Entscheidungsdatum
12.11.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L507 2187327-1/27E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerde des XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. staatenlos, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.03.2021 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen mit der Maßgabe, dass Spruchpunkt I. zu lauten hat:
„Der Antrag auf internationalen Schutz von XXXX alias XXXX wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß
§ 3 Abs. 3 Z. 2 iVm § 6 Abs. 1 Z. 1 AsylG abgewiesen“.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein staatenloser Palästinenser und Angehöriger der sunnitischen Religionsgemeinschaft, stellte am 04.05.2016, nachdem er zuvor illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist, einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Bei der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 04.05.2016 brachte der Beschwerdeführer vor, dass sie ihr Haus in Gaza im Jahr 2014 durch die ständigen Bombardierungen durch Israel verloren hätten. Der Bruder des Beschwerdeführers sei durch die Bomben schwer verletzt und sogar in Österreich in einem Krankenhaus gewesen. Die Kosten seien von der österreichischen Regierung übernommen worden. Der Beschwerdeführer fürchte deshalb auch um sein Leben, weshalb er seine Heimat verlassen habe.
3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 09.01.2018 brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass im Juli 2014 der Krieg zwischen Israel und den Rebellen in Gaza begonnen habe. Als die israelische Armee am 20.07.2014 in den Gazastreifen eingefahren sei, hätte die Kampfhandlungen begonnen. Die einheimischen Zivilisten seien die Opfer gewesen, hätten die Häuser verlassen und nur das Notwendigste mitgenommen. Sie seien zu Verwandten nach XXXX geflohen. Später sei der Beschwerdeführer mit seinem Bruder zurück zum Haus gegangen, um Decken und Matratzen für die Familie zu holen. Als er das Haus verlassen habe, sei eine Bombe eingeschlagen und sei er im Spital wieder aufgewacht. Sein Bruder sie ebenfalls ins Spital gebracht und im Dezember 2014 in Österreich behandelt worden. Nach dem Krieg seien die Häuser wieder aufgebaut worden und seien sie wieder zurück in ihr Haus gegangen. Am 20.01.2016 gegen 12:00 Uhr in der Nacht hätten sie Geräusche auf dem Feld vor ihrem Haus gehört. Sie hätten fünf maskierte Männer gestellt und gefragt, was sie hier machen würden. Diese hätten gesagt, dass sie ins Haus gehen sollten und sie das nichts angehe. Der Beschwerdeführer habe gesagt, dass dies ziviles Wohngebiet sei, ihr Haus vor kurzem aufgebaut worden sei, sein Bruder noch immer im Spital sei und sie hier keine Probleme machen sollten. Das habe den Männern nicht gefallen. Die Mutter des Beschwerdeführers sei auch gekommen und habe gesagt, dass sie verschwinden sollen. Dann habe einer gesagt, dass sie den Beschwerdeführer mitnehmen sollten. Der Vater des Beschwerdeführers habe dem Beschwerdeführer gesagt, dass er durch die Hintertür fliehen soll und sei der Beschwerdeführer eine Nacht zu einem Freund geflüchtet. Danach sei er zu seinen Verwandten nach XXXX gegangen, als die Personen nach ihm gesucht hätten. Nach ein paar Tagen habe der Beschwerdeführer entschieden, Gaza zu verlassen.
4. Mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Israel (Gaza) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Israel (Gaza) gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
Beweiswürdigend wurde vom BFA ausgeführt, dass die Angaben zum Fluchtgrund aufgrund des unsubstantiierten und unplausiblen Vorbingens nicht glaubhaft seien. Weiters wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer auch keine Gefahren drohen, die eine Gewährung subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Die Rückkehrentscheidung verletze nicht das Recht auf ein Privat- und Familienleben im Bundesgebiet und würden auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG nicht vorliegen.
5. Der bekämpfte Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 31.01.2018 durch Hinterlegung ordnungsgemäß zugestellt, wogegen mit Schreiben vom 22.02.2018 fristgerecht Beschwere erhoben wurde.
Nach der Wiedergabe des bisherigen Vorbringens wurde ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer vorgehalten werde, dass die Polizei aufgrund seiner wenig konkreten Angaben nichts tun habe können, der Beschwerdeführer aber genau das von sich aus gesagt habe. Er wisse nicht genau, wer diese Männer seien und vermute, dass es sich um Mitglieder der Hamas handle, weshalb seine Ausreise nachvollziehbar sei. Der Beschwerdeführer habe genaue Angaben getätigt und seien keine Ermittlungen zu Vorfällen mit maskierten Gruppen/Hammas/Entführung in Gaza getätigt worden. Eine Verfolgung durch Dritte könne asylrelevant sein und habe das BFA dahingehend eine falsche rechtliche Beurteilung vorgenommen. Die Sicherheitslage in Gaza sei im Übrigen weiterhin prekär und dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
6. Mit Schriftsatz der damaligen rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers vom 31.01.2019 wurde eine Beschwerdeergänzung erstattet. Darin wurde bekanntgegeben, dass der Vater des Beschwerdeführers im März 2018 eine Ladung seitens des Innengeheimdienstes für den Beschwerdeführer erhalten habe, darauf aber nicht reagiert habe. Im Mai 2018 habe er eine weitere Ladung auf den Namen des Vaters des Beschwerdeführers erhalten. Der Vater habe der Ladung Folge geleistet und sei ihm mitgeteilt worden, dass sich der Beschwerdeführer wegen des Vorfalles auf dem Feld der Polizei stellen solle. Dem Beschwerdeführer werde offenbar eine zur Hamas oppositionelle politische Gesinnung bzw. Spionage für Israel unterstellt und werde daher in seinem Herkunftsstaat verfolgt.
Das Vorbringen des Beschwerdeführers sei auch nicht auf seine Glaubwürdigkeit hin zu beurteilen, zumal der Beschwerdeführer bei UNRWA registriert sei.
7. Am 24.03.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. Dabei wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen. Zudem wurde der Beschwerdeführer zu seinen Integrationsbemühungen befragt und ihm die aktuellen Länderfeststellungen zur Lage im Gazastreifen ausgehändigt. Dem Beschwerdeführer wurde die Möglichkeit zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme dazu eingeräumt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist staatenlos und Angehöriger der palästinensischen Volksgruppe. Er ist sunnitischer Moslem und stammt aus dem palästinensischen Autonomiegebiet des sogenannten Gazastreifens (kurz: Gaza).
Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt Gaza geboren, besuchte dort die Grund- und Mittelschule und hat nach der Matura bis 2013 Sportwissenschaften (Lehramt Sport) studiert. Nach seinem Studium hat er Gelegenheitsarbeiten (u.a. Umzugstransporte, Oliven pflücken, Vater im Lebensmittelgeschäft unterstützt) ausgeführt.
