TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/9 L511 2205857-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.11.2021
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Entscheidungsdatum

09.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


L511 2205857–1/30E
L511 2205858–1/19E
L511 2205862–1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Sandra Tatjana JICHA als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , und 3. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Irak, die minderjährigen Beschwerdeführer*innen vertreten durch Erstbeschwerdeführer, dieser vertreten durch BBU GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Regionaldirektion Niederösterreich vom 23.07.2018, Zahlen: 1. XXXX , 2. XXXX und 3. XXXX nach mündlicher Verhandlung zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , und 3. XXXX , geb. XXXX , jeweils gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , und 3. XXXX , geb. XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang

1.1.    Der Erstbeschwerdeführer ist Vater der minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer*innen. Sie alle sind Staatsangehörige des Irak und stellten nach illegaler Einreise am 04.02.2016 die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz (Aktenseite des Verwaltungsverfahrensaktes des Erstbeschwerdeführers [im Folgenden: AS] 31).

1.2.    Nach durchgeführtem Ermittlungsverfahren wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA] mit Bescheiden vom 23.07.2018 die Anträge auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak (Spruchpunkt II) ab. Das BFA erteilte auch keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III), erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV), stellte fest, dass die Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak zulässig sei (Spruchpunkt V) und sprach aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

1.3.    Die fristgerechten Beschwerden richten sich gegen alle Spruchpunkte.

2.       Im durchgeführten Ermittlungsverfahren legte der Erstbeschwerdeführer irakische Reisepässe, die Geburtsurkunden der minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer*innen und einen Ehevertrag vor (AS 15, 347; GZ 2205858 AS 15, GZ 2205862 AS 15).

3.       Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht [BVwG] am 18.09.2018 die Beschwerden samt durchnummeriertem Verwaltungsakten vor (Ordnungszahl des hg Gerichtsaktes des Erstbeschwerdeführers [im Folgenden:] OZ 1 [=AS 1-497]; GZ 2205858 OZ1 [=AS 1-343]; GZ 2205862 OZ 1 [=AS 1-329]).

3.1.    Das BVwG hielt unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch am 20.10.2021 eine mündliche Verhandlung ab, an der die Beschwerdeführer*innen teilnahmen (OZ 23). In der Verhandlung wurden die Gründe des Verlassens des Herkunftsstaates und Länderinformationsquellen zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat ausführlich erörtert, wozu die Beschwerdeführer*innen Stellung nahmen (OZ 29).

3.2.    Der Erstbeschwerdeführer legte weitere Dokumente, darunter abgelaufene Reisepässe mit Aufenthaltsberechtigungen für die Vereinigten Arabischen Emirate vor (VHS 12, AS 347, OZ 24, 25, 28).

II.      zu A) Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       entscheidungswesentliche Feststellungen

1.1.    Zur Person der Beschwerdeführer*innen und den Lebensverhältnissen im Irak

Die Beschwerdeführer*innen führen die im Spruch angeführten Namen. Der Erstbeschwerdeführer ist alleinerziehende Vater der minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer*innen. Sie alle sind Staatsangehörige des Irak und gehören der arabischen Volksgruppe sowie der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin wurden 2005 und 2007 in den Vereinigten Arabischen Emiraten geboren und haben dort ihr gesamtes Leben bis zur gemeinsamen Ausreise mit dem Erstbeschwerdeführer im November 2015 verbracht. Von November 2015 bis Jänner 2016 waren die Beschwerdeführer*innen in Bagdad bei einer Schwester des Erstbeschwerdeführers aufhältig. In diesem Zeitraum ließ der Erstbeschwerdeführer aktuelle Reisepässe für sich und die minderjährigen Kinder ausstellen. Seit 04.02.2016 leben die Beschwerdeführer*innen in Österreich. Die 2016 in Bagdad lebende Schwester des Erstbeschwerdeführers lebt mittlerweile in Kanada, eine weitere Schwester nach wie vor in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Eltern des Erstbeschwerdeführers und Großeltern der Zweit -und Drittbeschwerdeführer*innen sind bereits verstorben; zur Familie der Ehefrau des Erstbeschwerdeführers und Mutter der Zweit- und Drittbeschwerdeführer*innen, welche aus Bagdad stammt, besteht kein Kontakt (AS 37, 339-349; VHS 11-12, 15).

Die Beschwerdeführer*innen haben keine gesundheitlichen Einschränkungen zu vergegenwärtigen (VHS 3).

1.2.    Zur Lebenssituation in Österreich

Die Beschwerdeführer*innen reisten im Februar 2016 illegal in das Bundesgebiet ein und halten sich hier seit nunmehr fast 6 Jahren ununterbrochen auf. Der Erstbeschwerdeführer ist derzeit nicht erwerbstätig und die Familie bezieht Leistungen aus der Grundversorgung für hilfsbedürftige Fremde. XXXX . Der Erstbeschwerdeführer arbeitete vor der Pandemie zweimal gemeinnützig und half einem Freund hin und wieder bei dessen Arbeit. Er kümmert sich um die Versorgung seiner Kinder und ging mit diesen an Wochenenden spazieren oder Eis essen und machte mit ihnen Ausflüge (VHS 7). Der Erstbeschwerdeführer kann sich auf Deutsch ausreichend verständigen.

