TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/6 G314 2232087-1

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Veröffentlicht am 06.11.2020
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Entscheidungsdatum

06.11.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §66 Abs1
FPG §70 Abs3
NAG §55 Abs3

Spruch


G314 2232087-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde der deutschen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .05.2020,
Zl. XXXX , zu Recht:

A)       Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

Mit Schreiben vom XXXX .2019 informierte die XXXX das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) darüber, dass die Beschwerdeführerin (BF) die Voraussetzungen für die Ausstellung der von ihr beantragten Anmeldebescheinigung nicht erfülle. Sie gehe keiner Erwerbstätigkeit nach und verfüge nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung ihres Unterhalts. Auch ihre Ehefrau könne als Bezieherin von Mindestsicherung eine Unterhaltsleistung nicht gewährleisten. Daher sei gemäß § 55 Abs 3 NAG eine mögliche Aufenthaltsbeendigung zu prüfen.

Mit dem Schreiben des BFA vom XXXX .2019 wurde die BF aufgefordert, sich zu der beabsichtigten Erlassung einer Ausweisung zu äußern und Fragen zu ihrem Aufenthalt in Österreich und zu ihrem Privat- und Familienleben zu beantworten. Mit Schreiben vom XXXX .2019 erstattete die BF eine entsprechende Stellungnahme, in der sie ankündigte, sich aktiv um einen Arbeitsplatz zu bemühen.

Mit einem weiteren Schreiben des BFA vom XXXX .2020 wurde die BF darüber informiert, dass die von ihr vorgelegten Unterlagen für die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung nicht ausreichen würden und zugleich aufgefordert, sich abermals zu der beabsichtigten Erlassung einer Ausweisung zu äußern und Fragen zu ihrem Aufenthalt in Österreich und zu ihrem Privat- und Familienleben zu beantworten. Mit Schreiben vom XXXX .2020 erstattete die BF eine entsprechende Stellungnahme.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde die BF gemäß § 66 Abs 1 FPG iVm § 55 Abs 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt I.). Ihr wurde gemäß § 70 Abs 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt (Spruchpunkt II.). Die Ausweisung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sie die Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nach §§ 51 ff NAG nicht erfülle. Sie sei nicht erwerbstätig, beziehe Mindestsicherung und habe keine Aussicht auf eine Arbeitsstelle. Der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in ihr Privat- und Familienleben sei verhältnismäßig, zumal sie ja jederzeit nach Österreich zurückkehren und sich hier auch wieder niederlassen könne, wenn sie einen Arbeitsplatz finde.

Dagegen richtet sich die Beschwerde der BF mit den Anträgen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben, in eventu den Durchsetzungsaufschub zu verlängern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt. Dies wird zusammengefasst damit begründet, dass ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt worden sei, weil die Behörde ihrer Pflicht zur Erforschung des maßgeblichen Sachverhalts und zur Wahrung des Parteiengehörs nicht ausreichend nachgekommen sei. Trotz ihrer schweren Behinderung, die nicht berücksichtigt worden sei, suche sie eine Arbeitsstelle, habe aber aufgrund medizinischer Probleme beschränkte Möglichkeiten am Arbeitsmarkt. Sie führe mit ihrer Ehefrau, deren psychische Funktionen beeinträchtigt seien und die auf die Anleitung und Führung der BF angewiesen sei, ein gemeinsames Familienleben. Die Behörde hätte auch die Anwendbarkeit der Ausnahmeregelungen der §§ 51 Abs 2 NAG und 53a Abs 3 NAG prüfen müssen.

Das BFA legte die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor.

Am XXXX .2020 teilte die BF dem BVwG auftragsgemäß mit, dass für ihre Ehefrau keine Erwachsenenvertretung bestehe. Ein entsprechendes Verfahren sei aufgrund der stabilen Lebensgemeinschaft und der Unterstützung durch die BF eingestellt worden. Dazu wurde der entsprechende Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX vorgelegt.

Feststellungen:

Die BF wurde am XXXX in der deutschen Stadt XXXX geboren. Ihre Muttersprache ist Deutsch. Sie lebte zunächst in ihrem Herkunftsstaat, wo sie unter anderem als XXXX erwerbstätig war (Heiratsurkunde AS 15; Beschwerde AS 89). Sie hat gesundheitliche Probleme, unter anderem leidet sie an einer eingeschränkten Nierenfunktion und einer arteriellen Verschlusserkrankung. 2016 wurde ihr in XXXX ein unbefristet gültiger Schwerbehindertenausweis mit einem Grad der Behinderung von 90 ausgestellt (Schwerbehindertenausweis AS 93 f; Ambulanzkarte vom November 2019 AS 95; Befund AS 96).