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. In Gaza sind nach wie vor seine Eltern, drei Brüder sowie fünf Schwestern des Beschwerdeführers aufhältig. Zwei Brüder und zwei Schwestern des Beschwerdeführers sind verheiratet. Die weiteren Geschwister wohnen noch im Haus der Familie bei den Eltern.
Der Beschwerdeführer steht mit seinen in Gaza lebenden Familienangehörigen in regelmäßigem Kontakt.
Im Februar 2016 verließ der Beschwerdeführer legal mit seinem Reisepass Gaza auf dem Landweg nach Ägypten. Von Ägypten ausgehend reiste er mit einem Touristenvisum in die Türkei und weiter unrechtmäßig nach Griechenland in das Gebiet der europäischen Union ein. Von dort reiste er über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo er am 04.05.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Seither hält sich der Beschwerdeführer durchgehend im Bundesgebiet auf.
Der Beschwerdeführer hat Gaza nicht aufgrund individueller Verfolgung durch die Hamas oder sonstigen bewaffneten Gruppierungen verlassen. Er ist bei einer Rückkehr dorthin auch nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer ist bei der UNRWA als Flüchtling registriert.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht erwerbstätig und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber.
Für den Beschwerdeführer besteht eine Einstellungszusage als Lagerlogistiker und Fachlagerist.
Er spielt in Österreich Fußball und ist seit 2019 Mitglied im Verein XXXX , wo er Teil der Fußballmannschaft ist.
Der Beschwerdeführer verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse und hat die Integrationsprüfung auf dem Niveau B1 erfolgreich abgelegt.
Der Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig, in Österreich strafrechtlich unbescholten und pflegt soziale und freundschaftliche Kontakte.
1.2. Zur Lage im Gazastreifen wird festgestellt:
Politische Lage
Die Palästinensischen Gebiete bestehen aus dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem (AA 6.11.2019a). Palästina hat den Status eines Völkerrechtssubjekts, wird aber von Österreich nicht als Staat im Sinne des Völkerrechts anerkannt (BMEIA 18.3.2020). 137 Staaten erkennen Palästina als unabhängigen Staat an (GIZ 3.2020a). Konkret bedeutet der Beobachter-status als Nicht-Mitgliedstaat, den etwa auch der Vatikan innehat, mehr Mitspracherechte bei den Vereinten Nationen. Künftig können die Palästinenser im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung – sofern sie betroffen sind – an Diskussionen teilnehmen und Resolutionen einbringen. Ein weiterer wichtiger Zugewinn ist der Zugang zu Unterorganisationen der UN wie dem Internationalen Strafgerichtshof. Dadurch hätten die Palästinenser das Recht, etwaige Militäroperationen der Israelis in den Palästinensergebieten oder die Siedlungspolitik der israelischen Regierung vor Gericht zu bringen (BPB 30.11.2012). Im Dezember 2014 stimmte das europäische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit (498 Stimmen dafür, 88 dagegen) für die „Quasi“-Anerkennung Palästinas als Staat. Dieses Votum ist rechtlich nicht bindend, aber es sendet eine starke Botschaft an die internationale Gemeinschaft. Schweden ist einen Schritt weiter gegangen und hat Palästina offiziell als Staat anerkannt (BBC 17.12.2014).
Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO – Palestinian Liberation Organisation) wurde 1964 gegründet, 1974 als einzig legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes von der UNO anerkannt und erhielt den Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen (VP o.D.; vgl. Britannica o.D.). 1993 kam es zum Oslo-Abkommen zwischen Israel und der PLO (BPB 17.7.2011). Im Jahr 1993 folgte die Anerkennung der PLO als einzige Vertreterin der Palästinenser durch Israel (Israel MFA 10.9.1993). Die PLO ist die Dachorganisation für die verschiedenen palästinensischen Parteien und Bewegungen, darunter die Fatah, die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Arabische Befreiungsfront, die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), die Palästinensische Befreiungsfront (PLF) und die Palästinensische Volkspartei (PPP). Hamas und Islamischer Dschihad sind nicht in der PLO vertreten (VP o.D.; vgl. SZ 12.1.2018).
Nach dem Erdrutschsieg der Hamas [Anm.: bei den Wahlen im Jahr 2006] begannen die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern von Hamas und Fatah, in deren Verlauf Hunderte von Menschen ums Leben kamen. Ihren Höhepunkt fanden sie im Juni 2007 im Gazastreifen als die Hamas mit Gewalt die Kontrolle über alle Sicherheitseinrichtungen und Regierungsgebäude der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA – Palestinian Authority) übernahm (GIZ 3.2020a). Zahlreiche Mitglieder und Anhänger der Fatah von Palästinenserpräsident Abbas flohen aus Gaza (Spiegel 13.6.2007; FAZ 3.8.2008). Von diesem Zeitpunkt an war Palästina zweigeteilt, in einen von Hamas kontrollierten Gazastreifen und ein von Fatah kontrolliertes Westjordanland. In beiden Gebieten wurden Aktivisten der jeweils anderen Seite inhaftiert und misshandelt, deren Einrichtungen geschlossen, ihre Medien verboten und ihre Demonstrationen aufgelöst. 2012 einigten sich Präsident Mahmoud Abbas und (damaliger) Hamas-Chef Khaled Mashaal in Katar auf die Bildung einer Übergangsregierung unter Leitung von Mahmoud Abbas (GIZ 3.2020a).
Die PA wurde 1994 nach Abschluss der Osloer Verträge zwischen Israel und der PLO gegründet. Am 13.4.2019 wurde die neue PA unter Premierminister Mohammad Shtayyeh vereidigt. Grundpfeiler des politischen Systems sind der Präsident, die Regierung unter Vorsitz eines Premierministers sowie das Parlament, der sogenannte Legislativrat (Palestinian National Council – PLC) mit 132 Sitzen. Das Wahlrecht sieht Verhältniswahl (Landesebene) und Direktwahl (Bezirksebene) vor. Letzte Wahlen in der Westbank und Gaza fanden im Januar 2006 statt; die vierjährige Legislaturperiode ist seit 2010 abgelaufen. Der Legislativrat tagt seit der Machtübernahme der Hamas in Gaza im Juni 2007 nicht mehr. Am 22.12.2018 hat Präsident Abbas den PLC für aufgelöst erklärt (AA 6.11.2019b; vgl. FH 4.2.2019). Parlamentswahlen hätten in den folgenden sechs Monaten stattfinden sollen, was nicht passierte. Die Hamas lehnte die Entscheidung über die Auflösung des PLC ab (FH 4.2.2019). Der Präsident der Palästinensischen Behörde wird vom Volk direkt gewählt. Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden im Januar 2005 statt. Die Amtszeit von Präsident Abbas ist formal seit 2009 abgelaufen (AA 6.11.2019b; vgl. FH 4.2.2019). Präsident Abbas ist auch Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation und Generalkommandant der Fatah-Bewegung (USDOS 11.3.2020). Der Premierminister ist laut Verfassung gegenüber dem Präsidenten und dem Legislativrat für sein Handeln und das Handeln des Kabinetts verantwortlich (GIZ 3.2020a).