Der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin besuchen seit sie in Österreich sind die Schule, derzeit eine HLW bzw. eine neue Mittelschule (VHS 7, 8; VHS/A). Der Zweitbeschwerdeführer verbringt seine Freizeit altersgemäß mit Freunden, mit denen er sich trifft, in der Stadt spazieren geht, oder online kommuniziert und spielt. Vor einer Fußverletzung hat er in einem Verein Fußball gespielt. Die Drittbeschwerdeführerin trifft sich mit Klassenkollegen und lernt mit diesen gemeinsam. Sie trainiert zweimal in der Woche im Basketballverein und geht einmal in der Woche zum Schwimmtraining. Beide sprechen Deutsch auf ausgezeichnetem Niveau, sodass die gesamte Befragung in der mündlichen Verhandlung auf Deutsch erfolgen konnte. (VHS 7-9).

Die eingeholten Auszüge aus dem Strafregister der Republik Österreich weisen keine Einträge auf und es wurden keine Einreiseverbote gegen die Beschwerdeführer*innen erlassen (OZ 21; 2205858 OZ 14; 2205862 OZ 13).

1.3.    Zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz

Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrbefürchtung befragt erstattete der Erstbeschwerdeführer nachfolgendes chronologisch zusammengefasste Vorbringen, welches als glaubhaft erachtet wird:

Er habe seit 2001 (an anderer Stelle 1997) in den Vereinigten Arabischen Emiraten gelebt und gearbeitet. Der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin seien in XXXX geboren und hätten nie im Irak gelebt. Er habe seine Ehefrau 2004 in Syrien kennengelernt. Diese sei Schiitin und ihr Vater sei gegen diese Verbindung gewesen. Seine Ehefrau habe das Haus ihres Vaters dennoch verlassen und mit ihm bei seiner Tante gewohnt. Nachdem seine Frau schwanger geworden sei, habe der Schwiegervater letztlich doch der Heirat zugestimmt und er habe seine Frau 2005 im Februar kurz vor der Geburt des Sohnes heiraten können. Seither habe er mit seiner Frau in XXXX gelebt, wo auch die beiden Kinder geboren wurden. Der Schwiegervater habe jedoch seinen Sohn nie als eheliches Kind akzeptiert. Die Familie seiner Frau sei in der Folge in den Irak zurückgekehrt und der Schwiegervater sei ein Büroleiter der Asa’ib Ahl Al-Haqq geworden. Der Schwiegervater habe ihm 2008 im Wege der Cousine seiner Ehefrau, welche zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in XXXX lebte, ausrichten lassen, dass er ihn töten lassen werde, sobald er ihn im Irak sehe.

Im Jahr 2009 sei seine Ehefrau zu ihrer Mutter in den Irak geflogen, weil sie von der in XXXX lebenden Cousine davon informiert worden war, dass die Mutter krank sei. Er sei dagegen gewesen, und habe keine Erlaubnis erteilt, dass die Kinder mit in den Irak fliegen. Seine Frau sei daher alleine in den Irak geflogen. Der letzte Kontakt habe nach Ankunft am Flughafen stattgefunden, seither habe es keinen Kontakt mehr gegeben und er habe keine Hinweise auf ihren Verbleib. Er sei mit den Kindern weiterhin in XXXX geblieben, wo auch seine Schwester lebe. Er habe nie wieder geheiratet. 2015 seien jedoch die Aufenthaltstitel von (ua) Irakern nicht mehr verlängert worden, sodass er mit den Kindern im November 2015 aus den Emiraten ausreisen habe müssen. Seine Schwester lebe nach wie vor in XXXX , da sie mit einem Staatsangehörigen der Emirate verheiratet sei (AS 37, 339, 347, VHS 10-16).

Vor einer Rückkehr in den Irak habe er Angst, da sein Schwiegervater ein sehr einflussreicher Shiite sei. Er habe sich darum nach seiner Ausreise aus den Emiraten nur kurz bei seiner Schwester in Bagdad aufgehalten um für sich und die Kinder neue Reisepässe anfertigen zu lassen. Dabei sei er die meiste Zeit im Haus geblieben. Er wisse nicht was mit seiner Frau passiert sei und habe Angst, der Schwiegervater würde auch seinen Kindern etwas antun (AS 339, VHS).

1.4.    Zur Lage im Herkunftsstaat Irak

1.4.1.  Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den sog. Islamischen Staat (IS) erheblich verbessert. Derzeit ist es jedoch staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Im Jahr 2020 blieb die Sicherheitslage in vielen Gebieten des Irak instabil und auch im Jahr 2021 kam es (auch) in Bagdad laufend sicherheitsrelevante Vorfälle mit Toten. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (LIB 14)

1.4.2.  Zur aktuellen Lage Bagdad

Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit der Provinz wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst zieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden. (LIB 21-22)

Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch. Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar. Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din. (LIB 16)

