TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/15 L504 1303435-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.11.2021
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Entscheidungsdatum

15.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z3
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55

Spruch


L504 1303435-2/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Libanon, vertreten durch RA Dr. Blum, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.05.2021, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat:

Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 2 Ziffer 3 und 6 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wird gegen Sie ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführenden Partei (idF bP), ist Staatsangehöriger des Libanon. Sie reiste 2004 in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, der hinsichtlich Asyl und subsidiären Schutz mit 01.12.2012 rechtskräftig negativ entschieden wurde. Mit 07.03.2012 erhielt die bP erstmalig einen Aufenthaltstitel in Österreich. Mit 10.03.2017 erhielt sie einen Daueraufenthalt EU Aufenthaltstitel.

2. Die bP stellte Mitte 2019 einen BMS – Antrag (Antrag auf Mindestsicherung) und erzählte im Rahmen dessen, dass sie sich die letzten 2 Jahre nicht in Österreich, sondern im Libanon aufgehalten habe.

3. Mit Schreiben vom 29.06.2020 teilte der Magistrat XXXX der belangten Behörde (idF bB) mit, dass der mit 10.03.2017 der bP erteilte Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ erloschen sei, da sie sich von XXXX 2017 bis XXXX 2019 nicht im EWR-Raum aufgehalten habe. Es wären ex lege die Rechtsfolgen des § 20 Abs. 4 NAG (Aufenthalt von mehr als zwölf aufeinander folgenden Monaten außerhalb des EWR-Gebietes) eingetreten. Vorgelegt wurde hierzu eine Kopie des Reisepasses der bP mit Einreise- und Ausreisestempel.

Das Erlöschen des Aufenthaltsrechts wurde bereits von der zuständigen Behörde mit Bescheid vom 27.09.2019 festgestellt. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom LVwG mit Entscheidung vom 09.12.2019 als unbegründet abgewiesen und wurde darin insbesondere festgehalten, dass dem Vorbringen, die bP sei 2018 vorübergehend in Zypern gewesen, nicht zu folgen war. Die gegen die Entscheidung des LVwG eingebrachte Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof ebenfalls zurückgewiesen, welcher ua. darauf hinwies, dass die Rechtswirkungen des § 20 Abs. 4 NAG ex lege eintreten und eine Interessensabwägung nicht vorgesehen ist.

Gemäß dem Schreiben des Magistrats vom 29.06.2020 sei der Aufenthalt der bP nunmehr illegal. Die bP habe zwar bereits ihre Aufenthaltskarte abgegeben. Dabei habe sie aber bekannt gegeben, dass sie keinen Reisepass mehr habe und das Land nicht verlassen könne.

Vom Magistrat wurde neben der bB die Fremdenpolizei über den offensichtlich unrechtmäßigen Aufenthalt der bP informiert.

4. Mit Verständigung von der Beweisaufnahme vom 03.07.2020 wurde die bP von der bB zur Stellungnahme hinsichtlich einer beabsichtigten aufenthaltsbeendenden Maßnahme aufgefordert und wurde ihr ein Fragebogen übermittelt.

Die Stellungnahme (ausgefüllter Fragebogen) langte am 09.07.2020 bei der bB ein.

5. Mit Mail vom 27.07.2020 teilte die Niederlassungsbehörde mit, dass die bP am 08.07.2020 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 41a Abs. 6 NAG gestellt hat. Der Niederlassungsbehörde wurde in der Folge mitgeteilt, dass die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme geprüft wird.

6. Mit Email vom 03.08.2020 teilte die LPD mit, dass die bP unter der Zahl XXXX mit Straferkenntnis vom 11.08.2020 wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes mit Euro 500,- bestraft worden ist. Mit Erkenntnis des LVwG vom XXXX , XXXX , wurde die Rechtmäßigkeit der Bestrafung durch die LPD wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes (gemäß § 120 Abs. 1 a FPG) bestätigt und die von der bP dagegen erhobene Beschwerde rechtskräftig abgewiesen.

7. Mit Email vom 17.11.2020 teilte der Magistrat mit, dass der bP die Gewerbeberechtigung entzogen worden ist.

8. Am 19.01.2021 wurde die bP niederschriftlich vor der bB einvernommen, die wesentlichen Passagen gestalteten sich wie folgt:

F: Wo ist Ihr Reisepass.

A: Zuhause, aber ich habe ihn nicht gefunden.

F. Welche Sprachen sprechen Sie.

A. Arabisch Deutsch, ein bisschen Englisch.

Sie sprechen ausreichend gut Deutsch, die Befragung wird in Deutsch durchgeführt.

Sie werden nunmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sie im Fall von Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen können.

A: Geht in Ordnung.

V: Ihnen werden die Anwesenden vorgestellt und der Zweck und Ablauf der Einvernahme erläutert. Sie werden davon in Kenntnis gesetzt, dass gegen Sie nunmehr ein Verfahren zur Erlassung einer Sicherungsmaßnahme geführt wird.

Zur Prüfung dieses Sachverhaltes sind Sie, auch in Ihrem Interesse einer möglichsten Vermeidung von Eingriffen in Ihre Rechte, zur mitwirkenden Klärung des Sachverhaltes verpflichtet und haben die Möglichkeit das Parteiengehör wahrzunehmen.

A: Geht in Ordnung.

F. Wie ist Ihr derzeitiger Gesundheitszustand?

A. Ich bin gesund.

V: Der Mag. XXXX gab bekannt, dass Sie Ihr Aufenthalsrecht „Daueraufenthalt EU“, das Sie mit 10.03.2017 erhielten, verloren, da Sie sich mehr als 12 Monate außerhalb des EWR-Gebietes aufhielten, dies wurde auch durch die Entscheidung des LVwG vom 11.05.2020 bestätigt. Sie sind somit ohne Aufenthaltsrecht, also unrechtmäßig in Österreich aufhältig

Was sagen Sie dazu?

A: Ich weiß das.

F: Warum sind Sie nach Entzug des Aufenthaltstitels nicht ausgereist.

A: Ich hatte eine Scheidung im Libanon, die dauerte ab 2018 ca. 1 Jahr. Ich bekam dann glaublich im Sommer 2019, da war ich wieder in Österreich, die Bestätigung.

F. Seit wann waren Sie durchgehend mit Aufenthaltsrecht in Österreich aufhältig.

A: Seit 2004 bis 2017. Danach reiste ich Anfang 2019 wieder nach Österreich ein.

F: Geben Sie Ihren Familienstand an.

A: Geschieden.

F: Welche Verwandten haben Sie in Österreich?

A: Ich habe keine Verwandten.

F: Mit wem wohnen Sie zusammen..

A: XXXX .

F: Wer ist dieser XXXX

A: Ein Kollege, er ist Palästinenser, aber er hat die österr. Staatsbürgerschaft.

F: Ist die Partnerschaft eine Wohngemsinschaft oder Lebenspartnerschaft.

A: Eine Wohngemeinschaft, keine Lebenspartner.

F: Wer ist der Mieter der Wohnung.

A: XXXX , ich habe aber ein Wohnrecht, mich zahle 150 Euro an XXXX , ich habe ein eigenes Zimmer.

