TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/13 G314 2161012-1

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Veröffentlicht am 13.07.2021
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Entscheidungsdatum

13.07.2021

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


G314 2161012-1/32E

ENDERKENNTNIS

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde der kosovarischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, gesetzlich vertreten durch die Obsorgeberechtigte XXXX, diese vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Philipp MILLAUER, gegen die Spruchpunkte III. bis V. des Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.05.2017, Zl. XXXX, betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenentscheidungen zu Recht:

A)       Der Beschwerde wird teilweise Folge gegeben. Der angefochtene Bescheid wird dahin abgeändert, dass es in Spruchpunkt III. (die Spruchpunkte I. und II. wurden bereits erledigt) richtig lautet: „Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wird der Beschwerdeführerin nicht erteilt. Gemäß § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG ist eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig. Der Beschwerdeführerin wird gemäß §§ 55 Abs 2 und 58 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ iSd § 54 Abs 1 Z 2 AsylG erteilt.“ und die Spruchpunkte IV. und V. ersatzlos behoben werden.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

Die minderjährige Beschwerdeführerin (BF) verließ den Kosovo am XXXX.2015 gemeinsam mit ihrer Mutter, der kosovarischen Staatsangehörigen XXXX, die zunächst auch mit der Obsorge für sie betraut war. Am XXXX.2015 stellten beide in Österreich Anträge auf internationalen Schutz.

Mit dem Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX, wurde die Obsorge für die BF ihrer Mutter entzogen und der Halbschwester der BF, XXXX (mittlerweile verehelichte XXXX), übertragen.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies die Anträge auf internationalen Schutz mit den Bescheiden vom XXXX.2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es erteilte der BF und ihrer Mutter keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte die Zulässigkeit der Abschiebung in den Kosovo fest (Spruchpunkt III.). Weiters sprach es aus, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt IV.) und erkannte einer Beschwerde gegen die Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt V.).

Die dagegen von der BF und von ihrer Mutter erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem Erkenntnis vom 05.12.2017 ab. Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) wies die Revisionen der BF und ihrer Mutter mit dem Beschluss vom XXXX.2018, XXXX, zurück.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) erkannte der Beschwerde der BF und ihrer Mutter mit dem Beschluss vom XXXX.2018 die aufschiebende Wirkung zu. Mit seiner Entscheidung vom XXXX.2018, XXXX, hob er das Erkenntnis des BVwG vom 05.12.2017 wegen Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf, soweit damit die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis V. des Bescheids des BFA vom XXXX.2017 abgewiesen wurde, weil das BVwG die Obsorgeübertragung an die Halbschwester der BF nicht entsprechend berücksichtigt und willkürlich die Möglichkeit einer Rückübertragung der Obsorge an ihre Mutter angenommen habe. Im Übrigen lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerde ab.

Am 10.06.2021 wurde das BVwG unter Vorlage der Sterbeurkunde vom Ableben der Mutter der BF informiert.

Feststellungen:

Die BF ist Staatsangehörige des Kosovo. Sie wurde am XXXX.2007 in XXXX geboren. Sie gehört zur albanischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam. Ihre Muttersprache ist Albanisch.

Die BF entstammt der Lebensgemeinschaft ihrer Mutter mit XXXX. Dieser verbüßte wiederholt (im Kosovo und in Slowenien) Freiheitsstrafen wegen strafbarer Handlungen und war gegen die BF und ihre Mutter gewalttätig, sodass letztere die Lebensgemeinschaft schließlich beendete. Die BF hat keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater.

Die BF hat vier erwachsene Halbgeschwister, die der Ehe ihrer Mutter mit dem XXXX verstorbenen XXXX entstammen: XXXX (geboren XXXX), XXXX (geborene XXXX, geboren XXXX), XXXX (geboren XXXX) und XXXX (geboren XXXX). XXXX, XXXX und XXXX halten sich seit XXXX in Österreich auf. XXXX, der sich zunächst ebenfalls hier aufgehalten hatte, verließ das Bundesgebiet vor mehreren Jahren wieder.