Seit 01.10.2019 finden anhaltende regierungskritische Proteste im Irak statt. Im Berichtszeitraum vom 05.11.19 bis zum 08.12.19 zählte UNAMI 170 Tote und 2.264 Verletzte. UNAMI verweist darauf, dass die irakische Regierung die Herausgabe offizieller Statistiken seitens der Krankenhäuser an UNAMI unterbindet. Die Proteste haben sich auf 13 der 18 irakischen Provinzen ausgeweitet. Die kurdischen Provinzen sind bisher nicht von den Demonstrationen betroffen. UNAMI zufolge wird gegen festgenommene Demonstranten gemäß dem irakischen Strafgesetz Klage erhoben, nicht nach der Anti-Terror-Gesetzgebung. Den Erkenntnissen von UNAMI zufolge gehen unbekannte Dritte nach wie vor mit scharfer Munition, Drohungen, Entführungen bis hin zu gezielten Tötungen gegen Demonstranten vor. Während gegen einige Verantwortliche innerhalb der Sicherheitskräfte Anklage erhoben wurde, setzen Sicherheitskräfte nach wie vor u.a. scharfe Munition gegen Demonstranten ein. Berichten von u.a. Human Rights Watch zufolge werden Aktivist*innen und Demonstrant*innen nach wie vor eingeschüchtert, angegriffen, entführt oder getötet. In Bagdad wurde am 15.12.19 ein Aktivist, der auch als Journalist arbeitet, von unbekannten bewaffneten Männern getötet. Am 10.12.19 nahm die Gewalt im Zentrum von Bagdad wieder zu, als 31 Demonstranten durch den Einsatz von Tränengas seitens der Sicherheitskräfte verwundet wurden, um sie vom Wathba-Platz, einem zentralen Platz in Bagdad, zu vertreiben. [BN 4]

1.4.3.  Aktivitiäten der Milizen, im Speziellen der Asa’ib Ahl Al-Haqq [AAH]

Das Milizenbündnis der Volksmobilisierungseinheiten (Popular mobilization forces) [PMF] steht unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees. Obwohl Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat und die irakische Armee nur mäßige Kontrolle über die Milizen. Die 2006 gegründete AAH (Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) ist die mit ca. 15.000 Mann die drittgrößte schiitische Miliz im Irak, pro-Iranisch und gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierung, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF. Die Milizen, darunter insbesondere auch die AAH, stellen Checkpoints und Sicherheitsbarrieren auf, führen Hausdurchsuchungen und Razzien durch und übernehmen damit Aufgaben aus dem Zuständigkeitsbereich der irakischen Armee. Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht. Einige Milizionäre hätten sich laut mehrerer irakischer und US-amerikanischer Beamte an „mafiösen Praktiken“ beteiligt. Sie würden Schutzgeld von großen und kleinen Unternehmen fordern und an Checkpoints das Passieren von Autofahrern für Erpressungstaktiken benutzen. Den Milizen wird auch ein Naheverhältnis zur organisierten Kriminalität nachgesagt. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen. Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. (LIB 38-45; ATmiliz 5)

Oppositionelle, Protestanführer und Aktivisten der Zivilgesellschaft erhalten Todesdrohungen durch die unterschiedlichen Milizen, und es gibt unbestätigte Berichte, dass sich diese auf „hit lists“ der Milizen wiederfinden (UNHCR’19 19-20).

Verschiedene Auskunftspersonen berichteten im Jahr 2017 den von Landinfo und Lifos [die länderkundliche Rechercheeinheit der norwegischen und schwedischen Asylbehörden] interviewten Rechercheuren, dass die Milizen als „unantastbar“ gesehen werden, und dass weder die Polizei, noch eine andere Behörde sie davon abhalten könnten, Verbrechen zu begehen. Ein irakischer Politiker, den Landinfo und Lifos in Bagdad interviewte, gab an, dass bei den meisten Übergriffen, die von Milizen in Bagdad ausgeübt werden, die Opfer Sunniten sind. Der Politiker gab weiters an, dass die PMF die Möglichkeit haben, in jede Privatwohnung einzudringen, sogar in die Wohnung von Parlamentsmitgliedern. Er meint, dass nicht einmal Premierminister Haider al-Abadi diese stoppen könne. Dass die Milizen im Irak - auch in Bagdad - Menschen in ihren Wohnhäusern festnehmen, wurde auch von Amnesty International [AI] berichtet. Laut AI und Reuters beitreiben Milizen eigene Haftanstalten, in denen Folterungen und Misshandlungen stattfinden, ohne dass es zur Einmischung von Seiten der Behörden kommt (ABmiliz 6).

1.4.4.  Zur Lage der (arabischen) Sunniten

Den Sicherheitskräften werden zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen („forced disappearance“) zur Last gelegt: Im Zuge von Antiterror-Operationen, aber auch an Checkpoints, wurden nach 2014 junge, vorwiegend sunnitische Männer gefangen genommen. Wie in den Vorjahren gibt es auch weiterhin glaubwürdige Berichte darüber, dass Regierungskräfte, einschließlich der Bundespolizei, des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) und der PMF, Personen, insbesondere sunnitische Araber, während der Festnahme, in der Untersuchungshaft und nach der Verurteilung misshandeln und foltern. Einige schiitische Milizen, darunter auch solche, die unter dem Dach der PMF operieren, sind für Angriffe auf sunnitische Zivilisten verantwortlich, mutmaßlich als Vergeltung für IS-Verbrechen an Schiiten.

Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richteten sich 2017 vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger. Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger. Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga. Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul. (LIB 79)

Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen. Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausender sunnitischer Moslems, denen eine IS- Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98%. Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS. (LIB33-34)

1.4.5.  Kinder

Kinder sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen. Vor der COVID-19-Krise lebte laut UNICEF eines von fünf Kindern in Armut. Über 1,16 Millionen Kinder im Alter von unter fünf Jahren waren unterernährt. Ende 2020 lag die Zahl der Kinder im Irak, die humanitäre Hilfe benötigen, bei 1,89 Million. Alle vom UN-Welternährungsprogramm erfassten Lebensmittel sind in Bagdad weithin verfügbar, allerdings zu abnorm hohen Preisen. Als Resultat der COVID-Krise in Kombination mit der Wirtschafts- und Finanzkrise ist jedoch die Armutsrate im Irak von 20 auf über 30 Prozent gestiegen. Den stärksten Zuwachs erfuhr der Zentral-Irak mit Bagdad, der – mit Ausnahme der Kurdenregion – relativ besser dasteht als die anderen Großregionen. Kinder unter 18 Jahren sind mit einem höheren Anstieg der Armut konfrontiert, Bei Kindern liegt das Vulnerabilitäts-Ausmaß bei 48,8 Prozent. Familien mit mehr als sieben Mitgliedern, insbesondere Familien mit mehr als einem Kind, weisen eine hohe Vulnerabilitäts-Rate auf. Im Schulbereich stellen der Mangel an schulischen Einrichtungen, Lehrern und die Defizite in den Lehrplänen im ganzen Land – in Bagdad zu einem vergleichsweise geringeren Teil - weiterhin ein Problem dar. Verschärft durch die COVID-19-Krise ist es zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt gegenüber Kindern gekommen, insbesondere in den Städten. Zwangsehen und insbesondere Ehen auf Zeit von minderjährigen Mädchen - auch in Bagdad - letztere von Experten als versteckte Form der Prostitution betrachtet, sind illegal, kommen aber weiterhin vor. Diese werden oft durch islamische Kleriker unter Geldannahme vermittelt und geschlossen und durch die ökonomische Krise, in denen sich Familien befinden, gefördert. Die Behörden ignorieren entweder Fälle von sexuell ausgebeuteten Kinder oder behandeln die Minderjährigen oft als Kriminelle und nicht als Opfer. (LIB 116-120; a-11469-1)

1.4.6.  zur Versorgungslage im Irak, insbesondere in Bagdad

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Nachdem der Irak seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde laufen nunmehr Wiederaufbauprogramme und die Weltbank traf für das Jahr 2019 vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt. Laut Welternährungsorganisation sind im Irak ca. 1,77 Millionen Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Schätzungen zufolge hat der Irak in den letzten vier Jahren jedoch 40 Prozent seiner landwirtschaftlichen Produktion verloren. Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen. Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen. (LIB 133-136)

Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. (LIB 136, 137)

Die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt. Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen. (LIB 138)

1.4.7.  Aufnahme von IDP, Bewegungsfreiheit

Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen.

Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Babil, Bagdad, Basra, Diyala, Kerbala, Kirkuk, Najaf, Qadissiya und Wassit. […] Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom IS kontrollierten Gebieten unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar (Anm.: etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. (LIB 136, 151)

Die KRI schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten ein. Während die Einreise in die Gouvernements Erbil und Sulaymaniyah ohne Bürgen möglich ist, wird für die Einreise nach Dohuk ein Bürge benötigt. Insbesondere Araber aus den ehemals vom IS kontrollierten Gebieten, sowie Turkmenen aus Tal Afar im Gouvernement Ninewa benötigen einen Bürgen aus Dohuk, es sei denn, sie erhalten eine vorübergehende Reisegenehmigung vom Checkpoint in der Nähe des Dorfes Hatara. Diese Genehmigung wird für kurzfristige Besuche aus medizinischen oder ähnlichen Gründen erteilt. Die KRI-Behörden wenden Beschränkungen unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt. Checkpoints werden manchmal für längere Zeit geschlossen. Beamte hindern Personen, die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, an der Einreise in die Region. Die Einreise ist für Männer oft schwieriger, insbesondere für arabische Männer, die ohne Familie reisen. (LIB 134-135)

1.4.8.  Ehrverbrechen

Sogenannte Ehrenverbrechen sind Gewalttaten, die von Familienmitgliedern gegen Verwandte ausgeübt werden, weil diese „Schande“ über die Familie oder den Stamm gebracht haben. Ehrenverbrechen werden oft in Form von Mord begangen, obwohl sie auch andere Arten der Gewalt umfassen können wie z.B. körperliche Misshandlung, Einsperren, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Entzug von Bildung, Zwangsverheiratung, erzwungener Selbstmord und öffentliche Schändung bzw. „Entehrung“. Ehrendelikte werden überwiegend von männlichen Familienmitgliedern gegen weibliche Familienmitglieder verübt, obwohl gelegentlich auch Männer Opfer solcher Gewalt werden können. Ehrenverbrechen werden meist begangen, nachdem eine Frau eines der folgenden Dinge getan hat bzw. dessen verdächtigt wird: Freundschaft oder voreheliche Beziehung mit einem Mann; Weigerung, einen von der Familie ausgewählten Mann zu heiraten; Heirat gegen den Willen der Familie; Ehebruch; Opfer einer Vergewaltigung oder Entführung geworden zu sein. Solche Verletzungen der Ehre werden als unverzeihlich angesehen. In den meisten Fällen wird die Tötung der Frau, manchmal auch die des Mannes, als der einzige Weg gesehen, die Ehrverletzung zu sühnen.

