TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/30 W109 2211390-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.11.2021
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Entscheidungsdatum

30.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W109 2211390-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BÜCHELE über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 16.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.05.2021 zu Recht:

A)       

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkt II. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

B)       

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Am 22.05.2016 stellte der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 23.05.2016 gab der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung im Wesentlichen an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, stamme aus Herat und habe fünf Jahre die Schule besucht. Zum Fluchtgrund befragt führte er aus, die Taliban hätten sie ständig in der Moschee aufgesucht und bedroht. Sie wollten mit ihnen kämpfen. Außerdem habe er keine Ausbildung machen können. Es wäre ein schwieriges Leben gewesen.

Am 30.10.2018 führte der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, der Bruder habe mit dem Onkel mütterlicherseits das Kind von XXXX entführt. Er sei ein bekannter Mann und habe Gasfirmen gehabt. Als das Lösegeld bezahlt worden sei, seien sie festgenommen worden. Eines Tages sei der andere Bruder auf dem Feld zur Bewässerung geblieben. Am Abend habe sich die Mutter Sorgen gemacht, weil der Bruder nicht nachhause gekommen sei. Der Vater habe gesagt, er sei vielleicht zu den Nachbarn gegangen. Sie seien schlafen gegangen und um sechs in der Früh aufgestanden, weil es draußen laut gewesen sei. Sie hätten geläutet. Sie seien rausgegangen und dann habe er gesehen, dass sein Bruder am Boden voller Blut gewesen sei. Sie hätten ihn dort hingeworfen. Er habe überall Messerstiche gehabt. Sie hätten den Bruder in die Wohnung gebracht und dann begraben. Es sei ein Zettel bei der Leiche gewesen, den habe der Vater in die Tasche gesteckt. Am Abend habe die Frau des Bruders den Zettel vorgelesen. Es sei draufgestanden, sie hätten seinen Sohn entführt und ihm wehgetan, deshalb habe er das gemacht. Es sei auch draufgestanden sie hätten eine Bombe bei ihnen explodieren lassen. Er habe geschrieben, wenn sie Kinder hätten, werde er ihnen auch wehtun. Einen Tag später in der Nacht habe XXXX eine Bombe in ihre Wohnung geworfen. Alle Fenster seien zerbrochen. Sie seien dann zur Tante gefahren und sechs Tage bei ihr geblieben. Der Vater habe jemanden gefunden, der ihnen geholfen habe, in den Iran zu fliehen. Als er 13 oder 14 gewesen sei, habe der Vater gesagt, er müsse nicht mehr in die Schule gehen. Die Taliban hätten sie in der Schule bedroht. Sie sollten in die Moschee gehen und etwas lernen. Sie hätten immer gesagt, sie würden die älteren Kinder zum Kämpfen mitnehmen.

2.       Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 16.11.2018, zugestellt am 21.11.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, das Vorbringen sei vage, widersprüchlich und nicht plausibel.

3.       Am 13.12.2018 langte die vollumfängliche Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bei der belangten Behörde ein in der im Wesentlichen ausgeführt wird, der Beschwerdeführer habe wegen Blutrache flüchten müssen. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft. Die Behörde habe Ermittlungen vor Ort durchführen müssen. Der Beschwerdeführer sei nicht ausreichend befragt worden. Der Beschwerdeführer habe angedeutet, dass ihm Zwangsrekrutierung von Seiten der Taliban drohe. Damit habe sich die Behörde nicht befasst. Dem Beschwerdeführer stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Die Länderfeststellungen seien mangelhaft. Sicherheits- und Versorgungslage seien schlecht. Die Beweiswürdigung sei mangelhaft. Dem Beschwerdeführer drohe Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie. Er gehöre zur Risikogruppe der wehrfähigen Männer.

Mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 11.09.2019, 39 Hv 100/19k, wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG zu einer Geldstrafe von 250 Tagessätzen Verurteilt.

Am 04.05.2021 gab der Beschwerdeführer seine traditionelle Eheschließung bekannt.

Am 06.05.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, sein bevollmächtigter Rechtsvertreter und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen, er werde im Herkunftsstaat wegen Blutrache verfolgt, weil sein Bruder das Kind eines Geschäftsmannes entführt habe, aufrecht.

Am 09.11.2021 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein, in der im Wesentlichen ausgeführt wird, infolge der Machtübernahme der Taliban bestehe in ganz Afghanistan ein reales Risiko einer unmenschlichen Behandlung unabhängig von persönlichen Voraussetzungen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sie undenkbar.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Mehrere Empfehlungsschreiben

?        Teilnahmebestätigungen für Deutschkurse und einen Schwimmkurs

?        Integrationsprüfungszeugnis A1

?        Fitnesscenter-Vertrag

?        Bestätigung über gemeinnützige Tätigkeit

?        Urkunde über traditionelle Eheschließung

?        Hochzeitsfotos

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zu Person und Lebensumständen Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, wurde im Jahr XXXX geboren und ist Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch Deutsch zumindest auf dem Niveau A1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

Der Beschwerdeführer ist gesund.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 11.09.2019, 39 Hv 100/19k, wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 5. Fall SMG in Anwendung des § 37 StGB nach dem ersten Strafsatz des § 28a Abs. 1 SMG zu einer Geldstrafe von 250 Tagessätzen, im Fall der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 125 Tagen verurteilt. Die Höhe des einzelnen Tagessatzes wurde gemäß § 19 Abs. 2 StGB mit EUR 4,-- bestimmt, sodass die gesamte Geldstrafe EUR 1.000,- beträgt.

Der Beschwerdeführer hat vorschriftswidrig im Zeitraum Jänner 2019 bis April 2019 im Großraum XXXX Suchtgift in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) mehrfach übersteigenden Menge, nämlich insgesamt zumindest 500 g Cannabiskraut (mit einer Reinsubstanz von ca. 60 g THCA und ca. 4 g THC) durch Verkäufe und Übergabe an verschiedene unbekannte Drogenabnehmer anderen überlassen.

Mildernd wurden die Geständigkeit, die Unbescholtenheit und das Alter und 21 Jahren, erschwerend kein Umstand berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer hat bei seiner Beschuldigtenvernehmung durch die LPD XXXX weitreichende Angaben über eine im gesamten Bundesgebiet agierende afghanische Tätergruppierung gemacht. Nicht zuletzt durch diese Angaben konnten die Strukturen der Tätergruppierung offengelegt, mehrere Beschuldigte festgenommen und der Strafverfolgung zugeführt werden.

Der Beschwerdeführer stammt aus einem Dorf in der Provinz Herat, Distrikt Guzera. Er hat fünf Jahre die Schule besucht und in der familieneigenen Landwirtschaft mitgearbeitet. Die Familie verfügte über ein Haus, ein eigenes und ein gepachtetes Grundstück. Anfang 2016 reiste der Beschwerdeführer in den Iran aus und schließlich nach Europa weiter.

Der Beschwerdeführer hat zwei ältere Brüder und drei Schwestern. Seine Angehörigen sind im Iran aufhältig.

Am 01.05.2021 hat der Beschwerdeführer eine afghanische Staatsangehörige traditionell geheiratet. Seiner „Ehefrau“ wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.08.2021, GZ W213 2213527-1, der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 erteilt.

In Österreich hält sich der Beschwerdeführer seit seiner Einreise im Mai 2016 auf. Er hat einige Deutschkurse besucht und die Integrationsprüfung Niveau A1 bestanden. Außerdem hat der Beschwerdeführer an einem Schwimmkurs teilgenommen. Der Beschwerdeführer hat seit Juli 2017 wiederholt gemeinnützige Tätigkeiten geleistet. Er hat außerdem ehrenamtlich bei Veranstaltungen seiner Wohnsitzgemeinde mitgeholfen und für deren Bauhof gearbeitet.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr von Blutrache bedroht ist, weil sein Bruder das Kind eines reichen Geschäftsmannes entführt hat, wird nicht festgestellt.

Dass der Beschwerdeführer aufgefordert wurde, sich den Taliban anzuschließen und für sie zu kämpfen, wird nicht festgestellt.

1. 3.   Zur Rückkehr in den Herkunftsstaat

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv und haben Afghanistan von 1996 bis 2001 regiert. Seit 2001 haben sie einige Grundprinzipien bewahrt, u. a. eine strenge Auslegung des Scharia-Rechts in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Seit dem Beginn des Abzuges internationaler Truppen am 01.05.2021 konnten die Taliban ihre Gebietskontrolle zunehmend ausweiten. So standen am 03.06.2021 90 Distrikte unter ihrer Kontrolle, während sich mit Stand 19.07.2021 229 Distrikte in Händen der Taliban befanden. Im Juli wurden auch wichtige Grenzübergänge erobert. Ende Juli/Anfang August kämpfte die Regierung gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gar und Kandahar. Im August 2021 beschleunigte sich der Vormarsch der Taliban, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen. Am 15.08.2021 haben die Taliban größtenteils friedlich Kabul eingenommen, alle Regierungsgebäude und Checkpoints der Stadt besetzt, den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Der afghanische Präsident war zuvor außer Landes geflohen. Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten.

Mit dem Vormarsch der Taliban haben Kampfhandlungen und konfliktbedingte Todesopfer drastisch zugenommen. Zwischen 01.01.2021 und 30.06.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Mitte August wurden über 3.750 zivile Opfer dokumentiert. Im Mai und Juli führte die Zunahme von Kampfhandlungen zu über 23.000 konfliktbezogenen Vorfällen, das sind beinahe doppelt so viele wie im Zeitraum Jänner bis April. Im Jahr 2021 wurden 550.000 Menschen intern vertrieben, 400.000 davon zwischen 01.05.2021 und Mitte August. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen. Im August und September kam es zu Lokalen Kampfhandlungen, z.B. in Maidan Wardak und Daikundi. Anfang September kam es zudem zu schweren Kampfhandlungen im Panjshir-Tal, das die Taliban schließlich einnahmen.

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden. Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Es kam im Zuge des Vormarsches zu Massenexekutionen an ehemaligen und aktiven ANDSF-Mitgliedern.

Die Auswirkungen der Machtübernahme durch die Taliban auf die humanitäre Lage sind noch nicht absehbar. Bedingt durch im Jahr 2021 signifikant höhere Anzahl ziviler Opfer und Vertreibungen ist mit höherem humanitärem Bedarf zu rechnen. UN-Generalsekretär Guterres spricht von einer humanitären und ökonomischen Krise und warnt vor dem Zusammenbruch der Grundversorgung.

