TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/22 E2447/2021 ua

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.09.2021
beobachten
merken

Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGHGO §42
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten betreffend eine Familie mit vier minderjährigen Kindern von Staatsangehörigen von Afghanistan; mangelhafte Auseinandersetzung mit deren finanziellen Mitteln, insbesondere mit der Möglichkeit der Veräußerung von Familienbesitz

Spruch

I. 1. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien die mit € 4.840,80 bestimmten Prozesskosten zuhanden ihres Rechtsvertreters binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Usbeken an und bekennen sich zum sunnitischen Glauben. Der Erstbeschwerdeführer (geb. 1985) und die Zweitbeschwerdeführerin (geb. 1993) sind traditionell verheiratet. Sie sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer (geb. 2010, 2015, 2018 und 2020).

2. Der Erstbeschwerdeführer ist in Afghanistan (Provinz Faryab) geboren und aufgewachsen. Er verließ Afghanistan zwei Mal (jeweils im Alter von 22 Jahren und im Alter von 25 Jahren), um für einige Jahre im Iran zu leben. Der Erstbeschwerdeführer verfügt über keine Schul- und Berufsausbildung, jedoch über Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft, im Getreidehandel und im Baugewerbe. Die Eltern des Erstbeschwerdeführers, ein Bruder und seine Schwester leben nach wie vor im Heimatdorf, ein Bruder lebt im Iran und ein Bruder mit seiner Familie in Deutschland. Weitere Verwandte sind in Afghanistan aufhältig. Die Zweitbeschwerdeführerin stammt ebenfalls aus der Provinz Faryab. Sie verfügt über keine Schul- und Berufsausbildung, beherrscht aber das Handwerk des Schneiderns und betrieb im Hause ihres Vaters eine Schneiderei. Ihre Eltern und eine Schwester leben im Heimatdorf, zwei Brüder im Iran und ein Bruder in Deutschland. Die Beschwerdeführer lebten bis zu ihrer Ausreise nach Österreich im Jahr 2016 in Faryab. Die Drittbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführer wurden in Afghanistan geboren, der Fünftbeschwerdeführer und die Sechstbeschwerdeführerin in Österreich.

3. Nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet stellten der Erst- bis Viertbeschwerdeführer (die minderjährigen Kinder durch ihre gesetzlichen Vertreter) am 9. Mai 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Der Fünftbeschwerdeführer kam am 12. Jänner 2018 in Österreich zur Welt, seine gesetzlichen Vertreter stellten am 21. Februar 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Sechstbeschwerdeführerin kam am 5. Dezember 2020 in Österreich zur Welt, ihre gesetzlichen Vertreter stellten am 17. Dezember 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer begründete seinen Antrag damit, dass er auf Grund seiner beruflichen Selbständigkeit von den Taliban erpresst und bedroht worden sei. Die Zweitbeschwerdeführerin gab zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz an, dass sie von den Taliban auf Grund ihrer Geschäftstätigkeit als Schneiderin geschlagen und mit dem Steinigen bedroht worden sei. Im Falle der Rückkehr drohe ihr Verfolgung, weil sie sich mit westlichen Werten identifiziere. Für die minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.

4. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23. August 2018 bzw 3. Februar 2021 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Asylstatus abgewiesen, ihnen der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zuerkannt, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei; für die freiwillige Ausreise wurde eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

5. Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. Juni 2021, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15. Juni 2020, abgewiesen.

5.1. Das Bundesverwaltungsgericht begründete die abweisende Entscheidung hinsichtlich der Zuerkennung des Asylstatus mit der mangelnden Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens.

5.2. In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass den Beschwerdeführern eine Rückkehr in ihre Heimatprovinz Faryab auf Grund der dortigen volatilen Sicherheitslage nicht möglich, ihnen jedoch eine Neuansiedlung in Herat oder Mazar-e Sharif möglich und zumutbar sei. Der Erstbeschwerdeführer sei vor seiner Ausreise selbsterhaltungsfähig und zudem in der Lage gewesen, auch den Lebensunterhalt seiner Familie zu finanzieren. Im Falle der Rückkehr könne er – auf Grund seiner Sprachkenntnisse (Usbekisch und Dari) und seiner beruflichen Erfahrung als Landwirt, Getreidehändler und Bauarbeiter – die Existenz seiner Familie in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif sichern und eine einfache Unterkunft finden. Die Beschwerdeführer würden über Verwandte im Herkunftsstaat verfügen, weshalb von einem familiären Rückhalt auszugehen sei. Die Verwandten der Beschwerdeführer seien zwar nicht in Herat bzw Mazar-e Sharif vor Ort, eine dortige Ansiedlung sei den Beschwerdeführern aber auf Grund der ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel – konkret der Einnahmen des Erstbeschwerdeführers durch dessen Erwerbstätigkeit und die Veräußerung vorhandener Familienbesitztümer durch Mittelsmänner – zumutbar. Die Beschwerdeführer würden überdies Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen können.

