TE Bvwg Erkenntnis 2021/12/2 W177 2121898-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.12.2021
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Entscheidungsdatum

02.12.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W177 2121898-2/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, vom XXXX , Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.07.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 11.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 13.06.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Kapisa. Er habe keine Schulbildung erhalten und sei Analphabet. Er habe auch keine Berufsausbildung erhalten und zuletzt als Verkäufer gearbeitet. Er gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an und sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Muttersprache sei Paschtu. Seine Eltern, drei Brüder und eine Schwester würden in Afghanistan leben. Der BF habe sich bis zu seiner Ausreise in seinem Heimatdorf aufgehalten. In Österreich habe er keine Angehörigen. Er habe Afghanistan vor eineinhalb Monaten verlassen und sei auf dem Landweg über den Iran und die Türkei, in Bulgarien nach Europa gekommen. Von dort sei er über Serbien und Ungarn in einem Kastenwagen nach Österreich gebracht worden.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er mit einem Freund ein Lebensmittelgeschäft geführt habe. Sein Freund sei von den Taliban beschuldigt worden, ein Spitzel der Regierung zu sein und in weiterer Folge umgebracht worden. Danach hätten dessen Bruder und dessen Vater dem BF mitgeteilt, dass dieser ebenfalls verdächtigt werde, ein Spitzel der Regierung zu sein. Auf Anraten seines Bruders habe der BF schließlich sein Heimatland verlassen. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst von den Taliban umgebracht zu werden.

3. Mit Schriftsatz vom 09.02.2016 erhob der BF, nunmehr rechtsfreundlich vertreten durch Edward W. DAIGENAULT, Beschwerde werden Verletzung der Entscheidungspflicht gem. Art 130 Abs. 1 Z 3 B-VG, zumal die in § 73 Abs. 1 AVG normierte Entscheidungspflicht von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bereits verstrichen sei.

4. Das Bundesverwaltungsgericht wies mit Erkenntnis vom 17.03.2016 die Säumnisbeschwerde des BF wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) gegen den am 13.06.2015 gestellten Antrag auf internationalen Schutz gem. § 8 Abs. VwGVG ab (Spruchteil A). Gemäß Art. 133 Abs. 4 BFA-VG war die Revision zulässig (Spruchteil B). Begründend wurde festgehalten, dass im vorliegenden Fall das BFA kein überwiegendes Verschulden an der Verzögerung treffe, zumal diese in Wesentlichen auf unbeeinflussbare und unüberwindbare Hindernisse zurückzuführen sei.

5. Mit Schreiben vom 04.07.2016 erging die Vollmachtsbekanntgabe, dass der BF nunmehr von RA Dr. Mario ZÜGER in gegenständlichem Verfahren rechtsfreundlich vertreten werde. Zugleich wurde um Anberaumung einer Einvernahme ersucht und ein ergänzendes Vorbringen dahingehend getätigt, dass der BF aus einer volatilen Provinz stamme und die Sicherheitslage auch in den Großstädten Afghanistan prekär sei. Aus diesem Grund sei dem BF auch eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar, was in Anbetracht der Länderfeststellungen und der eindeutigen Rechtsprechung dazu führen müsse, dass dem BF jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen sei.

6. Mit Schreiben vom 19.10.2016 erging seitens des Verein Menschenrechte Österreich ein Urgenzschreiben zur baldigen Durchführung einer Einvernahme und Entscheidung.

7. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 07.11.2016 gab der BF nach eingehender Belehrung an, dass es ihm gut gehe und er gesund sei. Er legte auch seine Geburtsurkunde im Original und ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor.