Die Banken bleiben geschlossen. Die Vereinigten Staaten haben der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von $ 9 Mrd. verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt. Die afghanische Währung ist auf ein Rekordtief gefallen. Dies hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen.

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden.

Bereits die erhöhte Konfliktintensität der letzten Monate hat zu Störungen in der Gesundheitsversorgung und gleichzeitig zu höherem Bedarf unter Verwundeten und intern Vertriebenen geführt. Die Konflikteskalation hat in Kombination mit Dürre und Überflutungen, der Coronavirus-Pandemie und konfliktbedingten Störungen des Zugangs zu humanitärer Hilfe die Lage im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung verschlechtert, über 9,1 Millionen Menschen sind akut von Mangelernährung betroffen. Der Zugang zu humanitärer Unterstützung bleibt weiter schwierig. Humanitäre Organisationen fürchten um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter*innen, weswegen mit einer Unterbrechung ihrer Arbeit zu rechnen ist, bis Bedingungen mit den Taliban verhandelt sind. IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen.

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in und macht etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt.

2.       Beweiswürdigung:

2.1.    Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zu Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit und Muttersprache des Beschwerdeführers beruhen auf seinen gleichbleibenden und plausiblen Angaben im Lauf des Verfahrens, die auch die belangte Behörde ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat. Die Feststellung zu den Deutschkenntnissen des Beschwerdeführers beruht auf dem vorgelegten Integrationsprüfungszeugnis für das Niveau A1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht war jedoch eine flüssige Unterhaltung in deutscher Sprache mit dem Beschwerdeführer möglich (OZ 15, S. 11-12).

Dass er gesund ist, hat der Beschwerdeführer gleichbleibend angegeben und auch im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zu seinem Gesundheitszustand befragt angegeben, er sei gesund (OZ 15, S. 4).

Die Feststellungen zur strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers beruhen auf der im Akt einliegenden gekürzten Urteilsausfertigung des Landesgerichts Feldkirch (OZ 7).

Die Kooperationsbereitschaft des Beschwerdeführers in der Beschuldigtenvernehmung vor der LPD XXXX geht aus dem aktenkundigen Abschlussbericht der LPD XXXX vom 06.08.2019 hervor (OZ 6).

Seine Lebensverhältnisse im Herkunftsstaat hat der Beschwerdeführer gleichbleibend angegeben (Einvernahmeprotokoll vom 30.10.2018, S. 4-5; OZ 15, 5). Dass seine Familie im Iran aufhältig ist und Kontakt besteht, hat der Beschwerdeführer im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 06.05.2021 angegeben (OZ 15, S. 6).

Zu seiner traditionellen Hochzeit hat der Beschwerdeführer eine Bestätigung samt Übersetzung und einige Hochzeitsfotos vorgelegt (Beilagen zu OZ 15). In den Akt betreffend die „Ehefrau“ des Beschwerdeführers hat das Bundesverwaltungsgericht Einsicht genommen.

Das Antragsdatum des Beschwerdeführers ist aktenkundig, Hinweise auf eine zwischenzeitige Ausreise sind nicht hervorgekommen. Zu Deutschkursen, Schwimmkurs und Fitnesscenter hat der Beschwerdeführer Bestätigungen vorgelegt (Beilagen zum Einvernahmeprotokoll vom 30.10.2018), ebenso sein Integrationsprüfungszeugnis und eine Bestätigung über geleistete gemeinnützige Arbeit (Beilagen zu OZ 15). Ehrenamtliche Tätigkeit und Mitarbeit am Bauhof für 24 Stunden monatlich gehen aus einem Empfehlungsschreiben des Bürgermeisters hervor (Beilage zum Einvernahmeprotokoll vom 30.10.2018).

2.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Aus den vom Bundesverwaltungsgericht mit Ladung vom 13.04.2021 (OZ 9) in das Verfahren eingebrachten UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender von 30.08.2018 (in der Folge: UNHCR-Richtlinien) geht hervor, dass unterschiedliche Gruppierungen illegalen Aktivitäten nachgehen. Insbesondere würden Geschäftsleute und andere Personen, die tatsächlich oder vermeintlich wohlhabend seien, zunehmend ins Visiert von Entführerbanden geraten. UNHCR betont, dass insbesondere Familienangehörige von wohlhabenden Personen, darunter Kinder, dem Risiko der erpresserischen Entführung aufgrund ihrer familiären Verbindung ausgesetzt seien (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 15. Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen sowie deren Familienangehörige, S. 112-114). Weiter berichtet UNHCR, dass Blutfehden durch unterschiedliche Taten ausgelöst werden können, wobei etwa Morde, dauerhafte, ersthafte Verletzungen und Entführung oder Vergewaltigung beispielhaft angeführt werden. Die Blutfehde sei insbesondere eine Tradition der Paschtunen, komme aber auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Die Mitglieder einer Familie würden als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie töten. Sie könnten zu lange anhaltendenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem „Paschtunwali“ müsse die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen könne aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließe gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet worden sei, könne davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 14. In Blutfehden verwickelte Personen, S. 110-112). Den Länderberichten zufolge sind die vom Beschwerdeführer geschilderten Ereignisse – nämlich, dass sein Bruder (und Onkel mütterlicherseits) das Kind eines Geschäftsmannes entführt haben, um Lösegeld zu erpressen und der Vater dieses Kindes in der Folge den anderen Bruder des Beschwerdeführers aus Rache ermordete und auch der übrigen Familie Rache androhte – in Afghanistan grundsätzlich möglich. Das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers erweist sich jedoch im konkreten Fall als widersprüchlich und inkonsistent und damit als nicht glaubhaft.