Der Gazastreifen steht seit 2007 unter einer Blockade seitens Israel, was sich schwer auf die Wirtschaft auswirkt(e). Der gesamte Waren- und Personenverkehr in und aus dem Gaza-Streifen ist stark eingeschränkt. Die Bevölkerung in Gaza beläuft sich auf 1,9 bis 2 Millionen, von denen etwa 1,57 Millionen registrierte palästinensische Flüchtlinge sind (UNRWA 2019; vgl. GIZ 3.2020b).
Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 kam es 2007 zum Bruch zwischen der Hamas und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Im Gazastreifen regiert die Hamas seitdem allein und wird höchstens von noch radikaleren Kräften herausgefordert (DS 17.5.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). Obwohl die Gesetze der PA in Gaza formal gültig sind, hat sie nur wenig Autorität, und die Hamas verfügt über die de facto-Kontrolle (USDOS 11.3.2020). Seit 2007 funktioniert der Gazastreifen als De-facto-Einparteienstaat unter der Herrschaft der Hamas, obwohl kleinere Parteien - darunter der Islamische Dschihad, die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und eine von Präsident Abbas nicht unterstützte Fraktion der Fatah - in unterschiedlichem Maße toleriert werden. Einige dieser Gruppen verfügen über eigene Medien und veranstalten Kundgebungen und Versammlungen. Diejenigen, die mit Präsident Abbas und seinen Unterstützern in der Fatah verbunden sind, sind jedoch der Verfolgung ausgesetzt (FH 4.2.2019). Zivilgesellschaftliche Organisationen in Gaza geben an, dass die Hamas und andere islamistische Gruppen keinen öffentlichen Dissens, keine Opposition und keinen bürgerlichen Aktivismus tolerieren (USDOS 11.3.2020). Am 6. Mai 2017 wurde Ismail Haniyye zum neuen Vorsitzenden des Politbüros der Hamas gewählt. Er löste damit Khaled Mashaal ab, der das Amt seit 1996 innehatte (GIZ 3.2020a).
In den letzten Jahren sind mehrere Versöhnungsversuche zwischen Fatah und Hamas gescheitert (CGRS 6.3.2020). Am 12. Oktober 2017 unterzeichneten Fatah und Hamas in Kairo erneut ein Versöhnungsabkommen. Nach 2011 und 2014 ist dies der dritte Versuch, den seit mehr als zehn Jahren bestehenden Konflikt zwischen den beiden wichtigsten politischen Bewegungen in Palästina zu überwinden. Am 21. Dezember 2017 erklärte jedoch der Hamas-Chef im Gazastreifen Yahia al-Sinwar, dass das Abkommen vom 12.10.2017 dabei sei, zu scheitern (GIZ 3.2020a). Die ständige Verschiebung der Wahlen im Gaza-Streifen verhindert jede Möglichkeit für eine Änderung des politischen Status quo. Die Umsetzung des Versöhnungsabkommens von 2017, das schließlich zu Wahlen geführt hätte, scheiterte zum Teil an der Frage der Kontrolle über die innere Sicherheit des Gazastreifens, da die Hamas ihren unabhängigen bewaffneten Flügel und eine dominante Sicherheitsposition im Territorium behalten wollte (FH 4.2.2019; vgl. CGRS 6.3.2020). Die Kontrolle über die Grenzübergänge wurde von der Hamas 2017 auf die PA übertragen (CGRS 6.3.2020; vgl. DS 1.11.2017), wenngleich die Hamas trotzdem über die de facto Kontrolle in Sicherheits- und anderen Angelegenheiten hatte (USDOS 20.4.2018). Im Jänner 2019 zog die PA ihre Mitarbeiter am Grenzübergang zu Ägypten (Rafah) mit der Begründung zurück, dass die Hamas die Arbeit ihrer Mitarbeiter behindere (CGRS 6.3.2020).
Es gibt noch keinen Termin für die nächsten Präsidentschaftswahlen (FH 4.2.2019; vgl. CGRS 6.3.2020). Entscheidungen über die Durchführung von Wahlen sind stark politisiert. Die PA führte 2017 Gemeinderatswahlen im Westjordanland durch, aber die Hamas lehnte angesichts der Streitigkeiten zwischen Hamas und Fatah über die Kandidatenlisten die Teilnahme ab, und im Gazastreifen wurden keine Wahlen abgehalten. Auch bei den letzten Kommunalwahlen 2012 war der Gazastreifen von der Teilnahme ausgeschlossen. Versöhnungs- und Wiedervereinigungs-versuche zwischen Fatah und Hamas bleiben weiterhin erfolglos (FH 4.2.2019). Die Fähigkeit palästinensischer Beamter, im Gazastreifen Politik zu machen und umzusetzen, ist durch israelische und ägyptische Grenzkontrollen, israelische Militäraktionen und die anhaltende Spaltung mit der PA im Westjordanland stark eingeschränkt (FH 4.2.2019).
2005 zog Israel sein Militär und die nach 1967 angesiedelten Israelis aus dem Gazastreifen ab, behielt jedoch die Kontrolle über Außengrenzen und Luftraum unilateral bei: Daraus resultiert der Rechtsstreit, ob der Gazastreifen noch besetzt ist oder nicht (DS 17.5.2018). Israel hat weiterhin die Kontrolle über Wasser, Elektrizität, Infrastruktur, Grenzübergänge, medizinische Behandlung, Exporte/Importe und viele andere Bereiche des täglichen Lebens. Den Palästinensern kommt keine Souveränität über ihre Ressourcen zu (MEE 13.10.2019). Die Blockade des Gazastreifens seit 2007 durch Israel, die durch die ägyptischen Beschränkungen an der Grenze zum Gazastreifen noch verschärft wird, schränkt den Zugang der fast zwei Millionen dort lebenden Palästinenser zu Bildung, wirtschaftlichen Möglichkeiten, medizinischer Versorgung, sauberem Wasser und Elektrizität ein. Achtzig Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen sind von humanitärer Hilfe abhängig (HRW 14.1.2020; vgl. FH 4.2.2019).
