Identität und Kultur festgenommen worden seien. Ahwazi-AktivistInnen außerhalb des Iran hätten HRW mitgeteilt, dass die iranischen Sicherheitsbehörden 78 bis 100 Personen seit März 2015 in Ahwaz-Stadt und den umliegenden Städten und Dörfern nach überwiegend friedlichen Protesten festgenommen hätten. Darunter seien Personen, die unter Verdacht stünden, führende Rollen bei der Mobilisierung zu örtlichen Demonstrationen gespielt zu haben. Die iranischen Behörden hätten weder einen Grund für die Verhaftungen genannt, noch hätten sie den Zustand beziehungsweise Aufenthaltsort der Verhafteten preisgegeben, wodurch diese laut Aussage von Menschenrechtsorganisationen größere Gefahr laufen würden, Opfer von Folter oder Misshandlungen zu werden. (HRW, 29. April 2015; siehe auch AI, 28. April 2015)
[Beweisquelle: ACCORD, Anfragebeantwortung zum Iran: Informationen zu einer Demonstration mit Todesopfern in Ahwaz am 26.1.1384 (nach iranischem Kalender) [a-11502-1], 25. Februar 2021]
Einschätzung von DFAT zu Arabern
Nach Einschätzung von DFAT ziehen Araber, die sich politisch betätigen, stärker als andere ethnische Minderheiten wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich, insbesondere in den grenznahen Provinzen. Diejenigen, die für mehr Rechte, Autonomie und/oder Selbstbestimmung eintreten, sind einem hohen Risiko ausgesetzt, Polizeischikanen, Überwachung, Inhaftierung und Misshandlungen ausgesetzt zu sein
[Beweisquelle: DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (14.04.2020): DFAT Country Information Report Iran, Seite 24, https://www.dfat.gov.au/sites/default/files/country-information-report-iran.pdf]
Provinz Khuzestan
Verhaftungen nach Protesten in Khuzestan
Im Nachgang der fast dreiwöchigen Unruhen in der Provinz Khuzestan (vgl. BN v. 19.07.21 u. 26.07.21) melden iranische Auslandsmedien weitere Verhaftungen. Unter Verweis auf die Teheraner Tageszeitung Hamshahri wurde von ca. 300 Verhaftungen allein in Susangerd, einer Stadt an der irakischen Grenze, berichtet. Am 04.08.21 meldeten einige Auslandsmedien unter Berufung auf den Justizchef von Khuzestan die Freilassung einer Mehrheit der Verhafteten. Gleichzeitig wurden jedoch Gerichtsverfahren gegen neun Zivilaktivistinnen und -aktivisten, darunter auch Narges Mohammadi, auf den Weg gebracht. Die neun Personen hatten am 20.07.21 vor dem Innenministerium gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden in Khuzestan demonstriert und damit ihre Solidarität mit der Bevölkerung in der Provinz zum Ausdruck gebracht.
Bekannte Aktivistin in Mashhad festgenommen
Am 03.08.21 meldeten iranische Auslandsmedien die Festnahme der bekannten Aktivistin Fatemeh Sepehri in der ostiranischen Stadt Mashhad. Die Festnahme habe im Kontext einer Demonstration zur Solidaritätsbekundung mit den Protestierenden in Khuzestan stattgefunden. Bei der Festnahme sei es zur Anwendung von Gewalt gekommen. Nach ihrer Verhaftung sei die Aktivistin zu einem Verhör in eine der Polizeistationen der Stadt gebracht worden. Sepehri engagiert sich für die Aktion „Nein zur Islamischen Republik“ und fordert offen den Sturz des politischen Systems.