Zunächst beschränkt sich der Beschwerdeführer in der Erstbefragung im Hinblick auf den Fluchtgrund noch darauf, die Taliban hätten sie ständig in der Moschee aufgesucht und bedroht, sie sollten mit ihnen kämpfen. Außerdem habe er keine Ausbildung machen können, es sei ein schwieriges Leben gewesen (Erstbefragungsprotokoll, S. 5). Völlig unerwähnt bleibt dagegen, dass ein Bruder ein Kind entführt und der andere deshalb ermordet worden sein soll.

Das Bundesverwaltungsgericht übersieht nicht, dass die Erstbefragung sich gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 der Ermittlung der Identität und der Reiseroute dient und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. So hat auch der Verwaltungsgerichtshof wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben (VwGH 21.11.2019, Ra 2019/14/0429) und ist nicht von der Annahme, ein Asylwerber werde immer alles, was zur Asylgewährung führen könne, bereits bei der Erstbefragung vorbringen, auszugehen (VwGH 16.07.2020, Ra 2019/19/0419). Es ist jedoch nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen Erstbefragung und weiteren Einvernahmen zu stützen (VwGH 21.11.2019, Ra 2019/14/0429). Gegenständlich wurde der damals minderjährige Beschwerdeführer zudem – wie aus dem Protokoll der Erstbefragung hervorgeht (Erstbefragungsprotokoll, S. 2) – nicht in Gegenwart eines gesetzlichen Vertreters einvernommen (§ 19 Abs. 5 AsylG 2005). Dies begründet jedoch einen bloßen Verfahrensmangel (Vgl. VwGH 15.06.2021, Ra 2020/14/0399), der nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führt. Vielmehr bedarf es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen generell einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung und ist darauf Bedacht zu nehmen, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgt (VwGH 29.01.2021, Ra 2020/01/0470). Das Aussageverhalten des Minderjährigen ist dahingehend zu würdigen, ob und welche Angaben von ihm unter Berücksichtigung seines Alters erwartet werden können (VwGH 08.05.2015, Ra 2014/18/0113).

Gegenständlich bleibt das spätere eigentliche Fluchtvorbringen in der Erstbefragung nicht nur unerwähnt. Der Beschwerdeführer gibt zudem auch nicht an, dass einer seiner Brüder bereits verstorben ist, sowie, dass seine Familie im Iran aufhältig ist. Viel mehr ist protokolliert, dass seine Angehörigen alle in Afghanistan aufhältig sind (Erstbefragungsprotokoll, S. 2). Erst im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme am 30.10.2018 gibt er erstmals an, zunächst mit der gesamten Familie in den Iran geflüchtet zu sein (Einvernahmeprotokoll, S. 6) und auch im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die Ausreise der gesamten Familie in den Iran schilderte (OZ 15, S. 7). Auf Vorhalt seiner Angaben zum Verbleib der Familie in der Erstbefragung durch die belangte Behörde gibt der Beschwerdeführer an, er habe gemeint, vorher seien sie in Afghanistan gewesen (Einvernahmeprotokoll, S. 6), sowie, dass er gesagt habe, sie seien 2013/14 in Afghanistan gewesen. Er habe bei der Erstbefragung nicht gesagt, dass dies zur Zeit der Erstbefragung gewesen sein solle (Einvernahmeprotokoll, S. 7). Diese Erklärung des Beschwerdeführers scheint jedoch nicht nachvollziehbar. Zwar ist dem Erstbefragungsprotokoll der genaue Wortlaut der dem Beschwerdeführer im Hinblick auf den Verbleib der Angehörigen gestellten Frage nicht zu entnehmen. Es scheint jedoch weder plausibel, dass der Beschwerdeführer nach deren Verbleib im Jahr 2013/14 gefragt worden sein soll, noch, dass der Beschwerdeführer ohne diesbezüglich konkret gefragt worden zu sein, deren Verbleib im Jahr 2013/14 angibt. Auch äußert der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang, er glaube, dies habe man damals falsch geschrieben. Er glaube, der Dolmetscher habe ihn nicht gut verstanden, oder er selbst habe die Frage nicht genau verstanden (Einvernahmeprotokoll, S. 7). Hierzu ist zunächst anzumerken, dass der Beschwerdeführer jede Seite des Erstbefragungsprotokolls unterschrieben hat und aus dem Protokoll hervorgeht, dass der Beschwerdeführer keine Ergänzungen oder Korrekturen machen möchte und alles verstanden hat (Erstbefragungsprotokoll, S. 6).