Wohnrechtsvereinbarung wird vorgelegt – Kopie z. Akt.

F: Haben Sie andere Bezugspersonen, Freunde etc. in Österreich.

A:Ich habe Freunde, mit denen ich mich treffe, wenn es geht, auch Arbeitskollegen.

F. Verfügen Sie über soziale Bindungen zu Österreich und wie sieht Ihr Privatleben (z.B.: Vereinstätigkeit, Freundeskreis, udgl.) aus.

A. Früher, also vor 2017, war ich im Kulturverein in XXXX , ansonsten nichts.

F: Wer ist XXXX .

A:Er ist ein Arbeitskollege, ein Libanese, hat auch die österr. Staatsbürgerschaft.

F: In welchem Verhältnis stehen Sie zu Hrn. XXXX .

A: Früher war er ein Arbeitskollege, jetzt ist er seit 3 Monaten in Wien, jetzt habe ich telefonischen Kontakt.

F: Wie bestreiten Sie den Lebensunterhalt in Österreich.

A: Ich hatte einen Gewerbeschein, handelte mit gebrauchten Autos. Seit Dezember habe ich keinen Gewerbeschein mehr.

F: Wie können Sie Ihren Lebensunterhalt finanzieren.

A: Ich habe immer gearbeitet, habe gespart, habe Euro 10.000,- in bar zuhause.

V: Sie müssen Mittel auch nachweisen, die Behauptung allein reicht nicht. Die 10.000 können von der Behörde nicht als vorhanden angenommen werden.

A: Ich habe auch noch bis Juni 2020 gehandelt – Gewinn-Verlustrechnung wird vorgelegt. Am Konto habe ich ca. Euro 200;-

F: Besitzen Sie ein Mobiltelefon, wenn ja, geben Sie Ihre Nummer bekannt.

A: XXXX

F: Welche Verwandten leben im Libanon.

A: Meine Eltern, einen Bruder im Libanon, die leben alle nahe XXXX , ca. 5 km entfernt, einen Bruder in Schweden.

F: Wie ist der Kontakt zum Bruder in Schweden.

A: Ich telefoniere, er hat mir vor ein paar Monaten 2000 Euro für die Tätigung eines Geschäftes geschickt. Er ist schwedischer Staatsbürger und ist Ingineur, er verdient gut.

F: Wann haben Sie das letzte Mal Ihren Bruder in Schweden getroffen.

A: Ca. vor 4.5 Jahren im Libanon.

F: Wann waren Sie zuletzt im Libanon.

A: 2018/2019.

F: Was haben Sie die 2 Jahre (2017-2019) im Libanon gemacht.

A: Meine Scheidung betrieben, meine Exfrau hat mir nur Probleme gemacht.

F: Haben Sie Kinder.

A: Ja, 2 Söhne, Zwillinge, mit meiner Exfrau. Sie sind ca. 3 Jahre.

F: Wo leben die Kinder.

A: Bei meinen Eltern, meine Exfrau hat uns verlassen. Ich habe das Sorgerecht für die Kinder. Sie wollte die Kinder nicht.

F: Wo wohnen Sie, wenn Sie im Libanon sind.

A: Ich habe ein eigenes Haus neben den Eltern.

F: Haben Sie im Libanon gearbeitet.

A: Ich habe meinen Vater etwas geholfen, der war Soldat, jetzt im Ruhestand, ich habe genug Geld, ich brauchte nicht arbeiten.

F: Welchen Beruf haben Sie erlernt, welchen ausgeübt.

A: Ich habe Friseur gelernt.

F: Die Zeit, die Sie in Österreich früher, was haben Sie gearbeitet.

A: Ich war immer Autohändler, hatte auch Abstellplätze, wo ich die Gebrauchtwagen abgestellt hatte.

V: Laut Versicherungsdatenauszug haben Sie offene Versicherungsbeiträge von Jänner bis Oktzober 2020 und derzeit sind Sie nicht versichert.

A: Ich habe meine Beiträge bezahlt, dass ich derzeit nicht versichert bin, stimmt, da ich ja auch keinen Job habe.

F: Welcher Bevölkerungsgruppe und Religion gehören Sie an.

A: Ich bin Araber und Sunnite

F: Die Länderinformationsblätter zum Libanon liegen bei der ho. Behörde zur Einsicht auf. Wollen Sie die Länderinfoblätter in schriftlicher Form für eine Stellungnahme ausgehändigt haben.

A: Nein

F: Möchten Sie noch etwas angeben.

A: Ich habe nochmals einen Termin beim Magistrat wegen eines Aufenthaltstitels, ich habe einen Antrag gestellt auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels, habe auch die Gebühren bezahlt. Ich bracuhte nie Unterstützung vom Staat.

F: Welche Kurse haben Sie in Österreich absolviert.

A: B1-Deutschkurs vom 11.2.2017

F: Ihre Familie lebt im Libanon, in Österreich haben Sie keine Verwandten, warum wollen Sie unbedingt in Österreich bleiben.

A: Ich war lange Zeit in Österreich. Meine Frau machte mir immer Stress, sie würde mir Probleme machen und mich sofort anzeigen, wenn ich im Libanon wäre.

?        Die Niederschrift wird vom Referenten vorgelesen, gelesen, gesehen und gezeichnet

Nach dem Vorlesen möchte ich noch ergänzen, dass ich 3 Monate 2019 als Fahrer gearbeitet habe.

Alles ist richtig und vollständig

9. Mit im Spruch genannten Bescheid wurde der bP ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der bP gemäß § 46 FPG nach Libanon zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 3, 6, 7 FPG wurde gegen die bP ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt V.). Der Beschwerde wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.)

Die bB zog folgende Beweismittel heran:

Von der bP vorgelegt:

?        Wohnrechtsvereinbarung vom 05.07.2020

?        Teilversicherungsbestätigung der SVS (Versicherung der Gewerbl. Wirtschaft) für den Zeitraum 08.01.2020 bis 31.10.2020

?        Stellungnahme, eingelangt am 09.07.2020

?        Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem (GISA) vom 10.01.2020

?        Gewinnberechnung Februar – Juni 2020

?        Termin beim Magistrat wegen Antrages auf Erteilung Aufenthaltstitel

?        Diverse Einzahlungen an SVS

Weitere von der Behörde herangezogene Beweismittel:

?        Kopie libanesischer Reisepass

?        Niederschriftliche Befragung vom 19.01.2021

?        Erkenntnis des LVwG vom XXXX , XXXX , Bestrafung Euro 500,- wegen unrechtm. Aufenthaltes gem. § 120 Abs. 1 FPG

?        Erkenntnis des LVwG vom XXXX , hinsichtlich Erlöschens des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“

?        VwGH Erkenntnis vom 11.05.2020, Ra 2020/22/0062-4, bzgl. außerordentlicher Revision zu LVwG-Erkenntnis, vom XXXX /JB

?        Entzug Gewerbeberechtigung durch Magistrat mit Schreiben vom 30.09.2020

?        Länderinformationen Libanon

?        BMI-Webanwendungen (Anfrageplattform für Strafregister (SA), Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), Zentrales Melderegister (ZMR), Sozialversicherungsanfrage und andere), zuletzt 25.05.2021

?        Gesamtakt, IFA-Zahl: 741287208

Die Behörde stellte private Anknüpfungspunkte fest und verneinte familiäre. Die bP sei jedoch nach Erlöschen des NAG-Aufenthaltstitels und folgender rechtskräftiger Bestrafung wegen nicht rechtmäßigem Aufenthalt dessen ungeachtet ohne Aufenthaltsrecht beharrlich im Bundesgebiet verblieben bzw. habe den Aufenthalt nicht legalisiert. Der weitere Aufenthalt würde der öffentlichen Ordnung und Sicherheit widerstreiten.