Die EU, Israel und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (Zeit Online 28.8.2019). Die Hamas verhaftete in der ersten Jahreshälfte 2019 Hunderte Salafisten. Gruppen wie der sogenannte Islamische Staat sind im Gazastreifen momentan nicht stark organisiert, aber die Gefahr, dass sie hier Fuß fassen könnten, ist sehr groß (Zeit Online 8.7.2019).
Quellen:
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- AA - Auswärtiges Amt (6.11.2019b): Palästinensische Gebiete: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/palaestinensischegebiete-node/politisches-portrait/204438, Zugriff 31.3.2020
- BBC – BBC News (17.12.2014): MEPs back Palestinian statehood bid, https://www.bbc.com/news/blogs-eu-30516523, Zugriff 31.3.2020
- BMEIA – Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (18.3.2020): Palästina, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/palaestina/, Zugriff 31.3.2020
- BPB – Bundeszentrale für politische Bildung (30.11.2012): Vereinte Nationen machen Palästina zum Beobachterstaat, https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/150698/un-machen-palaestina-zum-beobachterstaat-30-11-2012, Zugriff 31.3.2020
- BPB – Bundeszentrale für politische Bildung (17.7.2011): Hamas und Palästinensischer Islamischer Jihad, https://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36365/hamas, Zugriff 31.3.2020
- Britannica – Encyclopaedia Britannica (o.D.): Palestine Liberation Organization, https://www.britannica.com/topic/Palestine-Liberation-Organization, Zugriff 31.3.2020
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- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Länderinformationsportal (3.2020b): Palästinensische Gebiete, Überblick, https://www.liportal.de/palaestinensische-gebiete/ueberblick/, Zugriff 31.3.2020
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- USDOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Israel, Golan Heights, West Bank, and Gaza - West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/en/document/1430367.html, Zugriff 3.4.2020
- VP - Vertretung von Palästina in Österreich (o.D.): Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), https://www.palestinemission.at/palaestinensische-befreiungsorganis, Zugriff 31.3.2020
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- Zeit Online (8.7.2019): "Es könnte eine Hungerkatastrophe geben", https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-07/palaestina-unrwa-gazastreifen-fatah-hamas-israel/komplettansicht, Zugriff 28.4.2020
- Zenith - Zenith Online (30.11.2012): Grüne Brise in Ramallah, http://www.zenithonline.de/deutsch/politik//artikel/gruene-brise-in-ramallah-003490/, Zugriff 31.3.2020
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Israel und den Palästinensischen Gebieten ist wesentlich vom israelisch-palästinensischen Konflikt geprägt (AA 25.3.2020). Auch den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage im besetzten Palästinensischen Gebiet auswirken (EDA 30.3.2020).
1994 begann Israel einen Grenzzaun zu bauen, der 2000, während der Intifada, attackiert und danach durch eine Sicherheitsbarriere ersetzt wurde. Dabei richtete Israel auch eine Pufferzone auf dem Gebiet des Streifens ein (was ihn noch schmäler macht), in die laut israelischen Einsatzregeln scharf hineingeschossen werden kann. Die Breite der Zone, bis zu 300 Meter, wird variabel festgelegt – dort fanden in der Vergangenheit Aufmärsche statt. 2005 zog Israel sein Militär und die nach 1967 angesiedelten Israelis aus dem Gazastreifen ab, behielt jedoch die Kontrolle über Außengrenzen und Luftraum unilateral bei: Daraus resultiert der Rechtsstreit, ob der Gazastreifen noch besetzt ist oder nicht. Die letzten Jahre sind geprägt von einem Wechselspiel von Raketenangriffen auf Israel aus dem Gazastreifen, dem Bau von Schmuggel- und Angriffstunnels – und der immer wieder gelockerten und angezogenen Blockade durch Israel (DS 17.5.2018) sowie israelischen Militäroffensiven (AA 25.3.2020).
Für den Gazastreifen besteht eine Reisewarnung (AA 25.3.2020; vgl. BMEIA 18.3.2020). Die Lage ist äußerst gespannt. Seit Ende März 2018 kommt es immer wieder zu Massenprotesten entlang der Grenze zu Israel. Gewaltsame Konfrontationen zwischen Demonstranten und der israelischen Armee haben zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert (EDA 30.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Seit März 2018 kam es im Gazastreifen regelmäßig zu Demonstrationen entlang des Grenzzauns zu Israel (“Great March of Return“), teils wöchentlich. Viele der Proteste waren mit Gewalt verbunden, es wurden insgesamt mehr als 200 Palästinenser getötet und Tausende verletzt (CIA 15.3.2020). Andere Quellen sprechen von mehr als 180 getöteten Palästinensern, viele durch scharfe Munition der israelischen Streitkräfte. Laut einer NGO wurden im Jahr 2018 in Gaza insgesamt 255 Palästinenser durch israelische Streitkräfte getötet, die höchste Zahl seit den offenen Kampfhandlungen 2014. Viele der Opfer waren zivile Demonstranten in der Nähe des Grenzzauns, andere Todesopfer waren auf israelische Luftangriffe sowie Schusswechsel mit in Gaza ansässigen militanten Kämpfern zurückzuführen (FH 4.2.2019).
Die Kämpfe zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen in Gaza waren mit unrechtmäßigen Angriffen und zivilen Opfern verbunden. Israelische Streitkräfte feuern weiterhin scharfe Munition auf Demonstranten innerhalb des Gazastreifens ab, die keine unmittelbare Bedrohung des Lebens darstellen, was gegen internationale Menschenrechtsstandards verstößt. Nach Angaben einer palästinensischen Menschenrechtsorganisation haben die israelischen Streitkräfte bei den Protesten im Jahr 2019 bis Ende Oktober 34 Palästinenser getötet und nach Angaben des Gesundheitsministeriums des Gazastreifens 1.883 mit scharfer Munition verletzt (HRW 14.1.2020). Eine weitere Quelle gibt an, dass im Jahr 2019 38 Palästinenser im Rahmen der Proteste entlang des Grenzzauns getötet wurden (USDOS 11.3.2020). Insbesondere werden zahlreiche, mit Brandsätzen ausgestattete Drachen und Ballons eingesetzt, die vom Gazastreifen aus starten und im Nahbereich des Zauns landen. Auch Raketen- und Mörserbeschuss aus dem Gazastreifen heraus auf israelisches Staatsgebiet und israelische Gegenangriffe kommen des Öfteren vor (AA 25.3.2020; vgl. Zeit 28.8.2019).