Im XXXX 2019 übersiedelte die BF nach Österreich, wo sie seither durchgehend mit Hauptwohnsitz gemeldet ist. Sie lebt in einem gemeinsamen Haushalt mit der am XXXX geborenen österreichischen Staatsbürgerin XXXX , mit der sie seit XXXX verheiratet ist und mit der schon vor der Einreise der BF in das Bundesgebiet eine Lebensgemeinschaft bestanden hatte, in einer Gemeindewohnung in XXXX (ZMR-Auszug; Heiratsurkunde AS 15; Beschluss in OZ 7).

Am XXXX .2019 stellte die BF bei XXXX als Behörde nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) einen Antrag auf Erteilung einer Anmeldebescheinigung, über den noch nicht entschieden wurde (Schreiben XXXX AS 2; IZR-Auszug).

Die BF ist in Österreich bisher keiner Erwerbstätigkeit – weder selbstständig noch unselbständig – nachgegangen. Ihre Arbeitssuche war bislang (auch aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme) erfolglos. Sie hat keine konkrete Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Seit XXXX .2019 bezieht sie (in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Ehefrau) bedarfsorientierte Mindestsicherung samt Mietbeihilfe. Von XXXX .2019 bis XXXX .2019 bestand eine Selbstversicherung gemäß § 16 Abs 1 ASVG; seither ist die BF im Rahmen des Mindestsicherungsbezugs pflichtversichert (Bescheide der XXXX AS 22 ff und AS 57 ff; Versicherungsdatenauszug).

Bei der Ehefrau der BF besteht eine mittelgradige intellektuelle Beeinträchtigung; sie ist in ihrer Auffassungsgabe beeinträchtigt, im Denktempo verlangsamt und benötigt Anleitung und Führung. Der Grad ihrer Behinderung beträgt 50 %; es handelt sich um einen Dauerzustand. Sie ist erwerbsunfähig und geht einer Beschäftigungstherapie bei XXXX , einer Organisation zur Begleitung und Betreuung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, einer Behinderung oder psychischen Krankheiten, nach. Seit XXXX 2007 bezieht sie erhöhte Familienbeihilfe. Sie wird im Alltag von der BF und von XXXX unterstützt (von letzterer insbesondere bei der Verwaltung ihrer Einkünfte). Deshalb und aufgrund der stabilisierenden Sozialkontakte zur BF (im Rahmen der Lebensgemeinschaft) und zu ihrem Vater wurde das Verfahren hinsichtlich einer Erwachsenenvertretung durch das Bezirksgericht XXXX mit Beschluss vom XXXX eingestellt (Mitteilung Beihilfenbezug AS 14; Gutachten AS 92; Beschluss in OZ 7).

Die BF ist strafgerichtlich unbescholten (Strafregisterauszug). Ihr sind keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung anzulasten.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsaktes des BVwG.

Die Feststellungen basieren jeweils auf den in den Klammerzitaten angegebenen Beweismitteln, wobei sich die angegebenen Aktenseiten (AS) auf die Nummerierung der Verwaltungsakten beziehen, insbesondere auf den von der BF vorgelegten Urkunden und den Informationen aufgrund von Abfragen im Zentralen Melderegister (ZMR), Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und im Strafregister sowie auf den Sozialversicherungsdaten.

Die Feststellungen zur Identität (Name und Geburtsdatum) sowie zur Staatsangehörigkeit der BF beruhen auf den entsprechenden Feststellungen im angefochtenen Bescheid, denen die Beschwerde nicht entgegentritt, sowie der (in Kopie vorliegenden) Heiratsurkunde und ihren Angaben in der Stellungnahme (AS 13). Ihre persönlichen und familiären Verhältnisse können aufgrund des gut nachvollziehbaren Beschwerdevorbringens und der Heiratsurkunde festgestellt werden.

Aufgrund der Herkunft der BF ist von muttersprachlichen Deutschkenntnissen auszugehen; Hinweise auf andere Sprachkenntnisse liegen nicht vor.

Die Feststellungen zum Aufenthalt der BF in Österreich basieren auf ihren Angaben und dem damit korrespondierenden ZMR-Auszug, aus dem auch der gemeinsame Wohnsitz mit ihrer nunmehrigen Ehefrau hervorgeht. Da im Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX auf die stabile Lebensgemeinschaft hingewiesen wird, ist davon auszugehen, dass zwischen der BF und ihrer nunmehrigen Ehefrau schon damals eine Lebensgemeinschaft bestand.