Die Behörde kam auch zum Ergebnis, dass sie sich bewusst bereits erhebliche Zeit, entgegen zweier Entscheidungen der Verwaltungsgerichte bezüglich des Aufenthaltes, nach wie vor unrechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, dabei unrechtmäßig einer Beschäftigung nachgegangen sei und nicht ausreichende Mittel für den Unterhalt habe. Ihr Verhalten zeige, dass sie nicht gewillt ist, die für die Einreise und den Aufenthalt ausschlaggebenden Normen zu befolgen. Aus diesem Verhalten resultierend, sei die sofortige Ausreise der bP im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit geboten, weshalb die aufschiebende Wirkung gem. § 18 Abs 2 Z 1 BFA-VG aberkannt wurde. Die Verhängung eines Einreiseverbotes sei geboten gewesen und ergäbe eine Interessensabwägung nach Art. 8 EMRK, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

10. Die bP erhob über ihre damalige rechtsfreundliche Vertretung gegen den im Spruch genannten Bescheid beim Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) fristgerecht Beschwerde.

Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass die bP bis zur Ausreise 2017 rund 13 Jahre in Österreich gelebt habe und hier über ein Privatleben verfüge. Sie habe einen großen Freundeskreis und führe einen europäischen Lebensstil. Sie habe sich auch vor 2017 in einem Kulturverein engagiert uns sei selbsterhaltungsfähig gewesen. Sie spreche gut Deutsch. Die Aufenthaltsbeendigung stelle einen unzulässigen Eingriff in Art 8 EMRK dar. Die Ortsabwesenheit von Österreich sei durch das dortige Scheidungs- und Obsorgeverfahren jedenfalls gerechtfertigt. Bei Erhalt eines Aufenthaltstitels könne sie sofort wieder als Autoverkäufer selbstständig für ihren Unterhalt sorgen. Die bP sei der Republik Österreich finanziell nicht zur Last gefallen. Sie sei strafrechtlich unbescholten und stelle keine Gefahr für die Öffentlichkeit dar. Sie verfüge über eine positive Zukunftsprognose. Es sei von einem über 10-jährigen Aufenthalt auszugehen und sei es menschlich nicht nachvollziehbar, dass der Aufenthalt zur Regelung der familiären Beziehungen im Libanon zu ihrem Nachteil ausgelegt wird. Das Einreiseverbot sei aufzuheben, in eventu jedenfalls in der Dauer herabzusetzen. Vorgelegt wurden die Scheidungsurkunde und weitere Unterlagen zu dieser, Geburtsurkunden der Kinder und ein Schreiben betreffend die Obsorge für die Kinder.

11. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG von der bB vorgelegt, wo sie am 25.06.2021 in der Außenstelle Linz einlangten.

12. Mit Beschluss des BVwG vom 01.07.2021 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt.

13. Mit Schreiben vom 29.07.2021 (Bekanntgabe der Bevollmächtigung im „Asylbeschwerdeverfahren) bzw. 11.08.2021 (Auflösung der bisherigen Vollmacht) wurde der Vollmachtwechsel der bP zur nunmehrigen rechtlichen Vertretung bekannt gegeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität der bP steht fest. Sie ist libanesische Staatsangehörige, arabischer Abstammung und stammt aus der Region XXXX .

Sie reiste 2004 in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, der hinsichtlich Asyl und subsidiären Schutz mit 01.12.2012 rechtskräftig negativ entschieden wurde. Mit 07.03.2012 erhielt sie erstmalig einen Aufenthaltstitel in Österreich, welcher in Folge mehrfach verlängert wurde. Der bP wurde mit 10.03.2017 ein mit 10.03.2022 befristeter Aufenthaltstitel für Österreich (Daueraufenthalt EU) ausgestellt. Die bP hielt sich von XXXX 2017 bis XXXX 2019 im Libanon auf.

Sie hielt sich wegen ihrer Scheidung bzw. des Obsorgeverfahrens der Kinder im Libanon auf. Die Ex-Ehegattin lebt wie die beiden Kinder der bP im Libanon. Auch die Eltern und ein Bruder der bP leben im Libanon in der Herkunftsregion der bP in gesicherten Verhältnissen. Zum in Schweden aufhältigen Bruder besteht telefonischer Kontakt, gesehen hat die bP diesen Bruder vor ca. 4,5 Jahren im Libanon.

Das Erlöschen des Aufenthaltsrechts Daueraufenthalt EU gemäß § 20 NAG wurde vom zuständigen Magistrat mit Bescheid vom 27.09.20219 festgestellt. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom LVwG mit Entscheidung vom 09.12.2019 als unbegründet abgewiesen. Die gegen die Entscheidung des LVwG eingebrachte Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof ebenfalls zurückgewiesen.

Die bP hat im Juli 2020 bei der zuständigen Niederlassungsbehörde einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 41 a Abs. 6 NAG, „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gestellt. Dem Akteninhalt ist nicht zu entnehmen, dass einer der Ausnahmetatbestände des § 21 NAG greifen würde, wonach eine Antragstellung im Inland möglich wäre und steht diese Antragstellung gemäß § 21 Abs. 6 FPG insbesondere der Erlassung und Durchführung von Maßnahmen nach dem FPG nicht entgegen bzw. kann keine aufschiebende Wirkung entfalten.

Es erfolgte zudem mit Bescheid vom 11.08.2020 eine Bestrafung der bP durch die LPD wegen unrechtmäßigen Aufenthalts in Österreich, welche durch Erkenntnis des LVwG vom 13.10.2020 bestätigt wurde. Aufgrund des urechtmäßigen Aufenthalts wurde der bP die mit 08.01.2020 erteilte Gewerbeberechtigung vom Magistrat mit 30.09.2020 entzogen.

Trotz der Entscheidungen, die der bP klar zeigten, dass ihr Aufenthalt im Bundesgebiet nicht rechtmäßig ist, verblieb die bP unrechtmäßig in Österreich und verstößt damit bewusst und dauerhaft gegen österreichische Normen, womit sie eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt.

Seit der Einreise im April 2019 ist sie durchgängig in Österreich aufhältig. Während ihres Aufenthalts von 2004 bis 2017 war sie zu folgenden Zeiten sozialversicherungsrechtlich gemeldet:

Unselbstständig:

4.12.2012, 6.12.2012 – 02.01.2013, 17.11.2016 – 15.01.2017, 19.01.2017 – 02.03.2017,

Selbstständig:

01.04.2010 – 30.11.2012, 01.12.2013 – 31.03.2014.

Nach der Einreise im April 2019 war sie zu folgenden Zeiten als erwerbstätig gemeldet:

Unselbstständig:

01.08.2019 – 30.11.2019

Selbstständig:

08.01.2020 – 31.10.2020.