Die Eskalation des Konflikts im und um den Gazastreifen forderte im Sommer 2014 über 2000 Todesopfer und zahlreiche Verletzte. Am 26. August 2014 ist ein (unbefristeter) Waffenstillstand geschlossen worden. Trotz des Waffenstillstandsabkommens nehmen die Spannungen periodisch zu und führen immer wieder zu Raketenbeschüssen auf israelische Gebiete und zu militärischen Aktionen der israelischen Armee im Gazastreifen, wie z.B. Anfang Mai 2019 (EDA 30.3.2020). Die von Ägypten vermittelte inoffizielle Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas war mehrfach gebrochen worden (Zeit 28.8.2019). Auch in den Monaten Juli, August, Oktober und November 2018 sowie März 2019 hatte es mehrere kleinere Gewaltausbrüche gegeben, die zum Teil zivile Todesopfer zur Folge hatten (HRW 4.2.2020). Palästinensische Kämpfer beschossen Israel mit mehr als 1.340 Raketen und Mörsergranaten, es wurden laut israelischer Regierung fünf israelische Soldaten getötet. Als Reaktion auf diese Angriffe starteten die Israeli Defense Forces im Laufe des Jahres 2019 579 Luftangriffe auf Ziele in Gaza, die nach Angaben der Vereinten Nationen zusammen mit Panzerbeschuss 66 Palästinenser, darunter 10 Minderjährige, töteten (USDOS 11.3.2020).
Nach der Eskalation der Lage zwischen Israel und dem Gaza-Streifen vom 12. und 13. November 2019 (BMEIA 18.3.2020; vgl. DW 13.11.2019) herrscht seit dem 14. November nunmehr ein Waffenstillstand. Ein neuerliches Aufflammen der feindseligen Handlungen kann aber nicht ausgeschlossen werden. In Palästina finden immer wieder Protestmärsche und Kundgebungen statt, im Gaza-Streifen kommt es zudem zu massiven Zusammenstößen mit Todesopfern am Grenzzaun (BMEIA 18.3.2020). Es kommt vor, dass die Grenzübergänge zwischen Israel und dem Gazastreifen vorübergehend und ohne Vorwarnung auf unbestimmte Zeit abgeriegelt werden (EDA 30.3.2020; vgl. AA 25.3.2020). Der Gazastreifen ist seit Juni 2007 für den allgemeinen Personenverkehr von und nach Israel fast vollständig abgeriegelt [Anm.: siehe Kapitel zu Bewegungsfreiheit] (AA 25.3.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (25.3.2020): Palästinensische Gebiete: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/palaestinensischegebiete-node/palaestinensischegebietesicherheit/203674, Zugriff 31.3.2020
- BMEIA – Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (18.3.2020): Palästina, Sicherheit & Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/palaestina/, Zugriff 1.4.2020
- CIA – Central Intelligence Agency (15.3.2020): The World Factbook, Middle East, Gaza Strip, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gz.html, Zugriff 31.3.2020
- DS - Der Standard (17.5.2018): Gaza und das Fenster zur Welt, https://derstandard.at/2000079890527/Gaza-und-das-Fenster-zur-Welt, Zugriff 31.3.2020
- DW – Deutsche Welle (13.11.2019): Israel fliegt Vergeltungsangriffe auf Gaza, https://www.dw.com/de/israel-fliegt-vergeltungsangriffe-auf-gaza/a-51220622, Zugriff 1.4.2020
- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (30.3.2020): Reisehinweise für das Besetzte Palästinensische Gebiet (dazu gehören das Westjordanland, einschliesslich Ostjerusalem, und der Gazastreifen), https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/besetztes-palaestinensisches-gebiet/reisehinweise-besetztes-palaestinensisches-gebiet.html, Zugriff 1.4.2020
- FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Gaza Strip, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004334.html, Zugriff 31.3.2020
- HRW – Human Rights Watch (4.2.2020): Gaza: Apparently Unlawful Israeli Strikes Kill At Least 11 Civilians, https://www.hrw.org/news/2020/02/04/gaza-apparently-unlawful-israeli-strikes-kill-least-11-civilians, Zugriff 1.4.2020
- HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Israel and Palestine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022793.html, Zugriff 31.3.2020
- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 31.3.2020
- Zeit Online (28.8.2019): Drei palästinensische Polizisten bei Explosion in Gaza getötet, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/gazastreifen-polizisten-palaestinenser-explosion-hamas, Zugriff 1.4.2020
Rechtsschutz / Justizwesen
Rechtssicherheit wird in Palästina dadurch erschwert, dass immer noch Elemente des osmanischen, britischen, jordanischen, ägyptischen, israelischen (israelische Militärverordnungen) und palästinensischen Rechts (seit 1994) nebeneinander existieren. Darüber hinaus wird in Palästina Gewohnheitsrecht und religiöses Recht (insbesondere im Familienrecht) angewandt. Daneben werden die Beschlüsse des Obersten Palästinensischen Gerichtshofes nicht immer umgesetzt (GIZ 3.2020a). Obwohl die Gesetze der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Gaza formal gültig sind, hat die PA nur wenig Autorität, und die Hamas verfügt über die de-facto-Kontrolle (USDOS 11.3.2020). Die Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas wirken sich auch auf das Justizwesen aus. Nach der Spaltung untersagte die palästinensische Behörde ehemaligen Mitarbeitern der Justizbehörden (und auch der Sicherheitskräfte) im Gazastreifen für die Verwaltung der Hamas zu arbeiten. Sie wurden stattdessen von der palästinensischen Behörde bezahlt, ohne zu arbeiten. Die Hamas stellte Ersatz-Staatsanwälte und Richter ein, die häufig keine entsprechende Ausbildung und Qualifikation für die Aufgaben hatten (GIZ 3.2020a).
Die Gesetze der PA sehen das Recht auf eine unabhängige Justiz sowie einen fairen und öffentlichen Prozess vor. Verfahren sind öffentlich, außer in Sonderfällen, etwa wenn es zum Schutz bestimmter Interessen nötig ist, das Verfahren nichtöffentlich abzuhalten. Es gilt die Unschuldsvermutung und der Angeklagte hat das Recht, zeitnah über die gegen ihn vorliegende Anklage informiert zu werden. Gemäß Amnesty International werden diese Rechte manchmal nicht gewahrt. Rechtsbeistand ist vorgesehen, auf Kosten des Staates, wenn nötig. Die Angeklagten haben das Recht auf Berufung. Während die PA in der Westbank diese prozeduralen Rechte weitgehend gewährleistet, implementiert sie die Hamas-Behörde im Gazastreifen nur inkonsistent (USDOS 11.3.2020). Dem Gerichtssystem der Hamas gelingt es üblicherweise nicht, einen fairen Prozess zu gewährleisten (FH 4.2.2019).