Er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Kapisa, wo er mit seinen Eltern und seinen Geschwistern (drei Brüdern und einer Schwester) zusammengelebt habe. Er sei sunnitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Seine Muttersprache sei Paschtu und er sei Analphabet. Das Bestätigungsschreiben würde beinhalten, dass der BF als örtlicher Polizist gearbeitet habe. In den Drohbriefen sei angeführt, dass der BF von den Taliban gesucht werde, weil er als Spion der Regierung erkannt worden sei. In seinem Heimatland habe er keine Schulbildung erhalten und als Verkäufer, Schweißer und Informant für die Polizei gearbeitet. Er habe noch Kontakt zu seiner im Heimatdorf lebenden Familie. Abseits seines Heimatdorfes kenne er sich nicht aus, wobei er aber Grundlegendes über sein Heimatland, wie etwa die Hauptstadt, die Anzahl der Provinzen sowie die Amtssprechen, nennen konnte. Seine Flucht sei auf dem Landweg erfolgt. Nach Österreich sei er gekommen, weil er in ein sicheres Land habe kommen wollen und ihn der Schlepper hierhergebracht habe. In seinem Heimatland habe er keine Probleme mit den Behörden gehabt. Er sei politisch nicht aktiv und auch nicht wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt worden. Es habe auch keine Verfolgung wegen seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit gegeben. Auch ansonsten habe er weder mit den afghanischen Behörden noch aufgrund seiner Nationalität, seiner Rasse oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in Afghanistan ein Problem gehabt.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass die örtliche Polizei mit ihm in Kontakt getreten wäre, damit er Informationen zu Leuten aus dem Dorf weitergebe. Es sei sogar der Kommandant persönlich erschienen und habe ihm die Wichtigkeit der Informationen mitgeteilt. Es habe nämlich in seinem Dorf eine Zentrale der Taliban gegeben und er habe ein Handy mit einer SIM-Karte bekommen, das auch in der Nacht funktioniert hätte. So habe er immer die Vorgesetzten informieren können, wenn die Taliban sich getroffen hätten. Einmal sei der Anführer festgenommen worden, ein weiteres Mal habe er einen Angriff rechtzeitig mitgeteilt, dass die Sicherheitskräfte sofort reagieren hätten können. Ein weiterer Anführer sei aufgrund seiner Mitteilungen getötet worden. Die Taliban hätten ihn einmal kontrolliert und dadurch seine Handys gefunden. Der BF sei danach auf eine Hochzeit eines Bruders eines Talibanführers gegangen. Bei einem Angriff auf die Gesellschaft seien zwei Talibanführer getötet worden. Er selbst sei festgenommen worden, aber wieder schnell freigekommen. Er habe sich dann nach dem Schicksal des Freundes erkundigen wollen, der ausgeforscht und festgenommen worden sei, wobei er von dessen Bruder und dessen Vater erfahren habe, dass dieser Freund getötet worden sei und er selbst auf einer Liste der gesuchten Personen stehe. Er habe danach mit seinem Onkel getroffen. Dieser hatte bereits einen an den BF gerichteten Drohbrief der Taliban bei sich und meinte, dass er den BF nicht beherbergen könnte, weil dies zu gefährlich sei. Der BF habe sich an die Distriktverwaltung und den Dorfvorsteher gewandt, die ihm mitgeteilt hätten, dass sie ihn nicht schützen könnten. Danach habe er sich wieder mit seinem Onkel getroffen, der bereits entschieden hätte, dass der BF Afghanistan verlassen müsse. Er sei einmal in den Iran geflohen, um sich in Sicherheit zu bringen. Da für Afghanen die Lage im Iran schlecht sei, hätten die Verwandten finanziell alles in Wege geleitet, dass er weiterreisen könne.

Wann sich der Angriff auf die Moschee zugetragen hätte, könne der BF nicht mehr sagen. Es sei jedenfalls im Jahr 2014 gewesen. Über diesen Großangriff habe es keine mediale Berichterstattung gegeben, über den Vorfall im Zuge der Hochzeit jedoch schon. Die Taliban hätten sich immer in der Dorfmoschee getroffen, weshalb er Informationen über den Angriff auf die die Distriktverwaltung bekommen hätte. Ein genaues Datum, wann er von den Taliban durchsucht worden wäre, wisse er nicht. Es sei aber an einem Dienstag gewesen. Wann der Freund getötet worden wäre, wisse der BF nicht. Es sei vor seiner Ausreise gewesen und bis zu seiner Ausreise wären 21 Tage vergangen. Die Hochzeit habe acht Tage nach seiner Durchsuchung stattgefunden, wobei er auch hier kein genaues Datum nennen könne. Er sei bei den Vorbereitungen der Hochzeit dabei gewesen, weil es üblich sei, dass sich die jungen Männer des Dorfes hierbei einfinden und mithelfen. Es wären so um die 20 gewesen. Der Angriff habe sich dann am Vorabend der Hochzeit zugetragen. Das Gerät der Amerikaner habe er nicht eingesetzt, weil dies zu auffällig gewesen sei. Mit den Amerikanern sei er nicht in Kontakt gewesen. Einerseits wären es finanzielle Erwägungen gewesen, dass der BF für die Regierung gearbeitet hätte, andererseits, habe er diese auch so im Kampf gegen die Taliban unterstützen können. Seine Familie sei ebenfalls bedroht und das Haus seines Onkels angegriffen worden. Er sei sonst nicht bedroht worden und habe Beweismittel vorgelegt. Seitens der Behörden befürchte er nichts, jedoch habe er sich an diese gewandt und keinen Schutz erhalten. Er habe seine Heimat verlassen müssen, weil er Angst um sein Leben gehabt hätte. Einen sicheren Ort innerhalb des Landes würde er nicht kennen.

Auf Vorhalt der Länderfeststellungen verzichtete der BF auf die eingeräumte Frist zur Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme. In Österreich lebe er von der Grundversorgung, verrichte aber gemeinnützige Tätigkeiten bei der Gemeinde. Er lerne Deutsch und betreibe Sport. Er habe keine Schule besucht und verfüge auch über keinen Schulabschluss. Er sei hier auch nicht Mitglied in einem Verein und habe hier auch keine persönlichen Bindungen oder Familienangehörige.

8. Mit Schreiben vom 27.12.2016 wurde seitens der Rechtsvertretung des BF ein ergänzendes Vorbringen dahingehend getätigt, dass der BF aus einer volatilen Provinz stamme und die Sicherheitslage auch in den Großstädten Afghanistan weiterhin prekär sei. Aus diesem Grund sei dem BF auch eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar, was in Anbetracht der Länderfeststellungen und der eindeutigen Rechtsprechung dazu führen müsse, dass dem BF jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen sei.

9. Mit Schreiben vom 04.08.2017 erging seitens der Volksanwaltschaft eine Anfrage an den Bundesminister für Inneres, zumal sich der BF an die Volksanwaltschaft gewandt habe, weil er seit der am 13.06.2015 stattgefunden Erstbefragung noch immer keine Entscheidung erhalten habe.

10. Am 10.08.2017 erfolgte eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation bezugnehmend auf eine am 22.02.2017 gestellten Anfrage der belangten Behörde. In dieser wurde ausgeführt, dass es in Afghanistan zahlreiche Mobilfunkanbieter geben würde und die Taliban einen davon sabotieren würden, weil diesem Regierungsnähe unterstellt werde. Offiziell würden die Taliban diese Sabotage jedoch bestreiten. Es könnte verifiziert werden, dass die Taliban im Jahr 2014 die Heimatregion des BF unter Kontrolle gehabt hätten. Es habe nicht verifiziert werden können, dass die vom BF genannte Person bei einem Angriff in Afghanistan getötet worden sei. Es gäbe ein Talibanmitglied, das den Namen trage, wie ihn der BF bezeichnet habe. Dieses stehe aber nach wie vor auf den Sanktionslisten. Unter dem weiteren vom BF dargelegten Namen eines Talibananführers habe keine Person gefunden werden können. Ob die vorgelegten Drohbriefe echt wären, könne die Staatendokumentation nicht überprüfen.

11. Bei einer weiteren Einvernahme vor dem BFA am 31.08.2017 gab der BF nach eingehender Belehrung an, dass es ihm gut gehe und er gesund sei. Seine bisherigen Angaben würden der Wahrheit entsprechen. Aus seinem Heimatland habe er keine Neuigkeiten. Er habe noch Kontakt zu seinem Bruder.