6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses bzw für den Fall der Abweisung oder Ablehnung der Beschwerde die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichtsakten und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Verwaltungsakten vorgelegt; beide haben von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

A. Soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

2.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

2.2. Insbesondere bei der Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen sind, unabhängig davon, ob diese unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, zur Beurteilung der Sicherheitslage einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, bei entsprechend schlechter allgemeiner Sicherheitslage jedenfalls erforderlich (vgl UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Artikel 1 [A] 2 und 1 [F] des Abkommens von 1951 bzw des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 22.12.2009, Rz 74).

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche konkrete Rückkehrsituation Familien mit minderjährigen Kindern tatsächlich vorfinden werden (vgl VfGH 21.9.2017, E2130/2017 ua; 25.9.2018, E1463/2018 ua). Dabei reicht die Begründung, dass diese auf den Schutz und die Fürsorge ihrer Eltern vertrauen können, nicht aus (VfGH 13.3.2019, E1480/2018 ua). Es bedarf Ermittlungen hinsichtlich der Frage, ob das im Herkunftsstaat bestehende Familiennetzwerk tatsächlich willens und auch in der Lage ist, die Familie zu unterstützen (vgl VfGH 12.3.2019, E2314/2018 ua).

2.4. In seiner rechtlichen Beurteilung geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass den Beschwerdeführern zwar eine Rückkehr in ihre Heimatprovinz Faryab auf Grund der volatilen Sicherheitslage nicht zumutbar sei, jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat und Mazar-e Sharif bestehe und eine Ansiedlung der Beschwerdeführer dort möglich und zumutbar sei. Es führt in diesem Zusammenhang aus, dass der Erstbeschwerdeführer auf Grund seiner Berufserfahrung in der Lage sei, die Existenz seiner Familie zu sichern und für ihren Unterhalt aufzukommen. Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich auch mit dem familiären Netzwerk im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer auseinander. Es geht auf Grund des Aufenthaltes von Eltern und Geschwistern der Beschwerdeführer in Afghanistan zunächst generell und ohne nähere Begründung davon aus, dass ein soziales Netz im Herkunftsstaat besteht, mit dessen Rückhalt zu rechnen sei. Es setzt sich in weiterer Folge auch konkret damit auseinander, ob ein familiäres Netzwerk, mit dessen Unterstützung die Beschwerdeführer rechnen können, in den als innerstaatliche Fluchtalternativen angenommenen Städten Herat bzw Mazar-e Sharif besteht. Das Bundesverwaltungsgericht führt dazu aus:

"

Das EASO hält eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht für zumutbar (EASO-Länderleitfaden Afghanistan, S. 108), wenn es der Familie an ausreichenden finanziellen Mitteln ('sufficient financial means') oder einem Unterstützungsnetz im jeweiligen Teil Afghanistans fehlt. Bei der Bewertung des Sicherheitskriteriums für ein potenzielles IPA sollte auch die Situation von Kindern berücksichtigt werden. Zu schließen ist bei gemeinsamer Betrachtung der mit – wie zuvor dargestellt – Indizwirkung ausgestatteten Richtlinien des UNHCR und des EASO, dass bei Fehlen eines familiären Netzwerks vor Ort, d.h. am angenommen Neuansiedlungsort, also hier in der Stadt Mazar-e Sharif, jedenfalls (d.h. wechselseitig kompensierend) – und insbesondere auch ausreichende – finanzielle Mittel vorhanden sein müssen, um bei Familien mit Kindern eine innerstaatliche Fluchtalternative zumutbar erscheinen zu lassen.

Die Lebensgrundlage der minderjährigen Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr im Familienverband durch die Erwerbsfähigkeit des BF1 abgesichert. Er verfügt über Arbeitserfahrung in verschiedenen Bereichen (Landwirtschaft, Baugewerbe, Getreidehandel). Zudem bestünde – wie oben angeführt – die Möglichkeit, dass der BF1 die vorhandenen Familienbesitztümer – allenfalls im Wege von Mittelsmännern – veräußert. Die primäre Versorgung der Familie erscheint daher jedenfalls gesichert. Aus diesen Gründen ist auch nicht zu befürchten, dass die BF3 bis BF6 bereits unmittelbar nach ihrer Rückkehr und noch bevor ihr Vater in der Lage wäre, selbst für den Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnten. Dabei ist den getroffenen Feststellungen zu entnehmen, dass im Rahmen der angebotenen Rückkehrunterstützung auch entsprechend Wohnraum für die erste Zeit organisiert werden könnte. In der Stadt Mazar-e Sharif stehen nach den Länderinformationen ausreichend Unterkünfte, einschließlich Apartments mit mehreren Zimmern zur Aufnahme einer mehrköpfigen Familie zur Verfügung, dabei auch – wenngleich nicht in der Mehrheit – solche über dem Standard als 'Slum' (s EASO-Länderleitfaden, S. 104 unter Verweis auf die aktuelle Berichtslage dieser Einrichtung). Eine grundlegende Infrastruktur und der Zugang zu grundlegender Versorgung, einschließlich zu sanitärer Infrastruktur, sind in der Stadt Mazar-e Sharif gegeben, welche nach der festgestellten Berichtslage als eines der größten Handels- und Finanzzentren Afghanistans gilt. Die grundsätzliche Versorgung mit Gütern wird nach den getroffenen, auf aktuellen Berichten beruhenden Feststellungen – s. dazu auch die Hinweise des UNHCR auf S. 111 – auch nicht durch eine derzeit auch die Provinz Balkh betreffende Trockenperiode (Dürre) beeinträchtigt. Dies ist auch der aktuellen Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur 'Lage in Herat-Stadt und Mazar-e-Sharif aufgrund anhaltender Dürre' vom 13.09.2018 zu entnehmen.