Weiter fällt auf, dass der in diesem Zeitpunkt bereits volljährig Beschwerdeführer bereits zu Beginn der niederschriftlichen Einvernahme durch die belangte Behörde am 30.10.2018 zur Erstbefragung pauschal angibt, die Wahrheit gesagt zu haben, aber den Dolmetscher nicht ganz gut verstanden zu haben. Nochmals befragt, ob er den Dolmetscher verstanden habe, gibt er an, er habe Stress gehabt und nicht alles sagen können, sowie, sich nicht erinnern zu können, ob es eine Rückübersetzung gegeben habe. Er habe bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht und wolle heute alles sagen (Einvernahmeprotokoll, S. 3). Hieran fällt insbesondere auf, dass der Beschwerdeführer lediglich pauschal Probleme mit dem Dolmetscher und allgemein Stress behauptet. Er weist jedoch auf keinen konkreten Fehler bzw. kein konkretes Missverständnis hin, das es zu korrigieren gäbe. Hierdurch entsteht der Eindruck, dass der Beschwerdeführer lediglich versucht, die Vorgehensweise bei der Erstbefragung bereits im Vorfeld pauschal zu diskreditieren, um hinterher jeden allfälligen Widerspruch hierauf zurückführen zu können. Insbesondere wurde dem Beschwerdeführer eine Kopie des Erstbefragungsprotokolls ausgehändigt (Erstbefragungsprotokoll, S. 6), so dass er auch die Gelegenheit gehabt hätte, die protokollierten Angaben nochmals zu überprüfen. Auch die Behauptung des Beschwerdeführers, sich nicht erinnern zu können, ob ihm die Erstbefragung rückübersetzt wurde, scheint wenig nachvollziehbar. So dürfte es sich bei der ersten Befragung kurz nach der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Österreich für einen kürzlich alleine eingereisten 16-Jährigen um ein soweit markantes und einzigartiges Erlebnis gehandelt haben, dass zumindest deren grober Ablauf in Erinnerung bleibt. Auch geht aus dem Erstbefragungsprotokoll hervor, dass die aufgenommene Niederschrift dem Beschwerdeführer rückübersetzt wurde und er keine Ergänzungen bzw. Korrekturen zu machen habe (Erstbefragungsprotokoll, S. 6). Demnach verstärkt diese Behauptung des Beschwerdeführers den Eindruck, dass dieser lediglich versucht, die Zuverlässigkeit des Erstbefragungsprotokolls als Ganzes pauschal in Zweifel zu stellen. Eine nachvollziehbare Erklärung dafür, dass sein späteres Fluchtvorbringen nicht mit seinen Angaben zum Verbleib der Angehörigen in Afghanistan vereinbar ist, liefert der Beschwerdeführer jedoch nicht.

Zum in der Erstbefragung protokollierten Fluchtvorbringen gibt der Beschwerdeführer schließlich noch an, er habe nur „die Gründe gesagt von 2014“ (Einvernahmeprotokoll, S. 6), er klärt jedoch nicht nachvollziehbar, warum er die Frage „Warum haben Sie ihr Land verlassen“ (Erstbefragungsprotokoll, S. 5) mit Schilderungen beantwortet, die ihn – nachdem er in der Folge weiter bis zum fluchtauslösenden Vorfall in Afghanistan verblieb – nicht bewogen haben, sein Land zu verlassen, den die die Ausreise seinen späteren Angaben zufolge unmittelbar auslösenden Angriff jedoch völlig unerwähnt lässt.

Weiter sind auch die Angaben des Beschwerdeführers im Zuge der Hinblick auf die Taliban nicht gleichbleibend. So sind die Taliban der Erstbefragung zufolge ständig in die Moschee gekommen und hätten sie bedroht, sie sollten mit ihnen kämpfen und habe er keine Ausbildung machen können (Erstbefragungsprotokoll, S. 5). In der niederschriftlichen Einvernahme gibt der Beschwerdeführer dagegen an, die Taliban hätten sie in der Schule bedroht und gesagt, wenn sie ein Kind festnehmen würden, würden sie mit den Kindern irgendwas machen und sie sollten nicht in die Schule, sondern in die Moschee gehen und etwas lernen (Einvernahmeprotokoll, S. 8). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht schließlich brachte der Beschwerdeführer zunächst gar nicht vor, dass er auch von einer allfälligen Rekrutierung durch die Taliban bedroht gewesen sein soll. Erst am Ende der Befragung zum Fluchtvorbringen führt der Beschwerdeführer befragt durch seinen Rechtsberater, wer im Heimatort für Sicherheit sorgt, aus, die Mudschaheddin oder die Taliban. Sie würden auch immer wieder in die Moschee kommen. Vor seiner Flucht hätten die Taliban auch Jugendliche in den Krieg mitgenommen. Dass er selbst davon konkret betroffen gewesen wäre, gibt der Beschwerdeführer jedoch nicht an. Aus den UNHCR-Richtlinien sowie der EASO Country Guidance: Afghanistan von Dezember 2020 – mit Ladung vom 13.04.2021 (OZ 9) in das Verfahren eingebracht – geht jedoch zur Zwangsrekrutierung Jugendlicher durch die Taliban bevor diese die Macht übernommen haben hervor, dass diese zwar zur Rekrutierung auch auf Zwang zurückgreifen und auch Kinder rekrutieren. Inwiefern diese Gefahr besteht, wird jedoch als abhängig von den Umständen des Einzelfalles beschrieben (UNHCR-Richtlinien, Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 3. Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung, Buchstabe a) Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs), S. 59 und Buchstabe c) Zusammenfassung, S. 73; EASO Country Guidance: Afghanistan von Dezember 2020, Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel 2.6 Persons fearing forced recruitment by armed groups, S. 63-65). Konkrete Angaben macht der Beschwerdeführer jedoch nicht, sondern gibt im Wesentlichen lediglich allgemein an, die Taliban seien in die Schule bzw. die Moschee gekommen und hätten rekrutiert.