[Beweisquelle: BAMF Briefing Notes Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration 09.08.2021]
Eskalation und Ausweitung der Unruhen in Khuzestan
Die am 15.07.21 in der unter Wasserknappheit leidenden Provinz Khuzestan begonnenen Proteste haben sich von den arabisch dominierten Gebieten an der irakischen Grenze im Westen auf andere Regionen insbesondere im Osten der Provinz ausgeweitet. Neben Städten wie Ahvaz, Shadegan, Shush und Susangerd sei es nach Berichten iranischer Auslandsmedien nun auch im überwiegend von Bakhtiari bewohnten Izeh und in Behbahan zu Unruhen gekommen. Insgesamt kam es in über einem Dutzend Städte der Provinz zu Ausschreitungen. Punktuelle Ausschreitungen habe es zudem in den Nachbarprovinzen gegeben (z.B. in Khorramabad und Aligudarz, Lorestan). Seit dem 24.07.21 sei es auch in anderen Städten in den mehrheitlich von ethnischen Minderheiten bewohnten Gebieten zu Protesten gekommen. In der Stadt Tabriz habe es zahlreiche Verhaftungen gegeben. In Khuzestan fänden die Proteste aufgrund der hohen Temperaturen mehrheitlich in den Nächten statt. Die Protestierenden riefen Slogans in den Sprachen Persisch und Arabisch wie „Nieder mit Khamenei, Tod dem Diktator“ (Pers. Margbar Khamenei, marg bar diktator), „Khuzestan ist durstig“ (Pers. Khuzestan teshneh ast) oder „Das Volk fordert den Sturz des Systems“ (Arab. al-sha‘b yurid isqat al-nizam). Die Sicherheitskräfte gingen mit Schusswaffen und Tränengas gegen die Protestierenden vor. Laut Amnesty International (ai) sollen bis zum 23.07.21 insgesamt acht Personen durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet worden sein. Bereits am 21.07.21 bestätigten die Nachrichtenagentur IRNA und andere Medien den Tod eines Polizisten in der Hafenstadt Mahshahr. Grund für die Zusammenstöße sei der Wassermangel im Gefolge von verfehlter Umwelt- und Agrarpolitikpolitik (Bau von Staudämmen, Umleitung von Flüssen in die zentralen Wüstengebiete, Anbau bewässerungsintensiver Kulturen wie Zuckerrohr) und einer Jahrhundertdürre. Insgesamt hätten mehr als 700 Dörfer in Khuzestan keine Trinkwasserreserven mehr.
[Beweisquelle: BAMF Briefing Notes Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration 26.07.2021]
Reisepässe
Anträge auf Ausstellung eines Reisepasses können bei den Polizeistationen gestellt werden. Neue Reisepässe werden per Post mit Zustellnachweis verschickt und kommen 10-15 Tage nach dem Datum der Antragstellung an.
[Beweisquelle: DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (14.04.2020): DFAT Country Information Report Iran, Seite 72, https://www.dfat.gov.au/sites/default/files/country-information-report-iran.pdf]
Bei jeder Ausstellung eines Reisepasses wird neben den regulären Sicherheitsbehörden auch der Geheimdienst eingeschaltet.
[Beweisquelle: BFA Staatendokumentation, Länderinformationsblatt, 31.03.2016 mit Verweis auf Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, 09.12.2015]
2. Beweiswürdigung:
Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den Verwaltungsverfahrensakt des BFA, den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes und das Ergebnis der durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt.
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen im Iran (1.1)
Die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, die er im Zuge des Verfahrens vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, waren auf Grund seiner Orts- und Sprachkenntnisse nicht zu bezweifeln. Die Identität wurde bereits vom BFA im angefochtenen Bescheid auf Grundlage der vorgelegten und kriminaltechnisch untersuchten Identitätsdokumente (Geburtsurkunde, Wehrdienstbuch, nat. Identitätsausweis) festgestellt.
Seine Ausführungen zu seinem Glauben, seiner Schulbildung, seiner beruflichen Tätigkeit, seinen Familienangehörigen im Iran, sowie zu seinem Aufenthalt in seinem Heimatort waren kohärent, schlüssig und widerspruchsfrei, sodass auch dieses Vorbringen als glaubhaft erachtet werden konnte.
Die Feststellungen zu seiner Ausreise aus dem Iran, seiner Reiseroute und seiner Einreise nach Österreich beruhen auf seinen Angaben im Verfahren, welche insofern stringent waren und keine Anhaltspunkte für die Annahme boten, dass der Beschwerdeführer diesbezüglich falsche Angaben gemacht hätte.
