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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
BFA-VG 2014 §9Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. April 2020, G313 2205481-1/6E, betreffend Aufhebung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (mitbeteiligte Partei: M V, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein 1990 geborener bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger, hält sich gemäß den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) jedenfalls seit Jänner 2005 durchgehend im österreichischen Bundesgebiet auf. Ihm wurden Aufenthaltstitel, zuletzt eine bis 26. April 2019 gültige „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ erteilt.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 17. November 2017 wurde der Mitbeteiligte wegen des als Beteiligter (§ 12 zweiter Fall StGB) begangenen Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall und Abs. 2 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Jahren verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, der Mitbeteiligte habe in den Tagen vor und am 14. Juli 2017 den Haupttäter zu einem Überfall auf ein Schmuckgeschäft unter Verwendung eines Gas- und Schreckschussrevolvers bestimmt, indem er ihn zur Reise von Bosnien nach Österreich aufgefordert, gemeinsam mit ihm die Tatwaffe samt Munition in einem Waffengeschäft erworben, ihm ein zweirädriges Kleinkraftrad zur An- und Abfahrt vom Tatort zur Verfügung gestellt und mit einem Pkw in der Nähe des Tatortes gewartet habe, um mit einem Fluchtfahrzeug zur Verfügung zu stehen. Die im Zuge des Raubüberfalls vom unmittelbaren Täter gegen die Inhaberin des Schmuckgeschäftes angewendete Gewalt in Form von massiven Schlägen und Drohungen - das Opfer erlitt unter anderem eine Gehirnerschütterung, eine Nasenbeinfraktur, kurzzeitige Bewusstlosigkeiten und eine Lockerung von drei Brückenzähnen des Oberkiefers - erachtete das Gericht als dem Mitbeteiligten zurechenbar.
3 Schließlich wurde der Mitbeteiligte mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 16. Februar 2018 wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs. 1 erster und zweiter Fall SMG verurteilt, wobei unter Bedachtnahme auf das Urteil vom 17. November 2017 von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen wurde. Dem Schuldspruch lag zugrunde, der Mitbeteiligte habe im Zeitraum von Mitte Juni 2017 bis Mitte Juli 2017 Kokain in einer die Grenzmenge übersteigenden Menge mit dem Vorsatz, das Suchtgift weiterzuverkaufen, erworben und besessen, an Unbekannte verkauft und in geringen Mengen an näher genannte Personen unentgeltlich überlassen.
4 Wegen dieser Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 6. August 2018 gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot. Des Weiteren stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Bosnien und Herzegowina gemäß § 46 FPG zulässig sei, gewährte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise und erkannte einer allfälligen Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab.
5 Das BFA traf unter anderem zu den Straftaten des Mitbeteiligten dem Schuldspruch folgend nähere Feststellungen samt Anführung der bei der Strafbemessung maßgeblichen Milderungs- und Erschwerungsgründe und ging im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung mit näherer Begründung von einer negativen Zukunftsprognose und demzufolge davon aus, dass der Aufenthalt des Mitbeteiligten eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit iSd § 53 Abs. 3 FPG darstelle. Dem Mitbeteiligten hätte aufgrund seiner Arbeitslosigkeit die österreichische Staatsbürgerschaft nicht verliehen werden können und er sei daher nicht - gemeint iSd § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG - „aufenthaltsverfestigt“. In Anbetracht der zweimaligen strafgerichtlichen Verurteilung und insbesondere der Beteiligung an dem Verbrechen des schweren Raubes „samt brutaler Vorgehensweise“ überwiege das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit das persönliche Interesse des Mitbeteiligten am Verbleib im Bundesgebiet.
6 Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 30. April 2020 statt und hob den angefochtenen Bescheid ersatzlos auf. Unter einem sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
7 In seiner Begründung beanstandete das BVwG unter Berufung auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zunächst die vom BFA vorgenommene Gefährdungsprognose, die nicht ausreichend begründet worden sei, da das BFA lediglich aus der Tatsache der zweimaligen rechtskräftigen Verurteilung des Mitbeteiligten auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit geschlossen habe, ohne das Gesamtverhalten und die den Verurteilungen zugrunde liegenden strafbaren Handlungen zu berücksichtigen.