Weiter ist das Aussageverhalten des in diesem Zeitpunkt bereits volljährigen Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 06.05.2021 zu berücksichtigen. Hier wurde er vom erkennenden Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichts aufgefordert, die Gründe, warum er Afghanistan verlassen habe, möglichst umfassend zu nennen und beschränkte sich dennoch auf eine kurze, floskelhafte Darstellung seiner Ausreisegründe, in der er wiederum eine allfällige Bedrohung durch die Taliban völlig unerwähnt ließ (OZ 15, S. 6). Erst nach Hinweis auf seine Mitwirkungspflicht und nochmaliger Aufforderung zu einer umfassenden Schilderung und Ergänzung seines Vorbringens schilderte der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht den ausreiseauslösenden Vorfall.

Weiter gibt der Beschwerdeführer auf Nachfragen zu Details des Fluchtvorbringens floskelhafte, vage und ausweichende Antworten. So kann er zur Gruppe, der sich sein Bruder angeschlossen haben soll und dazu, ob es sich um eine religiöse, politische oder kriminelle Gruppe handelt, keine Angaben machen und verweist in diesem Zusammenhang bloß floskelhaft darauf, dass er nur von seinem Vater mitbekommen habe, dass Bruder und Onkel sich der Gruppe angeschlossen hätten und aufgrund seines Alters nichts davon gewusst habe (OZ 15, S. 7). Der Vater habe zuhause erzählt, dass die Gruppe wegen Geld Menschen entführt habe (OZ 15, S. 8). Auch gibt der Beschwerdeführer etwa an, der Vater habe ihm von dem Bombenanschlag erzählt, den die Gruppe verursacht habe (OZ 15, S. 9). Er konkretisiert diese Situation, in der der Vater all dies erzählt haben soll jedoch nie, sondern führt dies stets bloß abstrakt an. Gleichzeitig behauptet der Beschwerdeführer jedoch, seine Familie habe nie mit ihm darüber gesprochen, um zu rechtfertigen, warum er auch nicht weiß, was mit dem entführten Kind passiert ist (OZ 15, S. 9), obwohl er sein gesamtes Wissen über die behauptete Tat des Bruders vom Vater erzählt bekommen haben will.

Warum der Beschwerdeführer auch nach seiner Ausreise im Erwachsenenalter die Hintergründe für die Flucht nie erfragt hat, obwohl er im Kontakt mit seinem Vater steht, kann er allerdings nicht nachvollziehbar begründen. So zieht sich der Beschwerdeführer hierauf angesprochen ebenso auf die Floskel zurück, sie hätten nie gerne über diesen Vorfall gesprochen und behauptet, seine Familie erzähle ihm auch nicht alles, weil sie sich Sorgen machen würden, dass es ihm schlechtgehe. In diesem Zusammenhang behauptet der Beschwerdeführer auch plötzlich, seine Mutter sei verstorben und habe ihm seine Familie hiervon erst zwei Monate später erzählt (OZ 15, S. 8). Im Gegensatz dazu hatte der Beschwerdeführer zuvor in der mündlichen Verhandlung, als er zum Verbleib seiner Angehörigen befragt wurde, mit keinem Wort erwähnt, dass seine Mutter mittlerweile verstorben ist, sondern gab lediglich an, seine „gesamte Familie“ würde im Iran leben. Er habe nur einen Bruder in Afghanistan, der sich in Haft befinde (OZ 15, S. 5). Auch gibt der Beschwerdeführer erst nachdem er eindringlich befragt wurde, warum er selbst später nie nach den Hintergründen der Flucht gefragt hat, an, der Vater habe sie alle aufgefordert, darüber und über den Bruder nicht mehr zu sprechen (OZ 15, S. 8). Auch hier bleibt der Beschwerdeführer jedoch bei dieser bloßen Floskel, ohne ein konkretes Ereignis zu schildern. Weiter muss dem Beschwerdeführer spätestens nachdem er den angefochtenen Bescheid erhalten hatte, in dem die belangte Behörde das Fluchtvorbringen in ihrer Beweiswürdigung ebenso als vage bezeichnet (Bescheid, S. 81 ff.), bewusst gewesen sein, dass er seine Ausreisegründe umfassend und konkret darlegen muss. Dass der mittlerweile erwachsene Beschwerdeführer dennoch nie nachgefragt haben soll, warum er aus Afghanistan flüchten musste, scheint nicht nachvollziehbar. Insbesondere gibt der Beschwerdeführer hierzu befragt – wie bereits angemerkt – auch keine Antwort, sondern weicht der Frage im Wesentlichen durch Floskeln aus.