In Anbetracht dieser Umstände ist auch nicht zu befürchten, dass die mj. Beschwerdeführer von der Notwendigkeit einer eigenen Erwerbstätigkeit im Sinne von Kinderarbeit betroffen sein würden. Es bestehen insgesamt keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die minderjährigen BF aufgrund der unter dem Aspekt der Minderjährigkeit zu beurteilenden Faktoren bei einer Rückkehr einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sind. Auch steht es ihnen – in Anbetracht der Länderfeststellungen – offen, in Mazar-e-Sharif oder Herat, die Schule zu besuchen.

Zusammengefasst ist es den Beschwerdeführern aufgrund der dargelegten Umstände daher möglich, sich in Afghanistan eine Existenz aufzubauen und diese zu sichern. Wie oben ausgeführt, gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass die Beschwerdeführer in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (zB Nahrung, Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt sind."

2.5. Für den Verfassungsgerichtshof ist aus der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses nicht nachvollziehbar, wie das Bundesverwaltungsgericht zur Auffassung gelangt, dass die Rückkehr einer sechsköpfigen Familie – der ein tragfähiges familiäres Netzwerk in den vom Bundesverwaltungsgericht als Fluchtalternative angenommenen Städten Herat und Mazar-e Sharif fehlt – möglich und zumutbar ist. Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich in seiner rechtlichen Beurteilung maßgeblich darauf, dass die fehlende familiäre Unterstützung in den als Fluchtalternative angenommenen Städten durch ausreichende finanzielle Mittel kompensiert werden kann. Diese Annahme stützt es jedoch auf unzureichende Ermittlungen. Zwar führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, im Rahmen derer die Beschwerdeführer zu ihren Eigentumsverhältnissen befragt wurden, es fehlt jedoch eine hinreichende Auseinandersetzung damit, welche finanziellen Mittel den Beschwerdeführern konkret zur Verfügung stehen, die ein fehlendes familiäres Netzwerk vor Ort kompensieren können. Soweit das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit der Veräußerung der vorhandenen Familienbesitztümer – allenfalls im Wege von Mittelsmännern – verweist, finden sich im Erkenntnis keine Anhaltspunkte, über welche Besitztümer die Beschwerdeführer konkret verfügen würden bzw ob die Einnahmen aus einer allfälligen Veräußerung den Beschwerdeführern im Falle der Rückkehr sofort zur Verfügung stünden und auch ausreichen würden, um die Existenz der Familie abzusichern.

Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt es sohin, hinreichend zu ermitteln, ob die Beschwerdeführer tatsächlich über ausreichend finanzielle Mittel verfügen und somit nicht auf ein familiäres Netzwerk angewiesen sind bzw ob ihre Familienangehörigen willens und in der Lage sind, sie tatsächlich zu unterstützen. Da das Bundesverwaltungsgericht damit die Ermittlung in einem entscheidenden Punkt – insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich um eine Familie mit vier minderjährigen Kindern handelt – unterlassen hat, hat es seine Entscheidung mit Willkür belastet (zB VfGH 12.12.2018, E667/2018 ua; 12.3.2019, E2314/2018 ua; 26.6.2019, E472/2019 ua; 3.10.2019, E490/2018 ua; 28.11.2019, E3478/2019 ua).

2.6. Soweit sich die Entscheidung auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bzw die Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, ist sie daher schon aus diesen Gründen aufzuheben.

B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

3. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

4. Die vorliegende Beschwerde behauptet die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären die gerügten Rechtsverletzungen aber im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

5. Demgemäß wurde beschlossen, von der Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, abzusehen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, in dem durch ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in Höhe von € 566,80, ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 654,– und der Ersatz der entrichteten Eingabengebühren in Höhe von € 1.440,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Kinder, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung, Berichtigung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E2447.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten