Entscheidungsdatum
24.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W164 2166586-1/30E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, vom 07.07.2017, Zl. 1111526305-160535796, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 14.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am selben Tag erstbefragt. Er gab an, er sei am 01.07.2000 in der Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX geboren und aufgewachsen. Er sei ledig, gehöre der Volksgruppe der Pashtunen an und bekenne sich zum sunnitischen Glauben. Der BF habe 6 Jahre lang die Schule besucht. Bis zu seiner Ausreise sei er Schüler gewesen. Seine Eltern und seine Schwestern würden weiterhin in Afghanistan leben. Sein Bruder sei verstorben. Befragt zu seiner Reiseroute gab der BF an, er habe sich ca. 5 Tage im Iran aufgehalten, ca. 7 Tage in der Türkei, ca. 5 Tage in Bulgarien, ca. 5 Tage in Serbien und ca 20 Tage in Ungarn.
Zu seinem Fluchtgrund gab der BF an, in seinem Heimatort seien viele Taliban und IS-Anhänger. Sie hätten verlangt, dass er sich ihnen anschließe und mit ihnen zusammenarbeite. Seine Familie sei deshalb nach Kabul gezogen. Während des einwöchigen Aufenthalts in Kabul sei der kleine Bruder bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Die Familie sei deshalb wieder zurück nach XXXX gezogen, um den Bruder zu begraben. Dort sei der BF von Taliban aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen. Sein Vater habe dann entschieden, dass der BF so schnell wie möglich Afghanistan verlassen müsse.
Der BF legte in der Folge seine am 01.03.2017 ausgestellte Tazkira vor, die umgerechnet im Jahr 2016 nach Körper, Größe und Aussehenein Alter von 16 Jahren auswies, ferner den Geburtsort XXXX . Der BF legte weiters vor: eine Bestätigung der Polizei in Kabul darüber, dass der Bruder des BF bei einem Anschlag vom 29.9.2014 in Kabul ums Leben kam, ferner eine Tazkira des Bruders, eine Tazkira des Vaters, zwei Kopien von Drohbriefen, eine Schulbesuchsbestätigung der Volksschule XXXX , wonach der BF im Jahr 2014 in der sechsten Schulstufe war und Nachweise über die Integration des BF in Österreich.
Am 17.06.2016 wurde der BF einer ärztlichen Untersuchung zum Zwecke der Erstellung einer medizinischen Altersdiagnose unterzogen. Das Gutachten vom 30.06.2016 ergab unter Zusammenschau der erhobenen Befunde, dass der BF zum Untersuchungszeitpunkt ein höchstmögliches Mindestalter von 17,2 Jahren habe bzw. als "fiktives" Geburtsdatum den XXXX .
Am 31.05.2017 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vernommen. Der BF machte zusammengefasst die folgenden Angaben: Er habe mit seiner Familie im Ort XXXX , in einem Haus gelebt. Seine Eltern würden weiterhin dort leben. Der BF habe Kontakt zu ihnen. Seine älteren Schwestern hätten eigene Familien.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der BF vor, sein Vater sei Landwirt gewesen. Etwa zwei Jahre vor der Befragung (= im Jahr 2015) habe der BF dem Vater das Frühstück aufs Feld bringen wollen. Damals sei eine Militäraktion der afghanischen Armee und ausländischer Soldaten gegen Daesh und Taliban im Gange gewesen.
Ein paar Wochen später seien Taliban zur Familie des BF gekommen, hätten mit dem Vater gesprochen und behauptet, der BF und sein Bruder hätten sie an die afghanische Armee verraten. Die Taliban hätten den BF und seinen Bruder mitnehmen wollen. Der BF sei geschlagen worden. Der Vater habe mit den Taliban diskutiert; Nachbarn hätten die Taliban gebeten, dass sie den BF und seinen Bruder nicht mitnehmen sollen. Die Taliban hätten schließlich von ihrem Vorhaben abgesehen. Eine Woche später habe der BF einen Drohbrief erhalten. Dieser sei mit 1.11.1435 arabisch islamischer Kalender (=28.8.2014) datiert.
Nach dem ersten Drohbrief sei der BF mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder nach Kabul gezogen. Sie hätten bei einem Freund des Vaters in der Nähe des Flughafens gewohnt. Der Bruder des BF sei, als er ein Lebensmittelgeschäft betrat Opfer eines Selbstmordanschlages geworden. Das Attentat habe sich am 07.07.1393 (=29.09.2014) ereignet.
Die Familie sei dann wieder ins Heimatdorf gezogen und habe den Bruder begraben. Dann sei ein zweiter Drohbrief gekommen. Dieser trage das Datum 14.05.1436 (=5.3.2015). Mit diesem Brief sei der BF erinnert worden, dass er als Spion betrachtet werde und beim „Gericht des Emirats“ verurteilt werden würde. Die Taliban hätten gefordert, dass der BF mit ihnen zusammenarbeiten solle. Der BF habe daher Angst gehabt und Afghanistan verlassen.
An seinen Eltern hätten die Taliban kein Interesse, da diese alt seien. Über Nachfragen gab der BF an, die im Drohbrief ausgesprochene „Ladung zum Gericht“ sei ein Trick gewesen. Die Taliban hätten ihn dann nicht mehr weggelassen. Die „Verhandlung“ hätte wahrscheinlich in Pakistan stattfinden sollen.
Der BF fürchte sich im Falle seiner Rückkehr vor den Taliban und den Daesh. Er habe Angst, wie sein Bruder umgebracht zu werden. Taliban würden unschuldige Zivilisten töten, im Besonderen würden sie den BF töten wollen, da er sich ihnen nicht angeschlossen habe.
Zu seiner Situation in Österreich gab der BF an, er habe Deutschkurse und spiele Fußball mit anderen Jugendlichen. Außerdem habe er viele Kontakte zu seinen Lehrern und Betreuungspersonal. Der BF legte ÖSD- Zertifikate über den Abschluss der Integrationsprüfungen auf Sprachniveau Deutsch A1 und A2 vor; ferner Bestätigungen über die Teilnahme an Deutschkursen, Workshops und an einem Kurs für den Pflichtschulabschluss, weiters zwei Empfehlungsschreiben.
4. Das BFA stellte betreffend den Anschlag in Kabul vom 29.09.2014 eine Anfrage an die Staatendokumentation. Dabei wurde ermittelt, dass es bei dem Bombenanschlag an einem Sicherheitskontrollpunkt, etwa eine halbe Meile vom Kabuler Flughafen entfernt, sieben Tote (vier Sicherheitsbeamte und drei Zivilisten) und 13 Verletzte gegeben habe. Zur Frage, ob der Bruder des BF eines der Opfer gewesen sei, seien in öffentlich zugänglichen Quellen im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch keine Informationen gefunden worden.
5. Mit Bescheid des BFA vom 07.07.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der BF habe weder sein Vorbringen, die Taliban hätten versucht ihn zu rekrutieren, noch die Tötung seines Bruders bei dem Bombenanschlag in der Nähe des Kabuler Flughafens, glaubhaft habe machen können. Auch habe der BF nicht dargelegt, weshalb er im Falle seiner Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage kommen könnte, da er keinen außergewöhnlichen Umstand behauptet oder bescheinigt habe. Eine Rückkehr nach Kabul, Mazar e-Sharif oder Herat sei dem BF zumutbar. In Österreich habe der BF keine familiären Anknüpfungspunktes Eine Interessensabwägung gem. § 9 Abs 1 BFA-VG habe ergeben, dass aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer, der nicht allzu intensiven sozialen Beziehungen des BF in Österreich und seiner Bindung zum Heimatstaat das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gegenüber seinem Interesse an der Achtung seines Privat- und Familienlebens überwiegen würde.
6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften und brachte soweit hier wesentlich vor, die belangte Behörde habe keine näheren Informationen über die Zeitspanne zwischen dem zweiten Drohbrief und der Flucht des BF eingeholt und daher auch nicht festgestellt, dass die Taliban in diesem Zeitraum beim BF zuhause gewesen seien, er selbst aber zu dem Zeitpunkt nicht zuhause gewesen sei. Dem Vater des BF sei mitgeteilt worden, dass sich der BF für eine Rekrutierung zur Verfügung stellen müsse und ansonsten getötet würde.
Des Weiteren seien die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur Sicherheitslage in Afghanistan und Kabul, sowie zur Situation der Rückkehrer bzw. Binnenvertriebenen in den Großstädten unvollständig und teilweise unrichtig. Es wurde auf diverse Länderberichte hingewiesen. Aufgrund der äußerst angespannten Versorgungs- und Sicherheitslage könne keinesfalls davon ausgegangen werden, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul gegeben wäre.
Die Drohbriefe habe die Behörde als Fälschungen angesehen, ohne sich konkret damit auseinanderzusetzen. Der BF werde aufgrund seiner Weigerung, für die Taliban zu kämpfen, wegen seiner politischen Einstellung verfolgt. Der afghanische Staat sei nicht in der Lage ihn vor Verfolgung zu schützen.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative in eine der Großstädte Afghanistans sei für den BF ausgeschlossen, da sich die Sicherheitslage drastisch verschlechtert habe und er in keiner der Städte über ein entsprechendes soziales Netzwerk verfüge, das ihn davor schützen könne in eine ausweglose Lage zu geraten. Dem sei zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
Der BF beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, den angefochtenen Bescheid zu beheben und ihm den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen Aufenthaltstitel aus den Gründen des Art. 8 EMRK zu erteilen, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
7. Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.10.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch an der der BF im Beisein seines Rechtsvertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Paschto teilnahm. Das ebenfalls zur Verhandlung geladene BFA sagte seine Teilnahme ab. Dem BFA wurde das Verhandlungsprotokoll samt Beilagen auf schriftlichem Weg zur Kenntnis gebracht.
Die nunmehrige Rechtsvertretung übernahm im Zuge der mündlichen Verhandlung den Länderinformationsbericht vom 16.09.2021, ferner Kurzinformationen der Staatendokumentation vom 17.08.2021 und 20.08.2021, sowie die UNHCR-Position vom August 2021. Ferner wurden dem Beschwerdeführervertreter die genannte Anfrage des BFA an die Staatendokumenation vom 04.07.2017 betreffend den Anschlag in der Nähe des Flughafen Kabul vom 29.09.2014, sowie die deutschen Übersetzungen der vom BF vorgelegten Drohbriefe, der Schulbesuchsbestätigung der Volksschule XXXX , der Tazkiras des BF, seines Vaters, und seines Bruders, als auch der polizeilichen Bestätigung über das Attentat vom 29.09.2014 in Kabul, zur Kenntnis gebracht.
Der BF brachte zum wie oben verlesenen Akt vor, sein Vater habe seine Entscheidung, den BF nach Europa zu schicken, 1 ½ Jahre nach dem Tod seines Bruders getroffen. Nach Erhalt des zweiten Drohbriefes sei der BF noch ungefähr 10 Monate lang, in Afghanistan geblieben.