Zudem spart der Beschwerdeführer in seiner freien Erzählung der Fluchtgeschichte wichtige Details aus, die er erst auf Nachfrage liefert. Er erwähnt etwa – wie er es noch in der niederschriftlichen Einvernahme geschildert hatte – nicht, dass die Entführer von der Polizei festgenommen wurden, als das Lösegeld bezahlt worden sei (Einvernahmeprotokoll, S. 5) und gibt auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erst auf Nachfrage Preis, dass der Gefängnisaufenthalt des Bruders überhaupt konkret mit der Entführung zusammenhängt (OZ 15, S. 8). Dass der Vater nach der Ermordung des Bruders außerdem bei der Polizei gewesen sein soll, erwähnt der Beschwerdeführer im Übrigen erstmals im Zuge der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage seines Rechtsvertreters und gibt sogar an, die Polizei habe den Leichnam des Bruders gesehen (OZ 15, S. 10). Demnach kam die Polizei – nachdem der Bruder um sechs Uhr morgens zum Haus der Familie gebracht worden sein und um drei am Nachmittag desselben Tages begraben worden sein soll – noch am Tag der Ermordung des Bruders ins Haus der Familie. Dass der Beschwerdeführer dies weder in seiner Einvernahme durch die belangte Behörde noch in seiner freien Schilderung des Fluchtvorbringens vor dem Bundesverwaltungsgericht erwähnt hat, scheint jedoch nicht nachvollziehbar.

In einer Gesamtbetrachtung der Angaben des Beschwerdeführers kommt das Bundesverwaltungsgericht daher zu dem Schluss, dass das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft ist, wobei insbesondere das inkonsistente, ausweichende Aussageverhalten des Beschwerdeführers im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht auch nicht mit der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers im Ausreisezeitpunkt zu erklären ist.

2.3.    Zur Rückkehr in den Herkunftsstaat

Die Feststellungen zu den jüngsten Entwicklungen in Afghanistan sowie zur aktuellen Lage unter der Herrschaft der Taliban beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Version 5, Stand 16.09.2021, insbesondere Kapitel Politische Lage, Sicherheitslage, Grundversorgung und Wirtschaft und Medizinische Versorgung, auf dem EASO, COI Report: Afghanistan. Security situation update von September 2021, auf der ACAPS, Afghanistan. Humanitarien impact and trends analysis von 23.08.2021 und der UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan von August 2021.

Zur Plausibilität und Seriosität der herangezogenen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsstaat ist auszuführen, dass die im Länderinformationsblatt zitierten Unterlagen von angesehen Einrichtungen stammen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Auch das European Asylum Support Office (EASO) ist nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgende Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet. Damit durchlaufen die länderkundlichen Informationen, die diese Einrichtungen zur Verfügung stellen, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat. Den UNHCR-Richtlinien ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung"), wobei diese Verpflichtung ihr Fundament auch im einschlägigen Unionsrecht findet (Art. 10 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 2013/32/EU [Verfahrensrichtlinie] und Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]; VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114) und der Verwaltungsgerichtshof auch hinsichtlich der Einschätzung von EASO von einer besonderen Bedeutung ausgeht und eine Auseinandersetzung mit den „EASO-Richtlinien“ verlangt (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405). Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich daher auf die angeführten Länderberichte.

3.       Rechtliche Beurteilung:

3.1.    Zur Abweisung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Asyl)

Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.

Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Art. 6 Statusrichtlinie definiert als Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann, den Staat (lit. a), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (lit. b) und nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedeutet Staatlichkeit der Verfolgung den Missbrauch einer aus der Gebietshoheit folgenden Herrschaftsmacht zum Zweck der Verfolgung oder, bei Vornahme von Verfolgungshandlungen durch Private, die Nichtausübung der Gebietshoheit zum Schutz vor Verfolgung (VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierung ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 30.08.2018, Ra 2017/18/0119 mwN).

3.1.1.  Zur behaupteten Verfolgungsgefahr wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie

Der Verwaltungsgerichtshof bejaht in seiner ständigen Rechtsprechung grundsätzlich die Asylrelevanz einer Verfolgung wegen Blutrache unter dem GFK-Anknüpfungspunkt der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „von Blutrache bedrohten Angehörigen der Großfamilie“, sofern sich die Verfolgungshandlungen gegen Personen richten, die in die Rache gegen den unmittelbar Betroffenen bloß aufgrund ihrer familiären Verbindungen zu diesem einbezogen werden (Vgl. etwa Ra 2014/18/0011, 13.11.2014).

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt konnte der Beschwerdeführer jedoch nicht glaubhaft machen, dass er von Blutrache bedroht ist, weil sein Bruder das Kind eines reichen Geschäftsmannes entführt hat, wird nicht festgestellt. Eine Verfolgungsgefahr im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist im Fall der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan daher nicht glaubhaft.

3.1.2.  Zur behaupteten Verfolgungsgefahr wegen Zwangsrekrutierung

Der Verwaltungsgerichtshof differenziert in ständiger Judikatur zwischen der per se nicht asylrelevanten Zwangsrekrutierung durch eine Bürgerkriegspartei von der Verfolgung, die an die tatsächliche oder unterstellte politische Gesinnung anknüpft, die in der Weigerung, sich den Rekrutierenden anzuschließen, gesehen wird. Auf das Auswahlkriterium für die Zwangsrekrutierung kommt es dabei nicht an. Entscheidend ist daher, mit welcher Reaktion durch die Milizen aufgrund einer Weigerung, sich dem Willen der Rekrutierenden zu beugen, gerechten werden muss und ob in ihrem Verhalten eine (unterstellte) politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt wird (19.04.2016, VwGH Ra 2015/01/0079 mwN).