Die Hamas unterhält ein ad hoc Justizsystem, das getrennt von Strukturen der PA funktioniert. Das System ist politischer Einflussnahme ausgesetzt, Richtern mangelt es an angemessener Ausbildung und Erfahrung (FH 4.2.2019). Die Gerichte der Hamas, sowie deren Richter und Staatsanwälte, werden von der PA als illegal betrachtet. Die Bewohner des Gazastreifens können zivilrechtliche Klagen einreichen, auch wenn es um behauptete Menschenrechtsverletzungen geht; dies ist jedoch selten (USDOS 11.3.2020). Das von der Hamas beaufsichtigte Gerichtssystem gewährleistet im Allgemeinen keine ordnungsgemäßen Verfahren und in einigen Fällen werden Zivilisten vor Militärgerichten angeklagt (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Es gibt Berichte über willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Hamas, sowie über politisch motivierte Festnahmen. Es gibt keine rechtlichen oder unabhängigen Institutionen, die in der Lage gewesen wären, die Hamas als de-facto-Autorität im Gazastreifen zur Rechenschaft zu ziehen (USDOS 11.3.2020).
Die Israeli Defence Force (IDF) stellt Palästinenser, die wegen Sicherheitsdelikten beschuldigt werden, vor israelische Militärgerichte, denen seitens mancher NGOs vorgeworfen wird, unangemessen und unfair zu sein (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020).
Stammesgerichte spielen in Gaza eine wichtige Rolle für die Stabilität in der Gesellschaft (Al-Monitor 28.3.2018; vgl. GIZ 3.2020a). Die Menschen in Gaza bringen ihre Fälle lieber vor Stammesgerichte, weil diese meist sehr schnell ein Urteil fällen. Die Stammesgerichte stehen nicht im Widerspruch zur offiziellen Gerichtsbarkeit, sie operieren mit Unterstützung der Letzteren. Problematisch ist, das die Stammesrichter (tribal arbitrators) nicht im selben Maße unparteiisch sind wie offizielle Richter (Al-Monitor 28.3.2018).
Rechtlich anerkannte religiöse Gruppen sind befugt, über Fragen des persönlichen Status wie Ehe, Scheidung und Erbschaft zu entscheiden. Sie können geistliche Gerichte einrichten, um rechtsverbindliche Entscheidungen über den Personenstand und einige Vermögensfragen für Mitglieder der Religionsgemeinschaft zu treffen (USDOS 21.6.2019).
Quellen:
- Al-Monitor (28.3.2018): Tribal law keeps imperfect order in Gaza, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/03/customary-law-among-tribes-has-upper-hand-in-gaza-strip.html, Zugriff 1.4.2020
- FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Gaza Strip, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004334.html, Zugriff 31.3.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Länderinformationsportal (3.2020a): Palästinensische Gebiete, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/palaestinensische-gebiete/geschichte-staat/, Zugriff 31.3.2020
- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 31.3.2020
- USDOS – United States Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: Israel: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2011172.html, Zugriff 1.4.2020
Sicherheitsbehörden
Im Gazastreifen verfügt die Hamas in allen Gesellschaftsbereichen de-facto die Kontrolle. Es gibt keine rechtlichen oder unabhängigen Institutionen, die in der Lage sind, die Hamas zur Verantwortung bzw. Rechenschaft zu ziehen. Für die innere Sicherheit in Gaza zuständig sind Zivilpolizei, Wach- und Schutztruppen, eine interne Geheimdienst- und Ermittlungseinheit sowie der Zivilschutz. Für die nationale Sicherheit zuständig sind die nationalen Sicherheitskräfte, die Militärjustiz, die Militärpolizei, der medizinische Dienst und die Gefängnisbehörde. In einigen Fällen nutzen die "zivilen" Hamas-Behörden de facto den militärischen Flügel der Hamas-Bewegung, um gegen interne Meinungsverschiedenheiten vorzugehen (USDOS 11.3.2020).
Die Hamas hat kein konventionelles Militär im Gazastreifen, sondern unterhält verschiedene Einheiten von Sicherheitskräften, zusätzlich zu ihrem bewaffneten Flügel, der Izz al-Din al-Qassam Brigade. Dieser militärische Flügel untersteht dem politischen Büro der Hamas. Es gibt mehrere andere militante Gruppierungen, die im Gazastreifen operieren, vor allem die Al-Quds-Brigaden des Palästinensischen Islamischen Dschihad, die normalerweise, aber nicht immer, der Autorität der Hamas unterstehen (CIA 15.3.2020). Die Izz al-Din al-Qassam Brigade kann, gemäß Informationen aus dem Jahr 2014, als etwa 7.000 Mann starke „stehende Armee“ gesehen werden, mit einem Mobilisierungspotential von etwa 25.000 Mann (GS 1.5.2017). Die EU, Israel und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (Zeit 28.8.2019), genauso wie Izz al-Din al-Qassam. Auch der Islamische Dschihad wird von der EU als terroristische Gruppierung eingestuft (EU 8.8.2019).
Die Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas wirken sich auch auf die Sicherheitskräfte aus. Nach der Spaltung untersagte die palästinensische Behörde ehemaligen Mitarbeitern der Sicherheitskräfte, im Gazastreifen für die Verwaltung der Hamas zu arbeiten. Sie wurden stattdessen von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bezahlt, ohne zu arbeiten. Die Arbeit der palästinensischen Sicherheitsdienste und der Polizei wird jedoch auch durch die israelische Armee behindert, z.B. zerstörte sie während des Gazakrieges im Dezember 2008 alle Gefängnisse und Haftzentren in Gaza durch Bombenangriffe (GIZ 3.2020a). Israel behält die effektive zivile Kontrolle über seine Sicherheitskräfte im Gazastreifen bei (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- CIA – Central Intelligence Agency (15.3.2020): The World Factbook, Middle East, Gaza Strip, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gz.html, Zugriff 31.3.2020
- EU – Europäische Union (8.8.2019): Beschluss (GASP) 2019/1341 des Rates vom 8. August 2019, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/HTML/?uri=CELEX:32019D1341&from=en, Zugriff 29.4.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Länderinformationsportal (3.2020a): Palästinensische Gebiete, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/palaestinensische-gebiete/geschichte-staat/, Zugriff 31.3.2020
- GS – Global Security (1.5.2017): HAMAS (Islamic Resistance Movement), https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hamas.htm, Zugriff 31.3.2020
- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 31.3.2020
- Zeit – Zeit Online (28.8.2019): Drei palästinensische Polizisten bei Explosion in Gaza getötet, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/gazastreifen-polizisten-palaestinenser-explosion-hamas, Zugriff 31.3.2020
Folter und unmenschliche Behandlung
Das Grundgesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verbietet Folter und die Ausübung von Gewalt gegen Gefangene. Folter und Misshandlungen kommen jedoch weiterhin vor (USDOS 11.3.2020) bzw. sind weit verbreitet (HRW 29.5.2019; vgl. HRW 10.2018). Sowohl die PA im Westjordanland als auch die Hamas-Behörden im Gazastreifen verhaften und foltern routinemäßig friedliche Kritiker und Gegner (HRW 14.1.2020; vgl. HRW 10.2018). In den Haftanstalten sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland kommt es regelmäßig zu Folter durch die Sicherheitsdienste der Hamas und der PA (HRW 10.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). Da sich der Konflikt zwischen der Palästinensischen Behörde und der Hamas verschärft hat, haben beide Parteien die Unterstützer der jeweils anderen ins Visier genommen. Die Täter bleiben oft straffrei (HRW 10.2018).
Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen hat die Hamas Dutzende von Palästinensern, die wegen ihrer Teilnahme an der „Bidna Na'eesh“-Bewegung („Wir wollen leben“-Bewegung) verhaftet wurden, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, darunter schwere Schläge, das Brechen von Gliedmaßen, etc. In einem Zeitraum von 18 Monaten bis April 2019 beschwerten sich laut Human Rights Watch (HRW) 213 Palästinenser in Gaza über Folter und Misshandlung durch die Hamas (USDOS 11.3.2020). Eine andere Quelle spricht von 156 Berichten über Fälle von Folter und anderweitigen Misshandlungen im Gazastreifen, die die Unabhängige Kommission für Menschenrechte (ICHR), die nationale palästinensische Menschenrechtsinstitution, bis Ende November 2019 erhalten hat (AI 18.2.2020).
Quellen:
- AI – Amnesty International (18.2.2020): Menschenrechte im Nahen Osten und in Nordafrika: 2019; Staat Palästina, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026071.html, Zugriff 29.4.2020
- HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Israel and Palestine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022793.html, Zugriff 1.4.2020
- HRW – Human Rights Watch (10.2018): Palestine: Authorities Crush Dissent, https://www.ecoi.net/de/dokument/1447616.html, Zugriff 1.4.2020
- HRW – Human Rights Watch (29.5.2019): Palestine: No Letup in Arbitrary Arrests, Torture, https://www.hrw.org/news/2019/05/29/palestine-no-letup-arbitrary-arrests-torture, Zugriff 1.4.2020
- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 31.3.2020
Korruption
Gesetzliche Regelungen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sehen Strafen für behördliche Korruption vor. In der Praxis wird jedoch wenig getan, um gegen korrupte Beamte vorzugehen (USDOS 11.3.2020). Die von der Hamas kontrollierte Regierung verfügt über keine wirksamen oder unabhängigen Mechanismen zur Gewährleistung von Transparenz in Sachen Finanzierung, der Beschaffung oder ihrer Tätigkeit (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Gazastreifen werfen örtliche Beobachter und NGOs der Hamas Fälle von Mittäterschaft bei korrupten Vorgängen vor, einschließlich Vergünstigungen bei Einkaufskonditionen für Immobilien, und der Erzielung von finanziellen Einnahmen in Zusammenhang mit Gebührenforderungen gegenüber Importeuren im Gazastreifen. Hamas-Behörden unterdrücken die Berichte und den Zugang zu Informationen massiv. Importeure von eingeschränkt importierbaren Gütern, die dem Ministerium für zivile Angelegenheiten der PA nahe stehen, werden gemäß Informationen lokaler Geschäftsleute bevorzugt behandelt (USDOS 11.3.2020).
Laut Korruptionsbericht 2018 der palästinensischen Vereinigung AMAN – Coalition for Accountability and Integrity ist 2018 wie in den vorhergehenden Jahren die häufigste Form der Korruption im öffentlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Bereich in Palästina die Vettern-, Klüngel- und Günstlingswirtschaft bei Dienstleistungen und Stellenbesetzungen (Wasta = gute Beziehungen). Daneben sind u.a. die Verletzung der Treuepflicht, Machtmissbrauch, der Missbrauch öffentlicher Gelder, die Veruntreuung von öffentlichen Geldern, Bestechung, Betrug, die Nichtbefolgung von Gerichtsentscheidungen und Geldwäsche zu beklagen (GIZ 3.2020a).
Quellen:
- FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Gaza Strip, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004334.html, Zugriff 31.3.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Länderinformationsportal (3.2020a): Palästinensische Gebiete, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/palaestinensische-gebiete/geschichte-staat/, Zugriff 31.3.2020
- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 31.3.2020
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Es gibt ein breites Spektrum palästinensischer NGOs und zivilgesellschaftlicher Gruppen. Die Hamas betreibt ein großes Netzwerk sozialer Dienste, schränkt die Aktivitäten von Hilfsorganisationen jedoch ein, wenn diese sich nicht den Restriktionen der Hamas beugen. Viele zivil-gesellschaftliche Gruppen wurden seit der Spaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) 2007 aus politischen Gründen geschlossen. Die Hilfs- und Wiederaufbaubemühungen von NGOs nach dem Konflikt mit Israel im Jahr 2014 werden teilweise durch Meinungsverschiedenheiten über den Zugang zum Staatsgebilde und die Kontrolle über die Grenzübergänge behindert (FH 4.2.2019).
In Gaza versucht die Hamas, verschiedene Organisationen an der Arbeit zu hindern, darunter aus Sicht der Hamas mit der Fatah in Verbindung stehende Organisationen, sowie Privatunternehmen und NGOs, die nach Ansicht der Hamas gegen ihre Interpretation der islamischen Gesellschaftsnormen verstoßen. Das „Innenministerium“ der Hamas beansprucht die Überwachungsbefugnis über alle NGOs. Ihre Repräsentanten belästigen regelmäßig NGO-Mitarbeiter und erfragen Informationen über Angestellte, Gehälter und Aktivitäten. In Gaza stationierte NGOs berichten, dass Mitglieder der Hamas in ihren Büros auftauchen, um Steuern einzutreiben, die Herausgabe von Begünstigtenlisten zu fordern, Gehaltsinformationen abzufragen und um Mitarbeiter der NGOs zur Befragung auf Polizeistationen zu bringen (USDOS 11.3.2020).