Die Behauptung des BFA, dass kein Kind Opfer des Attentats vom 29.09.2014 gewesen sei, habe der BF bereits durch die Bestätigung der Polizei von Kabulund durch die Vorlage von Fotos seines Bruders zu widerlegen versucht. Auf den vorgelegten Fotos der Leiche seines Bruders sei eindeutig eine Explosion als Todesursache zu erkennen. Die Behörden hätten ihm dennoch weiterhin nicht geglaubt. Die Taliban hätten versucht, den BF und seinen Bruder zu rekrutieren. Sie hätten den BFgeschlagen, und ihm einen Zahn gebrochen. In Österreich habe sich der BF zahnmedizinisch untersuchen lassen und könne den Befund vorlegen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt führte der BF aus, er habe gemeinsam mit seinem Bruder das Frühstück dem Vater aufs Feld gebracht. Beide seien beim Vater geblieben, als afghanische Soldaten vorbeigegangen seien und gefragt hätten, ob IS-Kämpfer oder die Taliban im Gebiet präsent seien. Der Vater habe dies bejaht. Der BF habe die Soldaten nur einmal zu seinem Vater kommen gesehen.
Als die Taliban ein paar Wochen später am frühen Abend zur Familie des BF nach Hause gekommen seien, hätten diese ihnen vorgeworfen, sie an die afghanische Armee verraten zu haben bzw. der Armee Informationen weitergegeben zu haben.
Die Taliban hätten den BF und seinen Bruder geschlagen und versucht, beide zu entführen. Die Eltern und Nachbarn hätten die Taliban angefleht, die beiden nicht mitzunehmen. Schließlich hätten die Taliban von ihrem Vorhaben abgesehen.
Als sein Vater von den Soldaten angesprochen worden sei, sei auch der BF anwesend gewesen, weshalb die Taliban gedacht hätten, dass die zwei Brüder, Informationen über die Taliban an die Armee weitergegeben hätten. Den BF und seinen Bruder zu verdächtigen sei von den Taliban auch als Vorwand verwendet worden, um junge Männer mitnehmen und rekrutieren zu können. Dass auch der Bruder im Visier der Taliban gestanden sei, wisse der BF, da die Taliban damals auch den Bruder geschlagen hätten.
Hinsichtlich der von ihm vorgelegten mit 27.08.2014 und 05.03.2015 datierten Drohbriefe gab der BF an, sein Vater habe den ersten Drohbrief erhalten und habe dem BF mitgeteilt, dass die Taliban ihn und seinen Bruder mitnehmen wollen würden.
Seine Mutter habe Angst um ihre Söhne gehabt habe, und habe befürchtet, dass die Taliban sie mitnehmen würden. Den Inhalt des ersten Drohbriefes habe der BF nicht gekannt. Darauf angesprochen, dass nur er und nicht auch sein Bruder im Drohbrief angeführt werde, erwiderte der BF, sowohl er als auch sein Bruder würden erwähnt werden.
Nach Erhalt des ersten Drohbriefes sei die Familie nach Kabul gezogen. Dort sei der Bruder des BF bei einem Anschlag am 29.09.2014 ums Leben gekommen. Die Familie sei daraufhin zurück in das Heimatdorf gezogen, um den Bruder zu begraben. Der BF habe dann noch mehrere Monate im Heimatdorf verbracht. Nach Erhalt des zweiten Drohbriefes sei er zu seiner Tante väterlicherseits gezogen. Der Aufenthalt bei seiner Tante sei schwierig gewesen, da junge Mädchen im Haus lebten und der Aufenthalt eines jungen Mannes in einer anderen Familie mit jungen Töchtern der paschtunischen Kultur zuwiderlaufe. Nach einiger Zeit habe auch der Mann seiner Tante begonnen, sich zu beschweren. Schließlich hätten seine Eltern keine andere Wahl mehr als den BF ins Ausland zu schicken.