Die Feststellungen zur Erwerbstätigkeit und zur finanziellen Situation der BF in Österreich basieren auf einem Auszug der Versicherungsdaten, aus dem auch die Pflichtversicherung aufgrund des Bezugs von bedarfsorientierter Mindestsicherung hervorgeht. Diese wird zusätzlich durch die vorgelegten Bescheide über die Zuerkennung von Mindestsicherung und Mietbeihilfe belegt. Eine begründete Aussicht der BF, in absehbarer Zeit eingestellt zu werden, wird von ihr nicht behauptet und lässt sich den Akten auch nicht entnehmen. Dies ist angesichts ihres Gesundheitszustands und der von ihr selbst eingeräumten eingeschränkten Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt auch nachvollziehbar.

Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit der BF beruht auf dem Strafregister, in dem keine Verurteilungen aufscheinen. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ihr irgendwelche Verstöße gegen die öffentliche Ordnung anzulasten wären.

Die Konstatierungen zum Gesundheitszustand der BF und ihrer Ehefrau ergeben sich aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen, den Ausweisen (Schwerbehindertenausweis, Behindertenpass) und dem Beschluss des Bezirksgerichts XXXX , aus dem auch hervorgeht, dass die BF ihre Ehefrau unterstützt und stabilisiert.

Rechtliche Beurteilung:

Als Staatsangehörige der Bundesrepublik Deutschland ist die BF EWR-Bürgerin iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG.

§ 66 FPG („Ausweisung“) lautet:

„(1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

(2) Soll ein EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigter Drittstaatsangehöriger ausgewiesen werden, hat das Bundesamt insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Bundesgebiet und das Ausmaß seiner Bindung zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

(3) Die Erlassung einer Ausweisung gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, die Ausweisung wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“

Gemäß § 51 Abs 1 NAG sind EWR-Bürgerinnen auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind (Z 1); für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen (Z 2), oder als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen (Z 3). Für Erwerbstätige bleibt das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht gemäß § 51 Abs 2 NAG auch bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder Beginn einer Berufsausbildung erhalten.

§ 55 NAG („Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechtes für mehr als drei Monate“) lautet:

„(1) EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

(2) Der Fortbestand der Voraussetzungen kann bei einer Meldung gemäß §§ 51 Abs 3 und 54 Abs 6 oder aus besonderem Anlass wie insbesondere Kenntnis der Behörde vom Tod des unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers oder einer Scheidung überprüft werden.

(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs 2 oder § 54 Abs 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.

(4) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung (§ 9 BFA-VG), hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dies der Behörde mitzuteilen. Sofern der Betroffene nicht bereits über eine gültige Dokumentation verfügt, hat die Behörde in diesem Fall die Dokumentation des Aufenthaltsrechts unverzüglich vorzunehmen oder dem Betroffenen einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies nach diesem Bundesgesetz vorgesehen ist.

(5) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen, die Angehörige sind, aber die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen, ist diesen Angehörigen ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" quotenfrei zu erteilen.

(6) Erwächst eine Aufenthaltsbeendigung in Rechtskraft, ist ein nach diesem Bundesgesetz anhängiges Verfahren einzustellen. Das Verfahren ist im Fall der Aufhebung einer Aufenthaltsbeendigung fortzusetzen, wenn nicht neuerlich eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gesetzt wird."

Gemäß § 9 BFA-VG ist ua eine Ausweisung gemäß § 66 FPG, die in das Privat- und Familienleben einer Fremden eingreift, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß
§ 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

Entgegen dem (diesbezüglich nicht näher begründeten) Beschwerdevorbringen sind hier weder die Voraussetzungen des § 51 Abs 2 NAG noch des § 53a Abs 3 NAG erfüllt, zumal die BF in Österreich nie erwerbstätig war. Eine Ausweisung der BF ist aber bei Berücksichtigung der Kriterien des § 66 Abs 2 FPG aufgrund ihrer familiären Lage und des Umstands, dass ihre Ehefrau bei der Bewältigung des Alltags auf ihre Unterstützung angewiesen ist, nicht zulässig.

Die BF hält sich zwar erst seit XXXX 2019 in Österreich auf, lebt jedoch seit damals in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer nunmehrigen Ehefrau, sodass im Inland ein schützenswertes Familienleben besteht. Die Ehefrau der BF ist intellektuell beeinträchtigt und bedarf der Betreuung durch die BF. Es ist ihr nicht zumutbar, Österreich zu verlassen und die BF nach einer allfälligen Ausweisung zu begleiten, weil sie hier in ein Unterstützungsnetzwerk, zu dem neben der BF auch ihr Vater und eine Betreuungsorganisation gehören, eingebunden ist. Die mit der Ausweisung verbundene Trennung der BF von ihrer österreichischen Ehefrau verletzt daher Art 8 EMRK. Der Umstand der erforderlichen Pflege einer (im vorliegenden Fall österreichischen) Familienangehörigen spielt nach der Rechtsprechung des VwGH eine maßgebliche Rolle bei der Abwägung der familiären Interessen gegenüber den öffentlichen Interessen an der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme (vgl. VwGH 11.11.2013, 2012/22/0103). Vor diesem Hintergrund ist die Ausweisung der BF, die durch ihre Unterstützung ihre Ehefrau dazu befähigt, möglichst selbständig zu leben, als unverhältnismäßiger Eingriff in das gemeinsame Familienleben zu werten. Es ist davon auszugehen, dass auch eine kurzfristige Trennung das soziale Gefüge, das es der Ehefrau der BF derzeit ermöglicht, ihre Angelegenheiten ohne Erwachsenenvertretung zu erledigen, erschüttern würde. Angesichts des Gesundheitszustands der BF ist es auch nicht realistisch, dass sie in absehbarer Zeit einen Arbeitsplatz finden und ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit finanzieren können wird.

Zu diesem Ergebnis führt auch die Heranziehung der Bestimmungen des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege (BGBl Nr. 258/1969; im Folgenden kurz Fürsorgeabkommen). Nach Art 8 Abs 1 Fürsorgeabkommen darf der Aufenthaltsstaat einem Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit den weiteren Aufenthalt versagen oder ihn rückschaffen, es sei denn, dass er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen erlaubt in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Sprechen Gründe der Menschlichkeit gegen eine solche Maßnahme, so hat sie ohne Rücksicht auf die Dauer der Anwesenheit im Aufenthaltsstaat zu unterbleiben.

Zwar liegen hier die Voraussetzungen des Art 8 Abs 1 erster Satz Fürsorgeabkommen nicht vor, weil bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer gemäß Art 9 Abs 3 Fürsorgeabkommen Zeiträume, in denen der Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus Mitteln der Fürsorge des Aufenthaltsstaats gewährt wurde, nicht berücksichtigt werden und die BF (nach ihrer Einreise im XXXX 2019) seit XXXX 2019 Mindestsicherung bezieht. Einem deutschen Staatsangehörigen darf aber gemäß Art 8 Abs 1 zweiter Satz Fürsorgeabkommen auch nach einem kürzeren erlaubten Aufenthalt in Österreich der Aufenthalt nicht aus dem Grund der Hilfsbedürftigkeit verweigert werden, wenn Gründe der Menschlichkeit dagegen sprechen (siehe VwGH 22.10.2019, Ra 2018/10/0149). Sind die Voraussetzungen des Art 8 Abs 1 Fürsorgeabkommen erfüllt, darf die Frage, ob der Aufenthalt der BF in Österreich rechtmäßig ist, nicht mit dem Argument der Hilfsbedürftigkeit verneint werden (siehe VwGH 22.10.2019, Ra 2018/10/0149, VwGH 09.10.2001, 97/21/0546). Dieser Ausnahmetatbestand erfordert, dass objektive, einer Nachprüfung zugängliche Umstände eine Gefährdung allgemein anerkannter Interessen des Aufenthaltswerbers besorgen lassen (vgl. VwGH 17.12.1990, 90/19/0326).

Angesichts der eigenen Behinderung der BF und der damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche sowie des Familienlebens mit ihrer österreichischen Ehefrau, die aufgrund einer Lernbehinderung im besonderen Ausmaß auf die laufende Unterstützung der BF angewiesen ist, sprechen Gründe der Menschlichkeit gegen deren Ausweisung, zumal sie ein berechtigtes Interesse an der Fortsetzung dieses Familienlebens hat. Andere Gründe für die Ausweisung der BF (als das Fehlen eigener Existenzmittel und der Bezug von Mindestsicherung) liegen nicht vor, zumal von ihr keine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht. Die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen die BF aus Gründen der Hilfsbedürftigkeit ist somit auch gemäß Art 8 Abs 1 zweiter Satz Fürsorgeabkommen unzulässig.

Die vom BFA ausgesprochene Ausweisung erfolgte daher nicht zu Recht. Dies bedingt zugleich die Gegenstandslosigkeit des der BF gewährten Durchsetzungsaufschubs. Beide Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids sind daher in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben.

Da im vorliegenden Fall bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, entfällt die beantragte Beschwerdeverhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG.

Die Revision ist wegen der Einzelfallbezogenheit dieser Entscheidung, die keine grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG begründet, nicht zuzulassen.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung familiäre Situation Familienangehöriger individuelle Verhältnisse mangelnder Anknüpfungspunkt Privat- und Familienleben unverhältnismäßiger Eingriff Voraussetzungen Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2232087.1.00

Im RIS seit

01.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.02.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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