Die vorgelegte „kurzfristige Erfolgsrechnung“ der bP für Februar – Juni 2020 weist einen Gewinn von EUR 6400 aus.

Zu den Beschäftigungen nach der Einreise im April 2019 ist festzustellen, dass sie diese aufgrund des Fehlens eines Aufenthaltstitels/einer Aufenthaltsberechtigung nicht hätte ausüben dürfen.

Sie spricht auf Niveau B1 Deutsch. Sie verfügt über eine Unterkunft (Wohnrechtsvereinbarung mit einem Freund) in der Größe von 23,64 m².

Die bP weist seit 2004 eine durchgängige Wohnsitzmeldung im Bundesgebiet auf, wobei sie erwiesener Maßen nach einem längeren Aufenthalt im Libanon erst wieder seit April 2019 in Österreich aufhältig ist.

Familiäre oder soziale Bezugspunkte in Österreich, Anhaltspunkte für das Bestehen einer tiefgreifenden Integration in Österreich sowie eine besondere soziale Integration über einen normalen Freundeskreis hinaus konnten nicht festgestellt werden. Die bP ist in keinem Verein tätig und ist kein außergewöhnliches Privatleben feststellbar. Sie hat keine als Familienleben zu wertende Umstände dargelegt.

Die bP erweist sich in strafgerichtlicher Hinsicht als unbescholten. Sie ist gesund und arbeitsfähig.

Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat problemlos verständigen und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Sie wurde somit im Herkunftsstaat sozialisiert und kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens einschließlich der gegebenen sozialen Unterstützungsnetzwerke. Es leben dort auch noch insbes. Familienangehörige und Verwandte.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.

Aus der derzeitigen Lage ergibt sich im Herkunftsstaat, insbesondere in der Herkunftsregion der bP, unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der bP als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht. Sie hat diesbezüglich kein substantiiertes Vorbringen erstattet und auch hinsichtlich ihrer persönlichen Versorgungssituation im Falle der Rückkehr keine Probleme vorgebracht.

1.2. Aus nachfolgend genannten Quellen (einschließlich darin zitierter Berichte) ergeben sich folgende Feststellungen bzw. Einschätzungen/Schlussfolgerungen über die relevante Lage, wobei zur Beurteilung der aktuellen und entscheidungsrelevanten Situation jeweils den jüngsten Erkenntnisquellen besondere Bedeutung zugemessen werden und ältere im Wesentlichen der Übersicht über die Lageentwicklung dienen.

Politische Lage

Libanon ist eine parlamentarische Demokratie nach konfessionellem Proporzsystem. Das politische System basiert auf der Verfassung von 1926, dem ungeschriebenen Nationalpakt von 1943 und dem im Gefolge der Taif-Verhandlungen am 30. September 1989 verabschiedeten „Dokument der Nationalen Versöhnung“ (AA 24.1.2020).

In diesem sogenannten Taif-Abkommen wurde festgelegt, dass die drei wichtigsten Ämter im Land auf die drei größten Konfessionen verteilt werden:

• Das Staatsoberhaupt muss maronitischer Christ sein

• Der Parlamentspräsident muss schiitischer Muslim sein

• Der Regierungschef muss sunnitischer Muslim sein (GIZ 3.2020)

Dieser Proporz bestimmt die gesamte Verwaltung und macht auch vor der Legislative nicht halt. Das Parlament mit seinen 128 Mitgliedern setzt sich nach dem Grundsatz der konfessionellen Parität wie folgt zusammen: 34 Maroniten, 27 Schiiten, 27 Sunniten, 14 griechisch-orthodoxe Christen, 8 Drusen, 8 melikitische/griechisch-katholische Christen, 5 orthodoxe Armenier, 2 Alewiten, 1 armenischer Katholik, 1 Protestant und 1 Vertreter einer Minderheit (GIZ 3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die konfessionelle Fragmentierung des Landes bewirkt eine äußere Abhängigkeit von den jeweiligen Schutzmächten der konfessionellen Gruppen. Dies reduziert die Souveränität des Staates (GIZ 3.2020). Bei der im Abkommen von Taif vorgesehenen allmählichen Entkonfessionalisierung des politischen Systems gibt es bisher allerdings keine Fortschritte (AA 24.1.2020).

Die Hizbollah, die „Partei Gottes“, ist - wie auch jetzt – seit Jahrzehnten immer wieder Teil der libanesischen Regierung. Sie tritt dabei jedoch nicht nur als politische Partei, sondern häufig auch als soziale Organisation auf, die mit ihrem Angebot an sozialen und medizinischen Hilfsleistungen ärmeren Menschen in Not hilft. Der bewaffnete Arm der Hizbollah kämpft in Syrien an der Seite der Truppen des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Gleichzeitig stellt die Organisation das Existenzrecht Israels offen in Frage. Immer wieder kommt es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Hizbollah und Israel (DF 30.4.2020). Die Hisbollah macht gleichzeitig Geschäfte gegen und mit dem Gesetz, schmuggelt Drogen und kontrolliert die Zollstationen am Hafen von Beirut. Dabei hilft ihr ein weltweites Netzwerk von Unterstützern in der Diaspora (Zeit 6.5.2020).

Die Hizbollah wird von den Vereinigten Staaten als terroristische Gruppe eingestuft. In der EU stand bislang nur der militärische Arm der Hizbollah auf der Terrorliste, bis Deutschland den Kurs nun verschärft und auch den politischen Arm der Hizbollah als terroristische Vereinigung bewertet und ein Betätigungsverbot der Organisation in Deutschland verfügt hat (Spiegel 30.4.2020; vgl. Spiegel 5.5.2020; DailyStar 6.11.2019).

Das Parlament des Libanon ist konfessionsübergreifend in zwei politische Blöcke gespalten, die einander unversöhnlich gegenüberstehen:

•        die von der schiitisch geprägten und vom Iran beeinflussten Hizbollah angeführte 8. März-Koalition und

•        die eher westlich orientierte, sunnitisch geprägte und von Saad Hariri (Future Movement; arab.: (al-)Mustaqbal) angeführte 14. März-Bewegung (GIZ 3.2020).

Die traditionelle Feindschaft zwischen diesen beiden Blöcken wurde durch den Konflikt im benachbarten Syrien zusätzlich vertieft. Die Polarisierung zwischen den beiden Lagern lähmt das Land politisch und ökonomisch, verstärkt konfessionelle Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten (GIZ 3.2020). Aufgrund schwer erzielbarer Mehrheiten war es auch jahrelang nicht möglich, ein Wahlgesetz zu verabschieden. Dies führte dazu, dass die Parlamentswahl 2013 ausgesetzt und das Mandat der Abgeordneten mehrfach verlängert wurde (GIZ 3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Am 31. Oktober 2016 wurde schließlich nach zweieinhalb Jahren und 45 gescheiterten Versuchen ein neuer Präsident gewählt. Mit der Wahl des maronitischen Christen Michel Aoun kam Bewegung in die libanesische Politik. Da Aoun als Kandidat der schiitischen Hizbollah für das Amt des Präsidenten galt, wurde er zunächst von Premierminister Saad Hariri abgelehnt. Dessen Zustimmung erfolgte erst, als Aoun Hariri im Gegenzug beauftragte, eine neue Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Diese wurde schließlich am 19. Dezember 2016 vereidigt (GIZ 3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Im Juni 2017 konnte man sich schließlich auf ein neues Wahlrecht einigen. Dieses sieht unter anderem eine Ablöse des Mehrheitswahlrechts durch das Verhältniswahlrecht vor. Hierdurch sollten kleinere Parteien und Wählergruppen gestärkt werden. Das Wahlgesetz enthält jedoch zahlreiche Einschränkungen der Verhältniswahl wie beispielsweise eine sehr hohe Einzugshürde bei zehn Prozent. Positiv ist jedoch, dass die Parteien nun faktisch gezwungen werden, konfessionsübergreifende Listen zu bilden (GIZ 3.2020).