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt ist jedoch nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan von Zwangsrekrutierung bedroht war. Eine Verfolgungsgefahr im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist im Fall der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan daher nicht ersichtlich.

Im Ergebnis war die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides daher abzuweisen.

3.2.    Zur Stattgebung der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (VwGH 30.01.2018, Ra 2017/20/0406).

Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 bzw 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes grundsätzlich nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein „real risk“ vorliegt, wenn stichhaltige Gründe („substantial grounds“) dafürsprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko im Sinne des Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen („in the most extreme cases“) diese Voraussetzung erfüllt (EGMR 28.11.2011, 8319/07 und 11.449/07, Sufi und Elmi, Rz 218, mit Hinweis auf EGMR 17.07.2008, 25.904/07, NA gegen Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen („special distinguishing features“), auf Grund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (EGMR 28.11.2011, 8319/07; 11.449/07, Sufi und Elmi, Rz 217).

Auch im ergangenen Urteil der Großen Kammer vom 23.08.2016, 59.166/12, JK et al gg Schweden, beschäftigte sich der EGMR mit seiner einschlägigen Rechtsprechung und führte insbesondere aus, dass die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person grundsätzlich bei dieser liege (Rz 91, 96), gleichzeitig aber die Schwierigkeiten, mit denen ein Asylwerber bei der Beschaffung von Beweismitteln konfrontiert sei, in Betracht zu ziehen seien und bei einem entsprechend substantiierten Vorbringen des Asylwerbers, weshalb sich seine Lage von jener anderer Personen im Herkunftsstaat unterscheide (Rz 94), im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden sei (Rz 97). Soweit es um die allgemeine Lage im Herkunftsstaat gehe, sei jedoch ein anderer Ansatz heranzuziehen. Diesbezüglich hätten die Asylbehörden vollen Zugang zu den relevanten Informationen und es liege an ihnen, die allgemeine Lage im betreffenden Staat (einschließlich der Schutzfähigkeit der Behörden im Herkunftsstaat) von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen (Rz 98).

Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 orientiert sich an Art 15 lit. c Statusrichtlinie (RL 2011/95/EU) und umfasst – wie der Gerichtshof der Europäischen Union erkannt hat – eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als „willkürlich“ erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er auf Grund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; 30.01.2014, C-285/12, Diakité).

Auch die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes sind von diesen Erwägungen getragen: Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (VwGH 26.02.2020, Ra 2019/18/0486).

Außerdem kann die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307 mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben sich die Asylbehörden und dementsprechend auch das Bundesverwaltungsgericht außerdem mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Die Verpflichtung hierzu finde sich auch im einschlägigen Unionsrecht (VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114).

UNHCR geht in seiner „UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan“ von August 2021 von einer rapiden Verschlechterung der Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes aus, zeigt sich besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, fordert alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes sicherzustellen. UNHCR hält es zudem nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedelungsperspektive zu verwehren. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan und die sich abzeichnende humanitäre Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen. Ein Moratorium solle bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert habe und geprüft worden sei, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würde. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stelle eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben müsse, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert habe, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.

Gegenständlich ist den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat zu entnehmen, dass es zuletzt bis zur Machtübernahme durch die Taliban zu einer starken Zunahme ziviler Opfer und einer Steigerung der Gewaltintensität gekommen ist. Diesbezüglich hat der Verfassungsgerichtshof jüngst bereits ausgesprochen, dass von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass eine Situation vorliegt, die bei einer Rückkehr die Gefahr einer Verletzung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK nach sich zieht (VfGH 05.10.2021, E 3249/2021, insbesondere Rn. 16). Seit der Machtergreifung der Taliban ist die Lage im Herkunftsstaat höchst unübersichtlich und prekär. Die EASO Country Guidance: Afghanistan von November 2021 geht im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen davon aus, dass eine Beurteilung der aktuellen Lage im Hinblick auf Art. 15 lit c) Statusrichtlinie nicht möglich ist (Abschnitt Guidance Note, Unterabschnitt Subsidiary protection, Unterabschnitt Article 15(c) QD, S. 32). Im Hinblick auf die Versorgungslage zeichnet sich eine noch nicht abschätzbare Zuspitzung der Situation ab.

Daraus ergibt nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auch unter Berücksichtigung der Position von UNHCR, dass die derzeitige Lage in Afghanistan für den Beschwerdeführer die akute Gefahr einer Verletzung von Art. 2 bzw. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention mit sich bringt bzw. dass eine für den Beschwerdeführer als Zivilperson ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts nicht auszuschließen ist. Eine Rückführung würde somit einen Verstoß gegen Art. 2 und 3 EMRK darstellen. Diese Beurteilung bezieht sich auf das gesamte Staatsgebiet.

3.2.1.  Zum Nichtvorliegen eines Ausschlussgrundes gemäß §§ 8 Abs. 3a, 9 Abs. 2 AsylG 2005

Nach § 8 Abs. 3a AsylG 2005 hat eine Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt.

Gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, wenn einer der in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe vorliegt (Z 1), der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt (Z 2) oder der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist (Z 3).

Gemäß § 17 Abs. 1 StGB sind Verbrechen vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind.

Anhaltspunkte dafür, in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannte Gründe im Sinne

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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