Wann er die Drohbriefe genau erhalten habe, wisse er nicht. Den ersten habe er erhalten, als sein Freund Probleme bekommen habe. Dieser sei wenig später getötet worden und dessen Bruder und dessen Vater hätten ihm mitgeteilt, dass auch er auf der Liste der Taliban stehen würde. Der Drohbrief sei bei seinem Wohnhaus abgelegt worden. Den zweiten Brief habe er 17 Tage später erhalten. Obgleich er in seinem Heimatdorf Schutz suchen habe wollen, habe man ihm dort mitgeteilt, dass man ihn nicht schützen könne und die vom BF genannten Vorwürfe erst überprüfen müssten.

Er habe von den Anschlagsplänen der Taliban in der Moschee vor dem Abendgebet erfahren. Dass die Taliban dies an einem öffentlichen Ort machen würden, sei nicht außergewöhnlich, weil viele Leute sowieso Taliban wären oder die Leute nichts gegen die Taliban unternehmen würden. Auf Vorhalt, dass die Geschichte unglaubwürdig sei, vermeinte der BF, dass die Taliban nicht geglaubt hätten, dass jemand gegen sie sei. Bei der Durchsuchung sei auch die SIM-Karte gefunden worden. Der BF sei verdächtigt worden, aber wieder freigekommen, weil sie die SIM-Karte nicht gefunden hätten. Sie hätten nur sein Handy gefunden und dann die Nummer seines Freundes gewählt und sich als der BF ausgegeben. Dieser Freund habe seinen Laden neben seinem Laden gehabt. Warum die Taliban dies gemacht hätten, wisse er nicht. Dieser Freund habe jedenfalls auch für die Regierung gearbeitet. Auf Vorhalt, dass der BF widersprüchliche Angaben getätigt habe, vermeinte er, dass er zwei Telefone bei sich gehabt habe und er wegen der SIM-Karte durchsucht worden sei. Er habe vor der Durchsuchung von den Anschlagsplänen erfahren. Außerdem habe sein Bruder gesagt, dass er nachts telefoniere.

Auf Vorhalt, dass er sich im Vergleich zur Erstbefragung widersprochen habe, vermeinte der BF, dass er dort nicht näher befragt worden sei. Auf Vorhalt, dass das Warnen durch Drohbriefen lebensfremd sei, wenn man auf einer Spitzelliste stehe, meinte der BF, dass die Taliban der Bevölkerung hätten zeigen wollen, dass er ein Spion sei. Sie hätten ihn zunächst bekommen wollen, weil sie sich Informationen erhofft hätten, wer noch für die Regierung arbeiten würden und sie danach der Bevölkerung gezeigt hätten, was mit solchen Personen passieren würde. Warum der Drohbrief das gleiche Datum wie die Bestätigung der Distriktverwaltung habe, wisse er nicht. Dass in der Bestätigung geschrieben stehe, dass er Polizist sei, stimme nicht, er habe bloß für die Polizei gearbeitet. Auf Vorhalt, dass er gemeint habe, dass er zwischen ersten und zweitem Drohbrief bei der Bezirksverwaltung gewesen wäre und in diesem Schreiben festgehalten wurde, dass der BF wegen der Bedrohungen nach Österreich habe fliehen müssen, vermeinte der BF, dass er nicht wisse, warum das so geschrieben worden sei. Er habe es nicht gelesen und nicht lesen können, weil er Analphabet sei. Auf Vorhalt, dass er eine Anfrage der Staatendokumentation ergeben habe, dass seine Angaben nicht verifiziert hätten werden können, vermeinte der BF, dass er sich für eine Vorortrecherche zur Verfügung stelle, wenn ihm die Sicherheit gewährleistet werde. Ihm wurde mitgeteilt, dass Vorortrecherchen nicht möglich wären. Den Bericht über die Vorfälle bei der Hochzeit könne der BF nicht vorlegen.

In Österreich besuch er einen Deutschkurs und spiele dreimal pro Woche Volleyball. Er habe hier keine Verwandten und sonst nur Freunde vom Volleyball. Sein Sprachniveau sei auf Deutsch jedenfalls unter A2. Er verfüge über keinen Schulabschluss und habe in Österreich keine Ausbildungen absolviert. Er lebe von der Grundversorgung, würde aber gerne arbeiten wollen. Auf die Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme binnen zwei Wochen zu den ihm ausgehändigten Länderfeststellungen zu Afghanistan verzichtete er.