Am 6. Mai 2018 fanden nach jahrelanger Pattstellung erstmals seit 2009 erneut Parlamentswahlen statt. 77 Listen mit insgesamt 597 Kandidaten waren für die Wahl um 128 Parlamentssitze in 26 Distrikten registriert. Die Anzahl der weiblichen Kandidaten nahm gegenüber der letzten Wahl auf 86 zu und betrug somit nun 14,4 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 49,2 Prozent. Die offiziellen Ergebnisse weisen die Sitze wie folgt zu: Future Movement [Anm.: arab. - (al-)Mustaqbal] 21; Free Patriotic Movement 20; Amal 17; Lebanese Forces 15; Hizbollah 12; Progressive Socialist Party 8; die "Determination (Azem)" Bewegung des ehemaligen Premierministers Mikati 4; Marada, die Syrian Social Nationalist Party, Kataeb und Tashnaq jeweils 3 Sitze. Zum ersten Mal gewann ein Kandidat der Zivilgesellschaft einen Sitz durch die Wahlliste "Koulouna Watani" in Beirut. Die Zahl der gewählten Frauen im Parlament stieg von vier auf sechs (UNSC 13.7.2018).

Die Hizbollah und ihre politischen Verbündeten - darunter auch das „Free Patriotic Movement“ (FPM), eine christliche Partei unter der Führung von Präsident Michel Aoun, die knapp zwanzig Sitze erringen konnte (AA 24.1.2020), besetzen nach dieser Wahl knapp die Hälfte der 128 Sitze im Parlament, während der vom Westen unterstützte sunnitische Saad al-Hariri (Premierminister bis Ende 2019, Anm.) mit 21 Parlamentsmitgliedern immer noch Führer des größten politischen Blocks ist (RFE 7.5.2018; vgl. ICG 9.6.2018). Der bisherige Premier Hariri wurde trotz Wahlverlusten neuerlich damit beauftragt, eine Regierung zu bilden (GIZ 3.2020).

Aufgrund der zunehmend prekären wirtschaftlichen Situation kam es schon Mitte Oktober 2019 zu massiven Protesten gegen Korruption und Misswirtschaft (Standard 12.2.2020; vgl. FAZ 24.1.2020). Ende Oktober gab Regierungschef Saad Hariri schließlich angesichts der Massenproteste auf und trat zurück (FAZ 24.1.2020).

Ende Januar 2020 wurde schließlich eine neue Regierung gebildet. Der neue Premierminister Hassan Diab wollte sich mit seiner technokratischen Regierung für umfassende Wirtschaftsreformen einsetzen. Diab selbst kam dank der Unterstützung der Hizbollah, der Amal-Bewegung und der Freien Patriotischen Bewegung von Präsident Michel Aoun an die Macht, die nun mit einigen kleineren Parteien gemeinsam über eine parlamentarische Mehrheit verfügten. Pro-westliche politische Rivalen wie etwa Hariris Future Movement, die größte sunnitische Partei des Landes, unterstützten die Regierung nicht (ECFR 4.2.2020).

Am 4. August 2020 ereignete sich im Hafen von Beirut eine verheerende Explosion mit mindestens 180 Toten und rund 6.000 Verletzten. 300.000 Menschen wurden obdachlos und große Teile der Stadt wurden stark beschädigt. Tausende zogen in der Folge zu Protesten auf die Straßen und forderten eine umfassendere Aufklärung der Hintergründe der Explosion. Die Regierung von Ministerpräsident Hassan Diab trat zurück (Standard 17.8.2020), nachdem dieser die endemische Korruption für die verheerende Explosion verantwortlich gemacht hatte (AJ 10.8.2020). Am 31. August 2020 wurde Mustapha Adib, bislang libanesischer Botschafter in Deutschland, von Staatspräsident Michel Aoun mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt (Spiegel 31.8.2020; vgl. Standard 31.8.2020).

Adib ist Sunnit, das ist gemäß Verfassung des Landes die Bedingung für den Premierposten. Sowohl die sunnitische Zukunftspartei von Ex-Premier Saad Hariri als auch die schiitische Hisbollah mit ihren Verbündeten sowie die maronitische Patriotenbewegung von Präsident Michel Aoun haben sich bereits öffentlich hinter Adib gestellt (Standard 31.8.2020, vgl. CNN 31.8.2020), was die Protestbewegung prompt als Fortsetzung des gescheiterten Proporzsystems ablehnte (Zeit 31.8.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (24.1.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, Stand: November 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025311/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_November_2019%29%2C_24.01.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

-        AJ - Al Jazeera (10.8.2020): Lebanon president accepts gov't resignation after Beirut blast, https://www.aljazeera.com/news/2020/08/lebanon-pm-hassan-diab-resigns-anger-beirut-blast-200810135202076.html, Zugriff 24.8.2020

-        CNN (31.8.2020): Lebanese diplomat Mustapha Adib named Prime Minister-designate ahead of Macron visit, https://edition.cnn.com/2020/08/31/middleeast/lebanon-new-prime-minister-intl/index.html, Zugriff 31.8.2020

-        DailyStar (6.11.2019): Why is Lebanon in an economic and political mess?, https://www.dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2019/Nov-06/495099-explainer-why-is-lebanon-in-an-economic-and-political-mess.ashx, Zugriff 12.5.2020

-        DF – Deutschlandfunk (30.4.2020): Andere Länder der EU werden dieser Linie folgen, https://www.deutschlandfunk.de/hisbollah-verbot-in-deutschland-andere-laender-der-eu.694.de.html?dram:article_id=475794, Zugriff 30.6.2020

-        ECFR – European Council on Foreign Relations (4.2.2020): Counterfeit change. Lebanon‘s new government, https://www.ecfr.eu/article/commentary_counterfeit_change_lebanons_new_government, Zugriff 15.5.2020

-        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.1.2020): Ein Land vor dem Kollaps, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/proteste-in-libanon-ein-land-vor-dem-kollaps-16595022.html, Zugriff 15.5.2020

-        GIZ– Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020): Libanon – Geschichte und Staat: https://www.liportal.de/libanon/geschichte-staat/, Zugriff 16.6.2020