Außerdem gibt es zahlreiche Berichte, dass die Hamas Mitglieder von internationalen Organisationen schikanieren. Palästinensische, israelische und internationale NGOs beobachten die Aktivitäten der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten und publizieren ihre Erkenntnisse, obwohl Bewegungs- und Zugangsbeschränkungen, beispielsweise an der Grenze zwischen Israel und Gaza, diese Arbeit erschweren. Humanitäre Organisationen äußern sich weiterhin besorgt über den schwindenden Handlungsspielraum für internationale NGOs im Gazastreifen, einschließlich einer erheblichen Zunahme der israelischen Reiseverbote, die ihre in Gaza stationierten Mitarbeiter betreffen. Die israelischen Behörden verstärkten die Kontrolle von nichtstaatlichen Besuchern sowie von Diplomaten, die in den Gazastreifen reisen (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Gaza Strip, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004334.html, Zugriff 1.4.2020
- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 31.3.2020
Wehrdienst und Rekrutierungen
Die Hamas hat kein konventionelles Militär im Gazastreifen, sondern unterhält verschiedene Einheiten von Sicherheitskräften, zusätzlich zu ihrem bewaffneten Flügel, der Izz al-Din al-Qassam Brigade. Dieser militärische Flügel untersteht dem politischen Büro der Hamas. Es gibt mehrere andere militante Gruppierungen, die im Gaza-Streifen operieren, vor allem die Al-Quds-Brigaden des Palästinensischen Islamischen Dschihad, die normalerweise, aber nicht immer, der Autorität der Hamas unterstehen (CIA 15.3.2020). Die Izz al-Din al-Qassam Brigade kann, gemäß Informationen aus dem Jahr 2014, als etwa 7.000 Mann starke „stehende Armee“ gesehen werden, mit einem Mobilisierungspotential von etwa 25.000 Mann (GS 1.5.2017).
Die EU, Israel und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (Zeit 28.8.2019; vgl. EU 8.8.2019), genauso wie Izza al-Din al-Qassam. Auch der Islamische Dschihad wird von der EU als terroristische Gruppierung eingestuft (EU 8.8.2019).
Quellen:
- CIA – Central Intelligence Agency (15.3.2020): The World Factbook, Middle East, Gaza Strip, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gz.html, Zugriff 31.3.2020
- EU – Europäische Union (8.8.2019): Beschluss (GASP) 2019/1341 des Rates vom 8. August 2019, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/HTML/?uri=CELEX:32019D1341&from=en, Zugriff 29.4.2020
- GS – Global Security (1.5.2017): HAMAS (Islamic Resistance Movement), https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hamas.htm, Zugriff 31.3.2020
- Zeit – Zeit Online (28.8.2019): Drei palästinensische Polizisten bei Explosion in Gaza getötet, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/gazastreifen-polizisten-palaestinenser-explosion-hamas, Zugriff 31.3.2020
Allgemeine Menschenrechtslage
Die Hamas übt im Gazastreifen die De-Facto-Kontrolle aus und legt der Bevölkerung Restriktionen gemäß ihrer Interpretation des Islam und der Scharia auf (USDOS 21.6.2019). Berichtet wird von ungesetzlichen oder willkürlichen Tötungen; Folter und willkürlicher Inhaftierung durch Beamte der Hamas; willkürlichen oder unrechtmäßigen Eingriffen in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Internetfreiheit; Gewaltandrohungen, Verhaftungen und Verfolgungen von Journalisten; Zensur; Sperren von Websites; wesentlichen Eingriffen in das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit; Einschränkungen der politischen Partizipation; Korruption, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten; Gewalt und Gewaltandrohungen gegen LGBTI-Personen; etc. (USDOS 11.3.2020). Menschenrechtsorganisationen kritisieren außerdem Misshandlungen in Haft, Haft ohne Anklageerhebung und Gerichtsverfahren, Angriffe auf israelische Zivilisten, insbesondere durch selbst gebaute Raketen auf den Süden Israels, Gewalt gegen Frauen und grundsätzlich ein Klima der Rechtlosigkeit und Straffreiheit, besonders bei Aktionen gegen die politischen Gegner. Außerdem wird kritisiert, dass in Palästina weiterhin die Todesstrafe existiert (GIZ 3.2020a).
Es gibt Berichte über willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Hamas, sowie über politisch motivierte Festnahmen. In vielen Fällen würden die Gefangenen ohne formelle Anklage oder ordnungsgemäße Verfahren festgehalten. Von willkürlicher Verhaftungen waren vor allem zivilgesellschaftliche Aktivisten, Fatah-Mitglieder, Journalisten und Personen, die die Hamas öffentlich kritisierten, betroffen. Es gibt auch Berichte darüber, dass die Hamas Personen festnahm, welche die Hamas (im Gazastreifen) online kritisierten. Die Hamas nahm auch jene ins Visier, von denen vermutet wird, dass sie Verbindungen zu Israel haben. Im März 2019 nahmen die Hamas-Sicherheitskräfte tausende Palästinenser in Gaza fest, die im Rahmen der „Bidna Na‘eesh“-Bewegung („Wir wollen leben“-Bewegung) gegen hohe Preise und schlechte Qualität der [staatlichen] Leistungen demonstriert hatten, darunter zivilgesellschaftliche Aktivisten, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Sicherheitskräfte der Hamas in Zivilkleidung und Uniformen schlugen, verhörten und folterten Hunderte der Demonstranten. Es gibt keine rechtlichen oder unabhängigen Institutionen, die in der Lage gewesen wären, die Hamas als de facto-Autorität im Gazastreifen zur Rechenschaft zu ziehen (USDOS 11.3.2020).
Auf der anderen Seite beklagen Menschenrechtsorganisationen auch zahlreiche Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch Israel in Palästina. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem wurden vom 19.01.2009 bis zum 31.12.2019 im Westjordanland und im Gazastreifen 3.512 Palästinenser durch israelische Sicherheitskräfte getötet, darunter 794 Minderjährige. Bei der israelischen Militäroperation "Protective Edge" im Gazastreifen im Juli/August 2014 kamen nach UN-Angaben mindestens 1.473 Zivilisten ums Leben (GIZ 3.2020). Laut dem Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) der Vereinten Nationen wurden seit 1.1.2018 (bis Stand 22.4.2020) im Gazastreifen 374 Palästinenser getötet, 260 davon im Jahr 2018, 108 im Jahr 2019 und sechs bis April 2020. Mehr als 37.000 Palästinenser wurden im Gazastreifen seit 1.1.2018 verletzt, davon 25.177 im Jahr 2018, 11.898 im Jahr 2019 und 36 bis Ende April 2020 (OCHA o.D.). Israels Blockade des Gazastreifens, die den Personen- und Warenverkehr in und aus dem Gebiet einschränkt