12. Mit Bescheid vom 06.09.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass die Angaben des BF zu seiner Nationalität, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit und der Verwendung der Sprache Paschtu als glaubwürdig zu betrachten seien.

Eine asylrechtlich relevante Verfolgung in Bezug auf Afghanistan habe weder aufgrund politischer, religiöser, ethnischer Gründe festgestellt werden können. Ebenso sei der BF auch nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gefährdet.

Zum Fluchtvorbringen müsse festgehalten werden, dass der BF bei der Erstbefragung angegeben hätte, dass er verdächtig werde ein Spitzel zu sein und er vor dem BFA vermeint habe, dass er drei Jahre Spitzel gewesen sei. Widersprüchlich habe der BF auch angegeben, dass man bei ihm im Zuge einer Durchsuchung eine verbotene SIM-Karte gefunden habe, er dann aber vermeint habe, dass er gehen hätte können, weil man eben diese nicht gefunden hätte. Ebenso habe der BF auch keine genauen Datumsangaben zu diesen Vorfällen machen können und diesbezüglichen Unplausibilitäten habe der BF nur durch Schutzbehauptungen zu entkräften versucht. Ebenso sei es jeder Lebenserfahrung widersprechend gewesen, dass die Taliban in einer Moschee Anschlagspläne besprechen würden, wobei der BF zusätzlich auch keine genauen Datumsangaben habe machen können, wann sich diese Besprechungen zugetragen hätten. Dass der BF vermeint habe, dass es niemand wagen würde gegen Taliban etwas zu unternehmen und die Taliban auch gedacht hätten, dass alle sie unterstützen würden, habe entgegnet werden müssen, dass der BF angeführt habe, dass man gegen seinen Freund und ihn selbst vorgegangen wäre. Das ausreisekausale Ereignis sei er gewesen, dass der BF erfahren hätte, dass er auf einer Liste der Verräter stehen würde und ihm ein Drohbrief überreicht worden wäre. Es sei völlig absurd, dass jemand, der auf einer Liste der Verräter stehen würde, in weiterer Folge zweimal durch Drohbriefe gewarnt werden würde. Daher seien diese Briefe auch als nicht echt anzusehen. Ebenso habe der BF diese auch nicht in der Erstbefragung angeführt und deren Inhalt sei ebenfalls widersprüchlich zu seinem Vorbringen. So würde in diesen angeführt werden, dass der BF Polizist gewesen sei und nach Österreich habe fliehen müssen, wobei dies allerdings zu einem Zeitpunkt ausgestellt worden wäre, als der BF noch nicht einmal gewusst hätte, dass er nach Österreich fliehen würde. Ein weiterer Aspekt, der gegen die Glaubwürdigkeit des Vorbringens sprechen würde, sei eine Anfrage der Staatendokumentation gewesen, die keine der vom BF vorgetragenen Vorfälle auch nur ansatzweise bestätigen hätte können.

Eine Gefahrenlage im Sinne der Art.2 und 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Selbst wenn eine Rückkehr in seine als volatil eingestufte Heimatprovinz nicht möglich sein sollte, habe der BF keine Gründe vorgebracht die dagegengesprochen hätten. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stünde ihm jedenfalls zur Verfügung, zumal er arbeitsfähig und arbeitswillig sei, er in Afghanistan über Berufserfahrung und familiäre Anknüpfungspunkte verfüge. Ebenfalls könnten er auf Rückkehrhilfe oder die Hilfe seiner Familie zurückgreifen. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

13. Mit Verfahrensanordnung vom 06.09.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 06.09.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

14. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 19.09.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass die von belangten Behörde aufgelisteten Widersprüche nicht existieren würden. Zwischen unterschiedlichen Angaben in der Erstbefragung und der Einvernahme müsse berücksichtigt werden, dass die Erstbefragung nur zur groben Abklärung der Fluchtgründe diene. Dass in Drohbriefen nicht das Vorbringen der BF widergegeben werde, mache diese auch nicht unecht. Ebenso sei es nicht unplausibel, dass der BF von den Taliban mittels diesen Drohbriefen gewarnt worden wäre. Bezüglich der Angaben zur SIM-Karte müsse der BF ein weiteres Mal einvernommen werden, um diesen Widerspruch ausräumen zu können. Bei gesetzmäßiger Durchführung des Beweisfahrens hätte festgestellt werden müssen, dass dem BF eine asylrechtlich relevante Gefährdung drohen würde, weil die Taliban ihm eine politische Gesinnung unterstellen würden, gegen die der BF keinen ausreichenden staatlichen Schutz erhalten würde. Eine Rückkehr in seine Heimatregion sei aufgrund der Sicherheitslage nicht zumutbar. Ebenso sei es zu bedenken, dass der BF über keine familiären Anknüpfungspunkte abseits der Heimatprovinz verfüge und er als Rückkehrer ohne nennenswerte Ausbildung mit Sicherheit in eine ernste Versorgungssituation geraten würde. Dies führe auch dazu, dass dem BF keine innerstaatliche Alternative zumutbar sei, zumal sich auch die Sicherheitslage und Versorgungslage in ganz Afghanistan und somit auch in Kabul verschlechtert hätten. Es wurde auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

15. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 20.09.2017 vom BFA vorgelegt. Die belangte Behörde beantragte auch die vollinhaltliche Abweisung der Beschwerde.

16. Nachdem sich der BF illegal in Deutschland aufgehalten habe, erklärte sich Österreich am 29.10.2019 zwecks Durchführung des Asylverfahrens zuständig, den BF wieder zurück zu übernehmen. Mit 11.11.2019 wurde der BF wieder nach Österreich rücküberstellt.

17. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache vom bisher zuständigen Gerichtsabteilung (W253) abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.

18. Mit Schreiben vom 27.05.2021 erging die Vollmachtsbekanntgabe, dass der BF in gegenständlichem Verfahren nun von der BBU GmbH rechtsfreundlich vertreten werde. Zugleich wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorgelegt.

19. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 27.07.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der BF und seine rechtsfreundliche Vertretung persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm – mit Schreiben vom 22.07.2021 entschuldigt – an der mündlichen Verhandlung nicht teil.

Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können und wurde eingehend über die Verfahrensführung belehrt. Nachdem die Parteien auf das Verlesen der Aktenteile verzichteten, erklärte der erkennende Richter diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19. Diese bestritt der BF.

Der BF führte aus, dass er im bisherigen Verfahren immer die Wahrheit gesagt habe. Er wollte aber richtigstellen, dass im Protokoll nicht gestanden sei, dass er die vorgelegten Bestätigungsschreiben aus Afghanistan von Österreich aus angefordert habe, sodass in diesen auch stehen würde, dass der BF nach Österreich habe fliehen müssen. Bezüglich der Handys wollte er richtigstellen, dass er gefragt worden sei, mit welchem Handy er telefoniert habe und nicht, wie viele Handys er gehabt habe. Es sei aber richtig, dass er zwei Mobiltelefone gehabt habe.

Sonst habe er keine Neuigkeiten aus seinem Heimatland. Seit etwa vier Jahren habe er keinen Kontakt zu seinem Bruder. Ein Bruder sei verletzt worden, das Telefoncenter sei zerstört worden. Er wisse nicht, wo sich dieser befinden würde. Er könne Berichte vorlegen, dass ein Bruder 2020 in Kabul im Spital gewesen sei. Diese habe er von einem in Kabul lebenden und aus seinem Heimatdorf stammenden Freund erhalten.

Danach wurden die Länderfeststellungen auch in Bezug auf eine mögliche Rückkehr des BF nach Afghanistan erörtert. Der BF bestreitet erneut und es wurde ihm eine Frist von drei Wochen zu Abgabe einer ergänzenden Stellungnahme gewährt.