Der Ehrenmord ist eine geplante, größtmögliche Gewaltanwendung gegen eine Frau, ganz selten wird auch ein Mann Opfer eines Ehrenmordes, wenn z. B. seine homosexuellen Neigungen öffentlich bekannt geworden sind. Auch wenn eine Frau durch ein Verbrechen innerhalb der Familie schwanger wird (durch Inzest), ist die Folge in der Regel der Tod der Frau, nicht des Mannes.

In Ländern des Nahen und Mittleren Ostens scheint besonders häufig der Bruder der betroffenen Frau als Täter auserkoren zu werden, sodann auch ihr Vater, während in der Migration, vermutlich auch aufgrund des Fehlens kompletter Familienstrukturen, offensichtlich der Ehemann häufiger als Täter auftritt. Generell gilt die Verbindung des Ehemanns zur Ehefrau als weniger eng als zur Herkunftsfamilie, denn der Ehemann kann sich von der Frau, nach islamischem Recht relativ unkompliziert scheiden, die Herkunftsfamilie ist jedoch auf immer mit ihr verbunden. Aber auch ein Cousin oder Onkel kommen als Täter in Frage. Daraus wird deutlich, dass das “Verbrechen” der Frau nicht als individuelles Vergehen, sondern als Angriff auf die ganze Gemeinschaft verstanden wird, so dass auch die Gemeinschaft als Ganze zum Handeln aufgerufen ist. (LIB 111-112, IGFM)

Ehrenverbrechen finden in allen Gegenden des Irak statt und beschränken sich nicht auf bestimmte ethnische oder religiöse Gruppen. Sie werden gleichermaßen von Arabern und Kurden ausgeübt, von Sunniten und Schiiten, wie auch von einigen ethnischen und religiösen Minderheiten. Es ist schwer, das wahre Ausmaß von Ehrenverbrechen und Ehrenmorden im Irak zu erfassen, da viele Fälle nicht angezeigt werden bzw. oft als Selbstmord oder Unfall angeführt werden. Ehrenmorde bleiben auch weiterhin ein ernstes Problem im ganzen Land. Das Strafgesetzbuch sieht für Gewalttaten aus „ehrenhaften Motiven“, inklusive Ehrenmorde, milde, reduzierte Strafen vor. In der Regel werden Ehrenverbrechen nicht angezeigt und auch nicht strafrechtlich verfolgt. Von der Polizei und den zuständigen Behörden werden die Fälle in der Regel als Familiensache erachtet, die dem Ermessen männlicher Familienmitglieder obliegt. In Fällen von Gewalt gegen Frauen erlaubt das irakische Recht zudem den Grund der „Ehre“ als rechtmäßige Verteidigung. Wenn ein Mann des Mordes an einer Frau angeklagt wird, die er getötet haben soll, weil sie des Ehebruchs verdächtigt worden war, begrenzt das Gesetz seine mögliche Strafe auf maximal drei Jahre Gefängnis. Strafen für Ehrenverbrechen sind selten. Täter werden oft freigesprochen oder zu sehr milden Strafen verurteilt, selbst wenn eindeutige, belastende Beweise vorliegen. (LIB 111-112, AB Stigma)

1.4.9.  Covid19-Pandemie

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Europäischem Zentrum für die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) haben das höchste Risiko für eine schwere Erkrankung durch SARS-CoV-2 Menschen im Alter von über 60 Jahren sowie Menschen mit Grunderkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen und Krebs. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf (www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/; www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html; www.oesterreich.gv.at).

Angaben des Gesundheitsministeriums vom 27.09.20 zufolge ist die Zahl der Infektionen auf 349.450 angestiegen. Die Zahl der Genesenen liegt bei 280.673, die Zahl der Todesopfer liegt bei 8.990. In der Region Kurdistan-Irak lag am 27.09.20 die Zahl der registrierten Fälle bei 45.731, von denen 29.422 genesen sind. Die Zahl der Todesopfer wird mit 1.671 angegeben. Am stärksten betroffen ist die Provinz Erbil. Angaben der WHO vom 20.09.20 zufolge sind aufgrund von COVID-19 fast 50 % der Krankenhauskapazität erreicht. (Briefing Notes 28.09.2020).

2.       Beweisaufnahme und Beweiswürdigung

2.1.    Die Beweisaufnahme erfolgt durch

?        Abhaltung einer mündlichen Verhandlung [VH] am 20.10.2021 (VHS)

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsverfahrensakt (OZ 1) beinhaltend insbesondere die Erstbefragung, die Niederschrift, den Bescheid und die Beschwerde

?        sowie Einsicht in folgende vorgelegte oder beigeschaffte Unterlagen und Dokumente

?        Reisepässe und Aufenthaltsberechtigungen der Emirate (jeweils AS15; OZ 25, 28, 29)

?        Information über Besitz eines Führerscheins und eines KFZ (OZ 10)

?        Anzeigen an die Staatsanwaltschaft vom 31.07.2019 und 22.11.2019 (OZ 8)

?         XXXX

?         XXXX

?        Einsicht in das Zentrale Melderegister (ZMR), das Strafregister der Republik Österreich (SA, SC), das Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister des Bundesministeriums für Inneres (IZR), sowie das Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich (GVS) (OZ 21; 2205858 OZ 14; 2205862 OZ 13).