2.2 Zu seiner Lebenssituation in Österreich (1.2)
Seine Angaben zu seiner Einreise und seinem Aufenthalt in Österreich, zu seiner aktuellen Lebenssituation, seiner Beschäftigung, seinen sonstigen Aktivitäten und dem Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung erwiesen sich als widerspruchsfrei, sie wurden durch die von ihm vorgelegten Bescheinigungen zum Nachweis seiner bereits gesetzten Integrationsschritte belegt und stehen auch im Einklang mit den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszügen aus den behördlichen Datenregistern. Der Beschwerdeführer konnte sich in der mündlichen Verhandlung in deutscher Sprache mit einfachen Worten verständlich machen. Die strafrechtlichen Verurteilungen ergeben sich aus dem Strafregisterauszug der Republik Österreich sowie aus dem im Akt enthaltenen Protokolls- und Urteilsvermerk. Die Feststellungen zum Familienleben mit seiner Lebensgefährtin, dem gemeinsamen Sohn, der sich bei Pflegeltern befindet und zu welchem nur beschränkter Kontakt besteht sowie zum erwarteten weiteren gemeinsamen Kind beruhen auf den diesbezüglich widerspruchsfreien und schlüssigen Angaben des Beschwerdeführers in Anwesenheit seiner Lebensgefährtin im Zuge der Verhandlung und der vorgelegten Geburtsurkunde. Das Bundesverwaltungsgericht wurde bisher auch von keiner Behörde, keiner sonstigen Einrichtung und keinem Gericht davon in Kenntnis gesetzt, dass durch den Beschwerdeführer eine Gefährdung des Kindeswohls seines Sohnes gegeben wäre, sodass auch nicht vom Vorliegen einer solchen Gefährdung auszugehen ist.
2.3 Zum Gesundheitszustand (oben 1.3)
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand beruhen auf seinen diesbezüglich schlüssigen und Angaben im Verfahren sowie auf den vorgelegten medizinischen Befunden.
2.4 Zur Begründung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz und zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit (oben 1.4 und 1.5)
2.4.1 Die Ausführungen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen beruhen auf seinen protokollierten Aussagen im Zuge der Einvernahmen vor dem BFA sowie im Rahmen der mündlichen Verhandlung und auf seinen schriftlichen Eingaben.
2.4.2 Das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach der Beschwerdeführer für die Partei Al Tadhamun aktiv gewesen sei, er Broschüren verteilt habe, gegen ihn ein Haftbefehl erlassen worden sei und er mit einem Gerichtsurteil zu 16 Jahren Haft verurteilt worden sei, ist aus den folgenden Gründen nicht glaubhaft:
Der Beschwerdeführer brachte vor, er sei für die Al Tadhamun aktiv gewesen und habe für diese Broschüren über die Unterdrückung der Ahwazi verteilt. Der Beschwerdeführer gab dazu selbst an, dass er von der Existenz dieser Partei während seiner Zeit im Iran nichts gewusst habe (NS EV 16.01.2017 S 8). Er verfügt auch kein Wissen über diese Partei. (NS EV 16.01.2017 S 7) Vor diesem Hintergrund ist es auszuschließen, dass der Beschwerdeführer tatsächlich ein Mitglied jener Organisation ist, wie er dies beim BFA angegeben hatte (NS EV 16.01.2017 S 7), da er davon sonst Kenntnis haben müsste. Auch die Vorgangsweise, wonach jene Organisation, die er selbst nicht gekannt hat, ihn gesucht und über Facebook kontaktiert hätte, um ihm von sich aus eine Bestätigung über seine Aktivitäten ausgestellt hätte (NS EV 01.02.2017 S 6), erweist sich als unschlüssiges und irrationales Vorgehen und deshalb als unglaubhaft.
Der Beschwerdeführer brachte des Weiteren vor, er habe über ein Jahr einmal in der Woche von einem Mann namens XXXX Broschüren über die Geschichte und aktuelle Unterdrückung der Ahwazi erhalten und diese in Häusern verteilt. Er gab auch an, dass sein Bruder XXXX sechs Monate gemeinsam mit dem Beschwerdeführer Broschüren verteilt hat. Andererseits gab er an, dass er nicht wisse, weshalb sein Bruder nach sechs Monaten mi dem Verteilen aufgehört hätte und er nie mit jenem darüber gesprochen habe (NS EV 16.01.2017 S 11), was jedoch nicht nachvollziehbar ist, zumal jener Bruder den Beschwerdeführer sogar extra mit dem Beschwerdeführer aus dem Iran ausgereist sein soll, da der Beschwerdeführer zu jenem Zeitpunkt krank gewesen sei (NS EV 16.01.2017 S 8), woraus auf ein enges und vertrautes Naheverhältnis zu schließen ist. Dies spricht gegen die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers über das Verteilen von Broschüren.