8 Davon abgesehen hätte gegen den Mitbeteiligten keine Rückkehrentscheidung erlassen werden dürfen, weil er sich im Jänner 2015 bereits zehn Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe und ihm nach der in diesem Zeitpunkt anwendbaren Fassung des § 10 Abs. 1 StbG die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen hätte werden können. Dieser Umstand schließe gemäß dem damals geltenden § 9 Abs. 4 Z 1 FPG in der Fassung vor dem FrÄG 2015 die Erlassung einer Rückkehrentscheidung ausnahmslos aus. Am Ergebnis hätte auch nichts geändert, wenn der Mitbeteiligte erst bei Begehung der Straftaten im Juli 2017 die Voraussetzungen für die Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft erfüllt hätte, da nach dem in diesem Zeitpunkt anzuwendenden § 9 Abs. 4 Z 1 FPG in der Fassung des FrÄG 2015 eine Rückkehrentscheidung nur dann habe erlassen werden dürfen, wenn eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs. 3 Z 6, 7 oder 8 FPG vorgelegen habe. Da keiner dieser Tatbestände im vorliegenden Fall erfüllt sei, sei der angefochtene Bescheid sowohl hinsichtlich der Rückkehrentscheidung als auch der darauf aufbauenden Spruchpunkte ersatzlos zu beheben gewesen.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen hat:
10 Die Amtsrevision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.
11 Zur Zulässigkeit der Amtsrevision macht das BFA im Sinne des Begründungserfordernisses nach § 28 Abs. 3 VwGG (zusammengefasst) geltend, das BVwG habe zu Unrecht angenommen, dass das BFA eine der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechende Gefährdungsprognose unterlassen habe. Überdies habe das BVwG gegen die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verstoßen, indem es sich bei der Anwendung des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG auf eine mit 31. August 2018 außer Kraft getretene Bestimmung gestützt habe. Außerdem hätte dem Mitbeteiligten aufgrund seiner damaligen Arbeitslosigkeit und des fehlenden Lebensunterhaltes die Staatsbürgerschaft nicht verliehen werden können.
12 Zunächst ist dem BFA darin beizupflichten, dass es in seinem Bescheid vom 6. August 2018 in fallbezogen ausreichendem Maße auf die Art und Schwere der Straftaten des Mitbeteiligten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abstellte, um seine negative Gefährdungsprognose zu begründen (vgl. etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0131, Rn. 8/9, mwN). Im Übrigen könnte eine nicht ordnungsgemäße Begründung der Gefährdungsprognose durch das BFA keinesfalls ein Grund für eine ersatzlose Behebung sein.
13 Die Amtsrevision zeigt aber vor allem zutreffend auf, dass das BVwG seine aufhebende Entscheidung vom 30. April 2020 in tragender Weise auf eine bereits, nämlich mit Ablauf des 31. August 2018, außer Kraft getretene Vorschrift gestützt hat, obwohl es im Beschwerdeverfahren bei Erlassung seines Erkenntnisses von der im Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen Sach- und Rechtslage auszugehen hatte (vgl. dazu allgemein VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0234, Rn. 17, mwN).
14 Ungeachtet der Aufhebung dieser Bestimmung sind zwar nach der Absicht des Gesetzgebers die im ehemaligen § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG zum Ausdruck kommenden Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG insofern weiter beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. dazu des Näheren VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12 und 13, und mehrere daran anschließende Judikate). Im vorliegenden Fall besteht aber - wie zur Vermeidung von Missverständnissen für das weitere Verfahren festzuhalten ist - kein Zweifel, dass die der strafgerichtlichen Verurteilung des Mitbeteiligten wegen schweren Raubes zugrundeliegende Straftat zu jenen Fällen gravierender Straffälligkeit zählt, für die der Gesetzgeber durch die Aufhebung der oben erwähnten Bestimmung einen Spielraum zugunsten einer uneingeschränkten einzelfallbezogenen Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK einräumen wollte (vgl. VwGH 7.10.2021, Ra 2021/21/0272, Rn. 10).
15 Die Begründung des BVwG vermag somit die ersatzlose Behebung der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbotes jedenfalls nicht zu tragen, weshalb das angefochtene Erkenntnis in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
16 Bei diesem Ergebnis kommt ein Kostenzuspruch für die Revisionsbeantwortung an den Mitbeteiligten nicht in Betracht (vgl. § 47 Abs. 3 VwGG).
Wien, am 21. Dezember 2021
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210262.L00Im RIS seit
02.02.2022Zuletzt aktualisiert am
10.02.2022