?        Einsicht in folgende länderspezifische Berichte (VHS 17)

?        ACCORD: Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, Dokument-ID #2038435, 02.10.2020 [ATmiliz]

?        ACCORD Anfragebeantwortung: Aktuelle Sicherheitslage in Bagdad und Gefährdungslage für minderjährige Kinder, 20.01.2021 [a-11469-1]

?        ACCORD Anfragebeantwortung: Versorgungslage Bagdad, 20.01.2021 [a-11469-2]

?        Internationale Gesellschaft für Menschenrechte [IGFM], Ehrenmorde unter Berücksichtigung rechtlicher, soziologischer, kultureller und religiöser Aspekte von Prof. Christine Schirrmacher, undatiert (abgerufen am 18.09.2020 https://www.igfm.de/ehrenmorde-zwischen-migration-und-tradition/)

?        Staatendokumentation [SD]: Länderinformationsblatt Irak Version 4, 15.10.2021 [LIB]

?        SD Anfragebeantwortung: Irak Situation von Kindern in Bagdad Update 01.09.2020

?        SD Anfragebeantwortung Irak: Stigmatisierung von Opfern sexuellen Missbrauchs, Tötungen/Steinigungen von missbrauchten Familienmitgliedern, 04.12.2019 [ABStigma]

?        UNHCR International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Mai 2019 [UNHCR19]

2.2.    Beweiswürdigung

2.2.1.  Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen im Irak (Pkt. 1.1)

Die Angaben der Beschwerdeführer*innen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft und Religionszugehörigkeit, die sie im Zuge des Verfahrens vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung gemacht haben, sind nicht anzuzweifeln. Bereits das BFA ging vom Feststehen der Identität aller Familienmitglieder aufgrund der im Original vorgelegten irakischen Reisepässe aus (Bescheid S68).

Die Ausführungen zu den Lebensumständen und der Lebensgrundlage in den Emiraten sowie zu den Familienangehörigen im Irak waren sowohl vor dem BFA, als auch in der mündlichen Verhandlung kohärent, schlüssig und widerspruchsfrei. Zumal sich die Ausführungen auch vor dem festgestellten Länderhintergrund nicht als unplausibel darstellen, werden diese als glaubhaft erachtet (AS 37, 339-349; VHS 12-13, 16-17).

Der Gesundheitszustand der Beschwerdeführer*innen ergibt sich aus den diesbezüglichen Angaben im Verfahren (VHS 3).

2.2.2.  Zu seinen Lebensverhältnissen in Österreich (Pkt. 1.2)

Die Feststellungen zur Lebenssituation der Beschwerdeführer*innen in Österreich, ergeben sich ebenfalls aus den Angaben in der Verhandlung (VHS 6-9), welche sich mit den eingeholten Datenauszügen decken (OZ 21; 2205858 OZ 14; 2205862 OZ 13), so dass kein Grund bestand, diese Angaben zu bezweifeln. Auch das BFA ist den Angaben nach Übermittlung der Verhandlungsschrift nicht entgegengetreten.

Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen gehen auf den persönlichen Eindruck der entscheidenden Richterin in der Verhandlung zurück (VHS 6, 8, 9). Die Unbescholtenheit der Beschwerdeführer*innen und das Nichtbestehen von Einreiseverboten ergeben sich aus behördlich geführten Datenregistern, an deren Richtigkeit kein Anlass an zu zweifeln bestand (OZ 21; 2205858 OZ 14; 2205862 OZ 13).

XXXX .

2.2.3.  Zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz (Pkt 1.3)

2.2.3.1. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet das in sich schlüssige und widerspruchsfreie Vorbringen des Erstbeschwerdeführers zu den Ereignissen vor seiner Ausreise – Bedrohung durch den Schwiegervater, einem regional leitenden Mitglied der Asa’ib Ahl Al-Haqq, wegen unehrenhafter Heirat – als glaubwürdig, da der Erstbeschwerdeführer dieses im gesamten Verfahren stringent vorbrachte (EBFR AS 37, EV 339-349; VHS 10-16).

2.2.3.2. Der mündliche Vortrag des Erstbeschwerdeführers in der Verhandlung war von sich aus detailreich, was das Bundesverwaltungsgericht von der Glaubhaftigkeit des Vorbringens überzeugte. Er war auch nach jeder nachfragenden Unterbrechung der Richterin in der Lage, an jeder Stelle seiner Schilderung der Vorgänge das Vorbringen wiederaufzunehmen, wie dies bei selbst Erlebtem zu erwarten ist. Hinzu kommt, dass die vorgelegten Reisepässe und Aufenthaltsberechtigungen für die Emirate – welche auch vom BFA nicht in Zweifel gezogen wurden – mit dem Vorbringen im Einklang stehen und dieses somit zusätzlich stützen (AS 15, 347; Bescheid S67; OZ 25, 28, 29). Für die Glaubhaftigkeit spricht auch, dass die Schilderungen der minderjährigen Kinder zu den Lebensumständen in den Emiraten damit übereinstimmten (VHS 16-17).