-        ICG – International Crisis Group (9.6.2018): In Lebanon’s Elections, More of the Same is Mostly Good News,

https://www.ecoi.net/de/dokument/1432128.html, Zugriff 30.6.2020

-        RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (7.5.2018): Iran-Backed Hizballah And Allies Make Big Gains In Lebanese Election, https://www.ecoi.net/de/dokument/1431871.html, Zugriff 30.6.2020

-        Spiegel (30.4.2020): Seehofer geht gegen Hisbollah vor, https://www.spiegel.de/politik/ausland/bundesinnenminister-horst-seehofer-csu-geht-mit-betaetigungsverbot-gegen-die-hisbollah-vor-a-9a2e5cb7-03af-4bc6-87f0-e363b938364f, Zugriff 15.5.2020

-        Spiegel (5.5.2020): Libanon bestellt deutschen Botschafter ein, https://www.spiegel.de/politik/ausland/hisbollah-verbot-libanon-bestellt-deutschen-botschafter-ein-a-67bed83b-6c6d-41b5-9d9c-cf079d1f2cf4, Zugriff 15.5.2020

-        Spiegel (31.8.2020): Libanons Präsident beauftragt Botschafter Adib mit Regierungsbildung, https://www.spiegel.de/politik/ausland/libanon-nach-beirut-katastrophe-mustapha-adib-mit-regierungsbildung-beauftragt-a-577e3b8f-71b6-47e4-814f-c4c6151e9e1b, Zugriff 1.9.2020

-        Standard (12.2.2020): Unmut nach erfolgreichem Vertrauensvotum für neue libanesische Regierung, https://www.derstandard.at/story/2000114474346/neue-libanesische-regierung-gewann-vertrauensabstimmung-im-parlament, Zugriff 15.5.2020

-        Standard (17.8.2020): Nach der Explosion in Beirut: Haftbefehl gegen Zollchef des Hafens, https://www.derstandard.at/story/2000119415098/nach-der-explosion-in-beirut-haftbefehl-gegen-zollchef-des-hafens, Zugriff 24.8.2020

-        Standard (31.8.2020): Berlin-Botschafter Adib soll als neuer Premier den Libanon aus der Krise führen, https://www.derstandard.at/story/2000119691285/berlin-botschafter-adib-soll-als-neuer-premier-den-libanon-aus, Zugriff 1.9.2020

-        UNSC - United Nations Security Council (13.7.2018): Implementation of Security Council resolution 1701 (2006); Report of the Secretary-General; Reporting period from 1 March 2018 to 20 June 2018 [S/2018/703], https://www.ecoi.net/en/file/local/1439147/1226_1532506886_n1822402.pdf Zugriff 20.6.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026426.html, Zugriff 12.5.2020

-        Zeit (6.5.2020): Schlechte Zeiten für die Schattenmacht, https://www.zeit.de/2020/20/hisbollah-terrormiliz-israel-libanon-deutschland/komplettansicht, Zugriff 28.8.2020

-        Zeit (31.8.2020): Macron macht Druck, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-08/emmanuel-macron-libanon-besuch-beirut-explosion-krise, Zugriff 1.9.2020

Sicherheitslage

Anm.: Der besseren Übersichtlichkeit wegen wird die Situation in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Abschnitt über palästinensische Flüchtlinge dargestellt.

Die libanesische Regierung hat weder die vollständige Kontrolle über alle Regionen des Landes noch über die Grenzen zu Syrien und Israel. Nach wie vor kontrolliert die Hizbollah den Zugang zu bestimmten Gebieten und hat überdies Einfluss auf einige Elemente innerhalb der libanesischen Sicherheitsdienste. Die Al-Nusrah-Front, der sogenannte Islamische Staat (IS) und andere sunnitische Terrorgruppen operierten auch 2019 weiterhin in unkontrollierten Gebieten entlang der unmarkierten libanesisch-syrischen Grenze. Andere terroristische Gruppen wie die Hamas, die Volksfront für die Befreiung Palästinas, das Generalkommando der Volksfront für die Befreiung Palästinas, Asbat al-Ansar, Fatah al-Islam, Fatah al-Intifada, Jund al-Sham, der Palästinensische Islamische Dschihad und die Abdullah-Azzam-Brigaden operierten weiterhin in Gebieten mit begrenzter Regierungskontrolle, vor allem in den 12 palästinensischen Flüchtlingslagern. Diese Lager werden als sichere Zufluchtsorte genutzt und sie dienen als Waffenverstecke (USDOS 24.6.2020a). Der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen, wird deren Sicherheit teilweise durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion gestellt werden. Das deutsche Außenamt berichtet von teils schweren Auseinandersetzungen, zuletzt zwischen verschiedenen Palästinenserfraktionen in den Lagern Ain El-Hilweh und Mieh-Mieh. Das Lager Nahr el-Bared stellt insofern eine Ausnahme dar, da es unter libanesischer Kontrolle steht. Allerdings beschränkt sich die libanesische Armee auf Zugangskontrollen und die Sicherung der Umgebung (AA 24.1.2020).

Der Libanon und Israel befinden sich offiziell noch im Krieg. An der gemeinsamen Grenze im Südlibanon kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah (ORF 26.8.2020).

Es besteht ein hohes Risiko von nicht explodierten Bomben und Minen (MAG o.D.). Im September 2019 kam es dort nach der Aufdeckung von Tunnelanlagen durch israelisches Militär kurzfristig zu erhöhten Spannungen und gegenseitigem Artilleriebeschuss zwischen der Hizbollah und der israelischen Armee. Die Hizbollah beschoss israelische Militärstellungen und -fahrzeuge nahe der Ortschaft Avivim mit mehreren Panzerabwehrlenkraketen. Israel reagierte seinerseits mit Artilleriebeschuss auf Ziele im südlichen Libanon. Nach wenigen Stunden wurden die Gefechte beidseitig wieder eingestellt (AA 24.1.2020).

Die Bekaa-Ebene ist bekannt für Waffen- und Drogenhandel (Al Ahram 13.2.2020).

Die Sicherheitslage in der Bekaa-Ebene hat sich durch den bewaffneten Konflikt in Syrien zunehmend verschlechtert. Es sind bewaffnete Gruppierungen aktiv, und Grenzüberschreitungen durch Kämpfer sind häufig. Es kommt regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen der Armee und militanten Gruppen, vor allem in und um Ersal, Ras Baalbek und Qaa. Spannungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen, aber auch innerhalb einzelner Gemeinschaften, können sich in bewaffneten Konfrontationen oder Anschlägen entladen (EDA 12.8.2020). In der Provinz Baalbek-Hermel gab es neben solchen Entführungen auch Plünderungen und Mordanschläge (Asharq al-Awsat 22.9.2019). Hermel gilt als Hochburg der Hizbollah (Al Ahram 13.2.2020).

Die Spannungen im Nordlibanon (insbesondere um die Stadt Tripoli und in der Region Akkar) haben sich durch den Konflikt in Syrien und die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge weiter verschärft. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen verschiedenen politisch-religiösen Gruppierungen. Die Gefahr von Anschlägen und einer Eskalation der Lage ist groß (EDA 12.8.2020).