Nicht glaubhaft ist auch, das gegen den Beschwerdeführer ein Haftbefehl erlassen, er von den Sicherheitskräften abgeholt und über ihn von einem Gericht eine Haftstrafe von 16 Jahren verhängt worden sein soll. Bereits das BFA verwies darauf, dass auf dem Haftbefehl nicht die Wohnadresse des Beschwerdeführers, sondern eine davon abweichende Adresse angeführt ist (NS 01.02.2017 S 5). Der Beschwerdeführer wurde auch aufgefordert, die Originaldokumente vorzulegen, was er jedoch nicht getan hat und wodurch die Dokumente auch nicht weiter überprüft werden konnten. Der Beschwerdeführer erstattete auch kein konsistentes Vorbringen dazu, wie er zu dem Gerichtsurteil gekommen wäre und auch nicht, wie seine Festnahme erfolgt ist. So gab er zunächst an, dass ihm seine Mutter im Spital nur gesagt habe, dass er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden sei (NS EV 16.01.2017 S 17); in weiterer Folge gab er dazu abweichend an, dass ihm jener Geheimdienstmann die Unterlagen im Krankenhaus übergeben habe, der vor seiner Tür gestanden sei. (NS EV 01.02.2017 S 4) Schließlich spricht gegen eine tatsächliche Verurteilung auch, dass dem Beschwerdeführer noch am XXXX ein Reisepass ausgestellt wurde, somit zu einem Zeitpunkt, zu dem das Urteil bereits ergangen und der Beschwerdeführer bereits flüchtig gewesen sein soll (VS 29.07.2021 S 14). Zwar trifft es nach den Länderfeststellungen zu, dass im Iran Reisepässe auch per Post verschickt werden, doch ergibt sich aus diesen ebenso zum einen, dass die Reisepässe nach 10-15 Tagen verschickt werden, was im Falle des Beschwerdeführers auf eine Antragstellung im September 2015 und somit nach der Erlassung des Urteils bedeuten würde, und zum anderen, dass bei jeder Ausstellung eines Reisepasses neben den regulären Sicherheitsbehörden auch der Geheimdienst eingeschaltet wird. Wäre der Beschwerdeführer tatsächlich bereits verurteilt und vom Geheimdienst gesucht, wäre ihm daher mit Sicherheit nicht noch am XXXX ein Reisepass ausgestellt und zugeschickt worden.
Auch die Festnahme schilderte der Beschwerdeführer in relevanten Punkten im Verlauf des Verfahrens unterschiedlich, sodass auch diese nicht glaubhaft ist. So gab er vor dem BFA an, dass er in seiner eigenen Wohnung im Haus seiner Familie abgeholt worden sein soll (NS EV 16.01.2017 S 14, während er in der mündlichen Verhandlung vorbrachte, er sei in einem anderen Haus versteckt gewesen. (VS 29.07.20217 S 13/14) Selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass inzwischen mehrere Jahre vergangen sind und daher vom Beschwerdeführer jedenfalls keine vollständigen und völlig unverfälschten Erinnerungen und genaueren Datumsangaben mehr erwartet werden könne, wäre zu erwarten gewesen, dass der Beschwerdeführer auch unter diesen Umständen die laut seinen Angaben zentralen Ereignisse für seine Ausreise wie den von ihm genannten Festnahme durch den Geheimdienst auch über einen längeren Zeitraum durchgehend zumindest annähernd gleichbleibend vorbringen kann. Dazu war der Beschwerdeführer nicht in der Lage, weshalb dies gegen die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens über die Festnahme spricht.
2.4.3 Allerdings kann ein asylerhebliches glaubhaftes Vorbringen auch trotz eines zum Teil oder neben einem zum Teil unglaubhaften Vorbringen bestehen (vgl bspw VwGH, 02.09.2015, Ra 2015/19/0091: hier zu einer glaubhaften Konversion in Österreich trotz unglaubhaftem Vorbringen zum ursprünglichen Ausreisegrund).
Die Feststellung, wonach es glaubhaft ist, dass der Beschwerdeführer als Angehöriger der arabischen Minderheit der Ahwazi im Iran an Protesten und Demonstrationen gegen die iranische Regierung aufgrund der von dieser Minderheit wahrgenommenen Benachteiligungen in beruflicher, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht teilgenommen und bei einer solchen Teilnahme wegen der von ihm dadurch zum Ausdruck gebrachten politisch oppositionellen Gesinnung von iranischen