2.2.3.3. Vor dem festgestellten Länderhintergrund im Irak ist es zweifellos plausibel, dass einem Mitglied der Asa’ib Ahl Al-Haqq die Verbindung seiner Tochter mit einem Sunniten missfällt. Ebenso erscheint es glaubhaft, dass der Schwiegervater die Heirat seiner Tochter mit einem Sunniten und den vorehelichen Geschlechtsverkehr als „Entehrung“ seiner Familie ansieht. Ebenso denkbar und mit dem Länderhintergrund im Irak im Einklang stehend ist es, dass ein Mitglied der Asa’ib Ahl Al-Haqq Milizen, seine Stellung bei der Miliz für einen privaten Rachefeldzug ausnützt. Auch die Befürchtung des Erstbeschwerdeführers, die Polizei würde ihm keine Hilfe bieten können, ist angesichts der Länderfeststellungen, aus denen sich die Involvierung einzelner Milizangehöriger in kriminelle Aktivitäten, sowie die Verquickung von Sicherheitskräften mit Milizen ergibt, glaubwürdig (vgl. dazu Pkt. 1.6.3 Aktivitäten der Milizen).

2.2.3.4. Die Angst vor dem Schwiegervater, insbesondere auch davor, dass sich dessen Rachewunsch auch auf den Sohn beziehe, ist insbesondere angesichts der Tatsache, dass zur Ehefrau seit 2009 kein Kontakt mehr besteht und nichts über ihren Verbleib bekannt ist, nachvollziehbar. Dass die Ehefrau trotz dieser bestehenden Bedrohung in den Irak geflogen ist, um ihre kranke Mutter zu sehen, ist ebenfalls nachvollziehbar und erscheint nicht lebensfremd.

2.2.3.5. Zusammenfassend erachtet das BVwG daher das fluchtkausale Vorbringen als glaubhaft.

2.2.4.  Zur Lage im Herkunftsstaat Irak (Punkt 1.4.)

Die getroffenen länderspezifischen Feststellungen ergeben sich im Wesentlichen aus den Berichten und Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation. Die Staatendokumentation des BFA berücksichtigt im Länderinformationsblatt Irak und den Anfragebeantwortungen Berichte verschiedener staatlicher Spezialbehörden, etwa des Deutschen Auswärtigen Amtes und des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge oder des US Department of State, ebenso, wie auch Berichte von Nichtregierungsorganisationen, wie etwa von ACCORD, Amnesty international, Human Rights Watch, oder der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Die herangezogenen Quellen sind aktuell, Großteils aus dem Jahr 2019, die spezielleren Anfragebeantwortungen sind aus den Jahren 2019 und 2020.

Angesichts der Ausgewogenheit und Seriosität der genannten Quellen sowie der Plausibilität der weitestgehend übereinstimmenden Aussagen darin, besteht für das BVwG kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Auch die Parteien sind den in das Verfahren eingeführten Quellen nicht entgegengetreten (OZ 29).

3.       Rechtliche Beurteilung

3.1.1.  Die Zuständigkeit des BVwG und die Entscheidung durch eine Einzelrichterin ergibt sich aus § 6 Bundesgesetz über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes [BVwGG] iVm §7 BFA-VG und dem AsylG 2005. Das Verfahren des BVwG ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) geregelt. Verfahrensgegenständlich sind demnach neben dem VwGVG auch die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, sowie jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen sinngemäß anzuwenden, die das BFA im erstinstanzlichen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (§ 17 VwGVG).

3.1.2.  Die Beschwerde ist rechtzeitig und auch sonst zulässig (§§ 7, 9 VwGVG).

3.2.    Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG 2005

3.2.1.  Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 [Anmerkung: Drittstaatssicherheit, Schutz im EWR-Staat oder in der Schweiz oder Zuständigkeit eines anderen Staates] zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (§ 3 Abs. 1 AsylG 2005). Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht (§ 3 Abs. 3 Z 1 AsylG 2005) oder der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat (§ 3 Abs. 3 Z 2 AsylG 2005). Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (§ 3 Abs. 5 AsylG 2005).
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Jänner 1967, BGBl Nr. 78/1974 (GFK), ist als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

3.2.2.  Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ist die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (VwGH 02.09.2015, Ra2015/19/0143). Nach der jüngeren Ansicht des UNHCR reicht es aus, dass der Konventionsgrund ein (maßgebender) beitragender Faktor ist, er muss aber nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden (VwGH 23.02.2016, Ra2015/20/0113 mit Literaturnachweisen von UNHCR, Hathaway/Foster und Marx).

Zentraler Aspekt der in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 05.09.2016, Ra2016/19/0074). Unter Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, worunter (ua) Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 MRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 MRK niedergelegte Verbot der Folter (VwGH 15.12.2016, Ra 2016/18/0083). Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 27.05.2019, Ra2019/14/0153).

3.2.3.  Wie im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, kommt dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund – Bedrohung durch den Schwiegervater, einem regional leitenden Mitglied der Asa’ib Ahl Al-Haqq, wegen unehrenhafter Heirat –Glaubhaftigkeit zu.