Die libanesische Armee (Lebanese Armed Forces - LAF) trägt die Hauptverantwortung für die Sicherung der Land- und Seegrenzen des Libanon, während das „Directorate of General Security“ (DGS) und der Zoll für die offiziellen Einreisepunkte zuständig sind. Die Effizienz der Kontrollen der Landgrenze des Libanon mit Syrien konnte in letzter Zeit durch ein von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und Kanada finanziertes Landgrenzsicherungsprojekt gesteigert werden, was die Festnahme von aus Syrien einreisenden IS-Mitgliedern ermöglichte (USDOS 24.6.2020b).

Infolge der Krise in Syrien haben die destabilisierenden regionalen, politischen und konfessionellen Spannungen deutlich zugenommen. So ist die Hizbollah erklärtes Ziel sunnitischer Extremisten, die sich mit Selbstmordanschlägen gegen schiitische Wohn- und Einflussgebiete für den Kampf der Schiiten-Miliz an der Seite von Baschar al-Assad in Syrien rächen wollen. Die größte christliche Partei des Landes (Free Patriotic Movement) ist demgegenüber politisch mit der Hizbollah verbündet und betrachtet diese als Stabilisierungsfaktor für Libanon und seine religiösen Minderheiten. Die politische und militärische Rolle von Hizbollah, die zumindest in ihren Hochburgen auch soziale, politische und sicherheitsbehördliche Aufgaben wahrnimmt, bleibt damit struktureller Streitpunkt für den Libanon (AA 24.1.2020).

Bei der von der UN geforderten Abrüstung aller bewaffneten Gruppen einschließlich der palästinensischen Milizen und dem militärischen Flügel der Hizbollah konnten bislang keine Fortschritte erzielt werden. Die Hizbollah bestätigte immer wieder, über entsprechende militärische Kapazitäten zu verfügen. Die libanesische Regierung ist somit weiterhin nicht in der Lage, die volle Souveränität und Autorität über ihr Territorium auszuüben (UNSC 13.7.2018).

Die allgemeine Sicherheitslage ist insbesondere durch die seit Oktober 2019 immer wieder stattfindenden Massenproteste und Verkehrsblockaden unübersichtlicher geworden (AA 24.1.2020). Der Zorn der Demonstranten konzentriert sich auf die wahrgenommene Korruption libanesischer Politiker, die das Land seit dem Bürgerkrieg von 1975-1990 beherrscht haben (DailyStar 6.11.2019). Im Zuge der Demonstrationen kommt es insbesondere in Beirut immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Straßenschlachten mit der Polizei, die zum Teil zahlreiche Verletzte fordern (Spiegel 20.1.2020; vgl. Zeit-Online 7.8.2020). Auch in der Hafenstadt Tripoli kam es zu schweren Auseinandersetzungen (Tagesspiegel 29.4.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (24.1.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, Stand: November 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025311/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_November_2019%29%2C_24.01.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

-        Al Ahram (13.2.2020): Lebanon‘s security and economy at stake, http://english.ahram.org.eg/NewsContent/50/1203/363350/AlAhram-Weekly/World/Lebanon’s-security-and-economy-at-stake.aspx, Zugriff 3.9.2020

-        Asharq al-Awsat (22.9.2019): Beqaa Witnesses Wave of Kidnappings Amid Failure to Control Security, https://english.aawsat.com//home/article/1913576/lebanon-beqaa-witnesses-wave-kidnappings-amid-failure-control-security, Zugriff 31.8.2020

-        DailyStar (6.11.2019): Why is Lebanon in an economic and political mess?, https://www.dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2019/Nov-06/495099-explainer-why-is-lebanon-in-an-economic-and-political-mess.ashx, Zugriff 12.5.2020

-        EDA – Eidgenössisches Department für auswärtige Angelegenheiten (12.8.2020): Reisehinweise für den Libanon, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/libanon/reisehinweise-libanon.html, Zugriff 7.7.2020

-        MAG – Mines Advisory Group (o.D.): Lebanon, https://www.maginternational.org/what-we-do/where-we-work/lebanon/, Zugriff 31.8.2020

-        ORF (26.8.2020): Israel greift nach Schüssen auf Soldaten Ziele im Libanon an, https://orf.at/stories/3178860/, Zugriff 1.9.2020

-        Spiegel (20.1.2020): Randale am Abgrund, https://www.spiegel.de/politik/ausland/schwere-proteste-im-libanon-randale-am-abgrund-a-eab1a8dd-2f7c-45b6-84b0-03febe804779, Zugriff 30.8.2020

-        Tagesspiegel (29.4.2020): Der Hunger ist größer als die Angst, https://www.tagesspiegel.de/politik/proteste-im-libanon-der-hunger-ist-groesser-als-die-angst/25784480.html, Zugriff 31.8.2020

-        UN – United Nations Security Council (13.7.2018): Bericht des UNO-Generalsekretärs zu Entwicklungen vom 1. März bis 20. Juni 2018 (Sicherheitslage; Entwaffnung bewaffneter Gruppen; politische Stabilität; weitere Themen) https://www.ecoi.net/en/file/local/1439147/1226_1532506886_n1822402.pdf, Zugriff 21.8.2018

-        USDOS – United States Department of State (24.6.2020a): Country Report on Terrorism 2019 - Chapter 4 – Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032504.html, Zugriff 6.7.2020

-        USDOS – United States Department of State (24.6.2020b): Country Report on Terrorism 2019 - Chapter 1 – Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032521.html, Zugriff 6.7.2020

-        Zeit (7.8.2020): Beirut. Konfrontationen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-08/proteste-beirut-explosion-korruption, Zugriff 31.8.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Die Verfassungsinstitutionen, insbesondere Parlament, Regierung und Justizwesen, funktionieren im Prinzip nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, sind aber in ihrer tatsächlichen Arbeit politischen Einflussnahmen ausgesetzt. Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung zwar festgeschrieben, wird in der Praxis aber nur eingeschränkt respektiert; insbesondere in politisch brisanten Ermittlungsverfahren kommt es zu Versuchen der Einflussnahme auf die Justiz, z.B. bei der Ernennung von Staatsanwälten und Ermittlungsrichtern oder zum Schutz politischer Parteigänger vor Strafverfolgung. Neben den in mehrere Instanzen gegliederten und strukturell dem französischen Justizwesen angeglichenen Zivilgerichten existieren im Libanon konfessionelle Gerichtsbarkeiten, in deren Zuständigkeit die familienrechtlichen, bei den islamischen Religionsgemeinschaften auch die erbrechtlichen Verfahren fallen (AA 24.1.2020). Personen, die an zivil- und strafrechtlichen Routineverfahren beteiligt waren, baten manchmal um die Unterstützung prominenter Personen, um den Ausgang ihrer Verfahren zu beeinflussen (USDOS 11.3.2020). Die Einhaltung der in der Verfassung garantierten richterlichen Unabhängigkeit ist in der praktischen Durchführung durch verbreitete Korruption, chronischen Mangel an qualifizierten Richtern und zum Teil auch politische Einflussnahme eingeschränkt (AA 24.1.2020). Politische Führer versuchten zeitweise, die richterliche Behandlung politisch aufgeladener Fälle zu beeinflussen, und gegensätzliche politische und konfessionelle Fraktionen werfen sich jeweils unzulässige Einflussnahme vor. Beginnend mit Februar 2019 laufen auch Ermittlungen wegen des Vorwurfs der Korruption, Bestechung und Manipulation von Gerichtsakten innerhalb der Sicherheits- und Justizorgane (USDOS 11.3.2020).