Im Laufe des Verfahrens wurden folgende Unterlagen vorgelegt:
? Dienstvertrag vom 19.10.2021 (Dienstbeginn 22.10.2021)
? Beschäftigungsbewilligung des Arbeitsmarktservice XXXX vom 12.10.2021
? Aufnahmebestätigung der HTBLuVA XXXX (Abendschule für Berufstätige/Fachrichtung Bautechnik) vom September 2021
? Teilnahmebestätigung des Vereins XXXX (Nachholen des Pflichtschulabschlusses) vom 23.02.2017
? Prüfungsbestätigung des Vereins XXXX vom 27.02.2017 über die bestandene ÖSD A2 Sprachprüfung
? Einschätzung des Leistungsstandes des BF (Lehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses) des Vereins XXXX vom 30.05.2017 und 20.02.2018
? Zeugnis der Wohngemeinschaft „ XXXX “ des Vereins XXXX vom 30.05.2017
? Bestätigung des Vereins XXXX über positive Absolvierung des Pflichtschulabschlusses mit Ausnahme von „Deutsch- Kommunikation und Gesellschaft“ vom 10.01.2018
? Zusatz zum Abschlusszeugnis des Pflichtschulabschlusses (Verein XXXX ) vom 10.01.2018
? Empfehlungsschreiben XXXX (Asylquartierbetreiber XXXX Developments GmbH) vom 05.10.2021
? Bestätigungen der Stadt XXXX über gemeinnützige Tätigkeit des BF:
vom 22.05.2018 bis 04.07.2018 im Ausmaß von 120 Stunden
vom 08.10.2018 bis 20.11.2018 im Ausmaß von 36 Stunden
vom 18.11.2019 bis 27.12.2019 im Ausmaß von 120 Stunden
vom 03.08.2020 bis 28.08.2020 im Ausmaß von 120 Stunden
vom 02.08.2021 bis 27.08.2021 im Ausmaß von 120 Stunden
? ÖSD Zertifikat Deutsch A1 Note „sehr gut“ vom 01.12.2016
? ÖSD Zertifikat Deutsch A2 Note „bestanden“ vom 01.03.2017
? ÖSD Zertifikat Deutsch B1 Note „ausreichend bestanden“ vom 23.01.2018
? Deutschkursbestätigung der VHS XXXX vom 10.10.2016 bis 28.11.2016
? (Kurz-)Zahnarztbrief vom 26.04.2018
? Zertifikat des Workshops „Vom du zum Wir“ Werte und Sexualität vom 25.10.2016
? Kopie der Tazkira des BF
? Kopie der Tazkira des Vaters des BF
? Kopie der Tazkira des Bruders des BF
? Drohbriefe datiert mit 28.08.2014 und 05.03.2015
? Schulbesuchsbestätigung einer afghanischen Schule vom 02.03.2017
? Afghanische Polizeibestätigung über den Tod des Bruders des BF vom 24.10.2016
(die zuletzt genannten sechs Dokumente wurden ins Deutsche übersetzt)
? Konvolut von Fotos
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volsgruppe der Paschtunen und sunnitisch muslimischen Glaubens. Seine Muttersprache ist Paschto. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er ist der Provinz Nangahar, Distrikt XXXX , Dorf XXXX geboren und aufgewachsen. Der BF hat in Afghanistan sechs Jahre lang die Schule besucht. Er ist gesund und arbeitsfähig. Die Eltern des BF leben weiterhin in Afghanistan. Sein jüngerer Bruder wurde im September 2014 Opfer eines Selbstmordanschlags in Kabul.
Im April 2016 reiste der BF unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 14.04.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält er sich durchgehend in Österreich auf.
In Österreich absolvierte der BF diverse Deutschkurse und erwarb am 01.12.2016 ein ÖSD Zertifikat A1 mit der Note „sehr gut“, am 01.03.2017 ein ÖSD Zertifikat A2 mit der Note „bestanden“ und am 23.01.2018 ein ÖSD Zertifikat B1 mit der Note „ausreichend bestanden“. Des Weiteren war er von Mai 2018 bis August 2021 mehrmals ehrenamtlich für die Stadt XXXX tätig und hat bis dato insgesamt 516 Stunden gemeinnützige Arbeit geleistet. Mit 12.10.2021 wurde dem BF vom Arbeitsmarktservice XXXX eine Arbeitsbewilligung erteilt. Seit 22.10.2021 ist er in der Systemgastronomie vollzeitbeschäftigt und bezieht hierfür ein monatliches Gehalt in Höhe von EUR 1.575,- brutto.
Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Stand: 16.09.2021):
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Version 5. 16.09.2021 (LIB)
Politische Lage
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als QuettaShura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (LIB).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB).
Friedensverhandlungen und Abzug der internationalen Truppen
Friedensverhandlungen
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden. Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass „irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (LIB).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (LIB).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (LIB).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar. In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen. Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (LIB).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500 - 3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“. Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (LIB).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen (LIB).
Sicherheitslage
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“, innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei. Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB).
Erreichbarkeit
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB).
Internationale Flughäfen in Afghanistan
In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (LIB).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB)
Zentrale Akteure
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (LIB).
Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB).
Verbleibende und neue Akteure in Afghanistan
Obwohl die Taliban die Kontrolle über ganz Afghanistan haben - mit Ausnahme des Panjshir-Tals und anderer kleiner Widerstandsnester - ist anzumerken, dass die Taliban nicht der einzige Akteur im Land sind (Danish Immigration Service).
Im Panjshir -Tal hatten die Überreste der ehemaligen afghanischen Regierung und lokaler Milizen die National Resistance Front (NRF) unter der Führung des ehemaligen Vizepräsidenten der Republik Amrullah Saleh und Ahmad Massoud gebildet. Die NRF soll vor der Eroberung von Panjshir durch die Taliban aus mehreren Tausend Mann mit Ausrüstung der afghanischen Armee bestehen. In den Tagen nach der Eroberung von Panjshir durch die Taliban gelobte Massoud, dass die NRF den Taliban weiterhin Widerstand leisten werde (Danish Immigration Service).
Al-Qaida besteht aus rund 500 Mitgliedern und ist nach Einschätzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UNSC) in mindestens 15 der 34 Provinzen Afghanistans vor allem in den östlichen, südlichen und südöstlichen Regionen tätig. Der UNSC erklärt weiter, dass die Gruppe weiterhin eng mit den Taliban verbunden ist (Danish Immigration Service).
Es wird geschätzt, dass der Islamische Staat der Provinz Khorasan (ISKP) eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern hauptsächlich in kleinen Gebieten der östlichen Provinzen Kunar und Nangarhar hält, aber auch in geringerer Zahl in nördlichen Provinzen wie Balkh und Badakhshan präsent ist , Kunduz und Sar-e Pul. Die Gruppe erlitt im Jahr 2020 erhebliche Gebiets- und Personalverluste, erleichtert jedoch weiterhin Angriffe in ganz Afghanistan, einschließlich größerer Städte wie Dschalalabad und Kabul (Danish Immigration Service).
Unter anderen in Afghanistan noch präsenten Akteuren ist die Islamische Bewegung Usbekistans (IMU), die aus etwa 700 Kämpfern besteht, die in den Provinzen Faryab, Sar-e Pul und Jawzjan ansässig sind, wo sie auf lokale Zweige der Taliban zur finanziellen Unterstützung angewiesen sind (Danish Immigration Service).
Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha, im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben, wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen. Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (LIB).
Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB).
Struktur und Führung der Taliban
Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).
Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB).
Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB).
Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks und der Miran Shah-Schura ist. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der „Übergangsregierung“ die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (LIB).
Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB).
Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40 - 45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB).
Verfolgungspraxis der Taliban - neue technische Möglichkeiten
Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB).
Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (LIB).
Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“)-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenministeriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (LIB).
Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E- Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“ (LIB).
Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (LIB).
Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt, wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (LIB).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (LIB).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen: Eine Richterin wie auch eine Polizistin gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (LIB).
Rekrutierungsstrategien
[Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 stellte sich die Lage folgendermaßen dar:]
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban [vor ihrer Machtübernahme im August 2021] teilte die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert wurden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet waren (LIB).
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgte: Sie lief haup