3.2.4.  Es besteht eine gefestigte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach bei drohenden körperlichen Übergriffen bis hin zum „Ehrenmord“ durch die eigene Familie Asylrelevanz nicht ohne Weiteres verneint werden kann. Derartige Fälle stehen im Spannungsfeld zwischen einer Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe einerseits und rein kriminellen, keinem Konventionsgrund zuordenbaren Bedrohungen andererseits (VwGH 21.10.2020, Ra2020/18/0172; VwGH 09.09.2010, 2007/20/1091; 25.03.2015, Ra 2014/18/0153 mwN).

3.2.5.  Nach der Definition des Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Eine soziale Gruppe kann aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (VwGH 26.04.2021, Ra2020/01/0025 uHa EUGH 07.11.2013, C-199/12 bis C-201/12 uwN).

3.2.6.  Fallbezogen ist das Vorliegen eines Konventionsgrundes zu bejahen, da der Schwiegervater des Erstbeschwerdeführers und Großvater der Zweit- und Drittbeschwerdeführer*innen nicht bereit ist die erfolgte Eheschließung hinzunehmen, sondern durch Einsatz von Gewalt, bis hin zum Ehrenmord, seine (aus seiner Sicht verletzte) Ehre wiederherzustellen. Dies hat er auch bereits unter Beweis gestellt, zumal über den Verbleib der Ehefrau des Erstbeschwerdeführers und der Mutter der Zweit- und Drittbeschwerdeführer*innen seit ihrer Ankunft am Flughafen in Bagdad im Jahr 2009 nichts bekannt ist. Den Beschwerdeführer*innen droht daher die maßgebliche Gefahr von in ihrer Intensität asylrelevanten Eingriffen auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie des Schwiegervaters, somit des Verfolgers (vgl. dazu etwa VwGH 09.09.2010, 2007/20/1091).

3.2.7.  Für die Frage, ob der Herkunftsstaat in diesen Fällen ausreichenden Schutz bietet, kommt es maßgeblich darauf an, ob die Fremde mit einer „präventiven Verhinderung“ ihrer Ermordung rechnen könnte und nicht bloß mit der nachträglichen „strafrechtlich effektiven“ Ahndung (VwGH 08.09.2009, 2008/23/0027 mwN).

Die getroffenen Feststellungen lassen keinen Zweifel daran offen, dass im Fall von Streitigkeiten in der Familie bis hin zum Ehrenmord von keiner wirksamen Schutzgewährung durch staatliche Behörden auszugehen ist, zumal derartige Angelegenheiten vorrangig als Familien- bzw. Stammesangelegenheiten gesehen werden und deshalb keine ausreichende Beachtung durch Sicherheitskräfte erfahren. Ferner ist selbst im Fall eines nachgewiesenen Ehrenmordes keine angemessene Bestrafung des Täters sichergestellt, sodass insoweit auch keine abschreckende Wirkung im Hinblick auf potentielle Verfolger anzunehmen ist, da diese selbst im Fall staatlicher Strafverfolgung mit außerordentlicher Milderung aufgrund „ehrenhafter Motive“ rechnen können. Im gegebenen Fall kommt jedoch noch erschwerend hinzu, dass der Schwiegervater ein regional leitendes Mitglied der Asa’ib Ahl Al-Haqq ist, und somit selber Teil der Sicherheitskräfte ist.

3.2.8.  Zusammenfassend droht den Beschwerdeführer*innen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Irak eine asylrelevante Verfolgungsgefahr, welche zum Entscheidungszeitpunkt auch immer noch vorliegt (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233), ohne dass staatlicher Schutz für die Beschwerdeführer*innen möglich wäre.

3.2.9.  Vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen sowie den "International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq" des UNHCR vom Mai 2019, kommt eine Rückkehr (selbst) nach Bagdad nur für arabische, sunnitische oder schiitische, alleinstehende, gesunde Männer oder ebensolche kinderlose Paare im erwerbsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilitäten in Betracht (vgl. explizit dazu VfGH 24.11.2020, E3373/2020). Unter Einbeziehung der langjährigen Abwesenheit aus dem Irak und der fehlenden familiären Strukturen der Beschwerdeführer*innen im Irak besteht daher im gegenständlichen Fall keine innerstaatliche Fluchtalternative im Irak für die Beschwerdeführer*innen.

3.2.10. Im Verfahren haben sich keine Hinweise auf die in Artikel 1 Abschnitt C und F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- und Ausschlussgründe ergeben. XXXX .

3.2.11. Im vorliegenden Fall sind somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 gegeben.

3.3.    Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass den Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

3.4.    Da die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 gestellt wurden, kommt den Beschwerdeführer*innen gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu (§ 75 Abs. 24 AsylG 2005).

III.    ad B) Unzulässigkeit der Revision

Die sich aus dem festgestellten Sachverhalt ergebende rechtliche Subsumtion bedurfte angesichts der einheitlichen im Zuge der rechtlichen Ausführungen ausführlich wiedergegebenen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Flüchtlingskonvention keiner Lösung einer erheblichen Rechtsfrage. Es ergeben sich auch keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage, so dass insgesamt die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht vorliegen.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung Familienverfahren Flüchtlingseigenschaft Miliz Racheakt soziale Gruppe wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:L511.2205857.1.00

Im RIS seit

02.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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