-        Eine Strafverfolgungs- und Strafbemessungspraxis, die nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität diskriminiert, ist im Libanon nicht gegeben. Allgemeine kriminelle Delikte werden im Rahmen feststehender straf- bzw. strafprozessrechtlicher Vorschriften nach insgesamt weitgehend rechtsstaatlichen Prinzipien verfolgt und geahndet (AA 24.1.2020).

-        Fragen des Personenstands werden nach wie vor in 15 separaten Personenstandsgesetzen geregelt, von denen keines die Grundrechte garantiert und in denen Frauen durchwegs diskriminiert werden (HRW 3.8.2020), und zwar in in Bezug auf die Ehe, das Sorgerecht für die Kinder, das Erbrecht und die Scheidung (USDOS 10.6.2020).

Anm.: Nähere Ausführungen hierzu sind dem Abschnitt „17. Frauen" zu entnehmen.

Das Rechtssystem unterscheidet im Strafrechtsbereich zwischen ordentlichen und Militärgerichten. Delikte gegen die Staatssicherheit, gegen das Militär oder deren Angehörige unterliegen dem Militärrecht (AA 24.1.2020). Diese sind zuständig für Fälle, an denen Militär-, Polizei- und Regierungsbeamte beteiligt sind, sowie für Fälle, in denen Zivilpersonen oder Militärs der Spionage, des Hochverrats, des Waffenbesitzes, der Wehrpflichtverletzung und der Begehung von Delikten gegen die Staatssicherheit, das Militär oder deren Angehörige bezichtigt werden. Es kann auch Zivilpersonen wegen Sicherheitsvorwürfen oder wegen Verstößen gegen den Militärkodex vor Gericht stellen (USDOS 11.3.2020). Die Zuständigkeiten der Militärgerichtsbarkeit werden vor allem beim Vorwurf des Terrorismus bzw. bei terroristischen Delikten mit islamistischem Hintergrund oftmals sehr extensiv ausgelegt. Militärgerichte verurteilen auch zivile Angeklagte wegen terroristischer Delikte mit islamistischem Hintergrund oft in Schnellverfahren und ohne ausreichenden Rechtsbeistand (AA 24.1.2020). Zivilgerichte können zwar auch über Militärangehörige verhandeln, aber das Militärgericht verhandelt diese Fälle häufig, auch bei nicht mit dem offiziellen Militärdienst in Zusammenhang stehenden Anklagen, oftmals in Schnellverfahren und ohne ausreichenden Rechtsbeistand. Menschenrechtsaktivisten äußerten die Befürchtung, dass solche Verfahren das Potenzial für Straflosigkeit schaffen (USDOS 11.3.2020).

Seit Jahren wird - wenn bislang auch ohne greifbare Fortschritte - erwogen, alle Militärverfahren ordentlichen Gerichten zu übertragen (AA 24.1.2020).

Regierungsführung und Justiz in den palästinensischen Lagern waren sehr unterschiedlich, wobei die meisten Lager unter der Kontrolle von gemeinsamen palästinensischen Sicherheitskräften standen, die mehrere Fraktionen vertraten (USDOS 11.3.2020).

Palästinensische Gruppen betreiben in den Flüchtlingslagern ein autonomes Justizsystem, das für Außenstehende meist undurchsichtig ist und sich der Kontrolle des Staates entzieht. Beispielsweise versuchten lokale Volkskomitees in den Lagern, Streitigkeiten durch informelle Vermittlungsmethoden zu lösen, überwiesen die betreffenden Personen im Falle schwerwiegender Vergehen (wie z.B. Mord und Terrorismus) aber gelegentlich zur Verhandlung an die staatlichen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (24.1.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon, Stand: November 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025311/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Libanon_%28Stand_November_2019%29%2C_24.01.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

-        HRW – Human Rights Watch: Lebanon (3.8.2020): UPR Submission 2020, 3. August 2020,

https://www.hrw.org/news/2020/08/03/lebanon-upr-submission-2020, Zugriff 14.8.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026426.html, Zugriff 12.5.2020

-        USDOS – United States Department of State (10.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom: Lebanon, https://www.ecoi.net/de/dokument/2031339.html, Zugriff 14.8.2020

Sicherheitsbehörden

Die führenden Positionen in den Sicherheitsbehörden werden u.a. nach konfessionellem Proporz vergeben. Die dem Innenministerium unterstehenden Forces de Sécurité Intérieure (FSI) [auch „Internal Security Force“ – ISF, Anm.] sind die allgemein zuständige Polizei und gleichzeitig auch Hilfsorgan der Justiz (z.B. zum Führen des Kriminalregisters). Sie wird durch einen sunnitischen General geleitet und steht dem ebenfalls sunnitischen Innenminister nahe. Die schiitisch geprägte Sûreté Générale (SG) übt neben Fragen der Ein- und Ausreisekontrollen auch eine nachrichtendienstliche Funktion aus. Ihr Leiter wird der AMAL-Partei von Parlamentspräsident Berri zugeordnet. Ein Polizeigesetz im engeren Sinne gibt es nicht (AA 24.1.2020).

Das Verhältnis zwischen den Bürgern und den staatlichen Sicherheitsbehörden, einschließlich des ISF und der Sûreté Générale (SG) ist nicht immer vertrauensvoll. Es wird beklagt, dass die Sicherheitsinstitutionen wie viele andere Staatsorgane von dem selben Klientelismus betroffen sind, der den Libanon als Ganzes durchzieht. Dieser Umstand stellt die Unparteilichkeit der Polizei in Frage. Auf der anderen Seite hat der Strategische Plan 2018-2022 des ISF die Organisation zu einem allgemeinen Wechsel zu mehr Verantwortlichkeit und Schutz der Menschenrechte verpflichtet. Die Verwirklichung solcher Ambitionen wird natürlich einige Zeit in Anspruch nehmen und nicht ganz reibungslos vor sich gehen (MEI 23.1.2019).

Das General Directorate for State Security (GDSS), das an den Premierminister berichtet, ist für Spionage und Staatssicherheit verantwortlich (USDOS 11.3.2020).

Die Lebanese Armed Forces (LAF) unter der Führung des Verteidigungsministeriums sind für die äußere Sicherheit verantwortlich, aber auch zur Festnahme von Verdächtigen aus Gründen der nationalen Sicherheit befugt. Sie inhaftierten auch mutmaßliche Drogenhändler, führten die Überwachung von Protesten durch, setzten Bauvorschriften im Zusammenhang mit Flüchtlingsunterkünften durch und intervenierten, um Gewalt zwischen rivalisierenden politischen Fraktionen zu verhindern. Die zivilen Behörden behielten die Kontrolle über die Streitkräfte der Regierung (USDOS 11.3.2020). Im Gegensatz zu den anderen Sicherheitskräften gilt die Armee trotz eines stets christlichen Oberbefehlshabers und zahlreicher christlicher Generäle als parteipolitisch und konfessionell weitgehend neutral und genießt grundsätzlich hohes Ansehe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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