Bezugnehmend auf die Integration des BF führte er aus, dass er diese durch ein Konvolut an integrationsbegründenden Urkunden belegt werden könne. Er wolle besser Deutsch lernen und eine Ausbildung als Schweißer beginnen. Die A2-Prüfung habe er vor etwa zwei Jahren nicht bestanden. Er wolle diese Prüfung aber nachholen. Derzeit lebe er von der Grundversorgung. Danach folgte der Schluss der mündlichen Verhandlung. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

20. Mit Schreiben vom 20.08.2021 gab die Rechtsvertretung des BF eine Stellungnahme ab. In dieser wurde dargelegt, dass sich die Sicherheitslage durch die Machtübernahme der Taliban dermaßen verschlechtert habe, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative dem BF nicht mehr zumutbar sei. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen wären einerseits die Länderfeststellungen überholt, andererseits müsse dies die Gewährung von subsidiären Schutz nach sich ziehen.

21.Der BF legte im Laufe des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Afghanische Geburtsurkunde

?        Afghanische Bestätigung über seine Probleme im Heimatland

?        Afghanische Arbeitsbestätigung

?        Drohbriefe der Taliban

?        Bestätigungen über die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten

?        Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen

?        Teilnahmebestätigungen an Integrationskursen

?        Zertifikat über Deutschkurs Niveau A1

?        Sammelbeilage über die stationäre Behandlung des Bruders in Kabul im Jahr 2020

?        Referenz- und Empfehlungsschreiben

?        Teilnahmebestätigungen an Basisbildungskursen

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Paschtu. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , in der Provinz Kapisa, wo er bis zu seiner erstmaligen Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 lebte. In seinem Heimatland hat der BF keine Schulbildung erhalten, jedoch Berufserfahrung als Schweißer und Verkäufer gesammelt. Seine Familie – bestehend aus den Eltern, drei Brüdern und einer Schwester – lebt noch im Heimatdorf. In Österreich sind keine weiteren Verwandten aufhältig. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF war in seinem Heimatland nicht inhaftiert, hatte in seinem Herkunftsstaat keine Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 zuerst in den Iran gegangen, von wo aus er auf dem Landweg über die Türkei in Bulgarien auf das Gebiet der EU eingereist. Am 11.06.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 11.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe. weil er mit einem Freund ein Lebensmittelgeschäft geführt habe. Sein Freund sei von den Taliban beschuldigt worden, ein Spitzel der Regierung zu sein und in weiterer Folge umgebracht worden. Danach hätten dessen Bruder und dessen Vater dem BF mitgeteilt, dass dieser ebenfalls verdächtigt werde, ein Spitzel der Regierung zu sein. Auf Anraten seines Bruders habe der BF schließlich sein Heimatland verlassen. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst von den Taliban umgebracht zu werden. Im Laufe des Verfahrens vermeinte der BF, dass er drei Jahre als Spitzel für die Polizei gearbeitet hätte.

Es wird festgestellt, dass der BF weder seitens einer Privatperson noch von einer regierungsfeindlichen Gruppierung bedroht bzw. gesucht wird. Ebenso wird der BF nicht von der Regierung oder den Taliban oder einer Privatperson gesucht bzw. bedroht.

Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung noch von sonstigen Privatpersonen entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung. Es gibt auch keine sonstigen Privatpersonen, die ihn suchen würden.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung durch eine Privatperson bzw. einer regierungsfeindlichen Gruppierung oder durch die Regierung oder durch die Taliban ausgesetzt ist.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch andere Personen oder die Regierung.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Paschtunen oder einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 11.06.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 11.06.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat keine Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich auch keine besonderen Merkmale zur einer Abhängigkeit zu anderen im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Personen.

Der BF pflegte in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Er hat aber soziale Bindungen geknüpft und das soziale Verhalten des BF in der Gesellschaft wird durch eine Vielzahl Referenzschreiben belegt, wo der BF als hilfsbereit, freundlich und fleißig wahrgenommen wird.

Der BF besuchte zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen und Zertifikate bestätigen. Er ist daher in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf elementarer Basis auf Deutsch zu kommunizieren.

Da der BF keine Arbeitserlaubnis hat, war er bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Ferner verfügt er über keine Einstellzusage. Der BF hat vereinzelt gemeinnützige bzw. ehrenamtliche Aufgaben übernommen. Eine außergewöhnliche Integration war nicht ersichtlich.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten. Die lange Verfahrensdauer ist dem BF in keiner Weise anzulasten.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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