Die BF lebte bis zum Jahreswechsel 2014/15 zusammen mit ihrer Mutter im Kosovo. Seit Anfang 2015 hält sie sich im Bundesgebiet auf. Ihr wurde nie ein über die Aufenthaltsberechtigung als Asylwerberin hinausgehender Aufenthaltstitel erteilt. Sie erhält seit XXXX 2015 Leistungen der staatlichen Grundversorgung und ist als Asylwerberin krankenversichert. Sie ist nicht erwerbstätig und besucht seit 2015 in XXXX die Schule. Am XXXX.2021 schloss sie die dritte Klasse (siebte Schulstufe) an einem XXXX positiv ab. In Deutsch wurde sie in diesem Schuljahr mit „Genügend“ beurteilt. Die BF ist strafgerichtlich unbescholten. Sie hat noch keine Integrationsprüfung abgelegt.

XXXX, der 2019 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, ist seit XXXX 2015 mit der Obsorge für die BF betraut. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in XXXX. XXXX , eine Staatsangehörige des Kosovo, die einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ hat, und XXXX, ein Staatsangehöriger des Kosovo, dessen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ wegen strafgerichtlicher Verurteilungen (im XXXX 2019 wurde wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung eine zweimonatige, bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe verhängt, im XXXX 2020 wegen gefährlicher Drohung, Sachbeschädigung, versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt, schwerer Körperverletzung und Einbruchsdiebstahls eine zwölfmonatige, teilbedingte Freiheitsstrafe und im XXXX 2020 wegen Betrugs und versuchten Diebstahls eine dreimonatige Freiheitsstrafe) zu einem Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ zurückgestuft werden soll, leben in einer Wohnung in XXXX in einem gemeinsamen Haushalt mit der BF. XXXX ist an derselben Adresse mit Nebenwohnsitz gemeldet. Sie besorgt die Pflege und Erziehung der BF und wird dabei von XXXX unterstützt.

Die Mutter der BF verstarb am XXXX in XXXX.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei sich aus dem Inhalt der Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG.

Name, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit und Geburtsort der BF werden durch die konsistenten Angaben ihrer Mutter XXXX im ganzen Asylverfahren belegt, ebenso ihre Volksgruppenzugehörigkeit und ihr Religionsbekenntnis. Letzteres geht auch aus dem zuletzt vorgelegten Jahreszeugnis vom XXXX hervor. Die Geburtsurkunde der BF wurde ebenfalls vorgelegt. Angesichts ihrer Herkunft und Volksgruppenzugehörigkeit ist plausibel, dass Albanisch ihre Muttersprache ist.

Die Feststellungen zum Vater der BF basieren auf den insoweit glaubhaften und nachvollziehbaren Angaben von XXXX (siehe z.B. Niederschrift vom XXXX.2017, OZ 9). Es ist angesichts der kriminellen und von häuslicher Gewalt geprägten Vorgeschichte davon auszugehen, dass die BF nach wie vor keinen Kontakt zu ihrem Vater hat, zumal keine Hinweise zu seinem aktuellen Aufenthaltsort aktenkundig sind.

Die Feststellungen zu den erwachsenen Halbgeschwistern der BF beruhen auf den Angaben von XXXX in Zusammenschau mit den Ergebnissen der Abfragen im Zentralen Melderegister (ZMR), im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und im Strafregister. XXXX ist demnach seit XXXX nicht mehr im Bundesgebiet gemeldet; sein letzter Aufenthaltstitel war bis XXXX gültig und wurde nicht verlängert. XXXX heißt laut ZMR nach ihrer Eheschließung nunmehr XXXX und ist seit XXXX österreichische Staatsbürgerin. Ihr Hauptwohnsitz in XXXX (gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren Kindern) und ihr Nebenwohnsitz an der Adresse in XXXX, an der die BF sowie XXXX und XXXX mit Hauptwohnsitz gemeldet sind, gehen ebenfalls aus dem ZMR hervor. Damit im Einklang steht das Vorbringen in der Eingabe OZ 31, wonach XXXX mit der Unterstützung von XXXX die Pflege und Erziehung der BF im Alltag besorgt. Der Beschluss über die Obsorgeübertragung an XXXX wurde vorgelegt. Aus dem IZR geht ein Verfahren zur Rückstufung des Aufenthaltstitels von XXXX iSd § 28 NAG hervor. Dies lässt sich gut mit seinen Verurteilungen laut Strafregister und der Wohnsitzmeldung in der Justizanstalt XXXX zwischen XXXX 2020 und XXXX 2021 in Einklang bringen.

Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet seit 2015 und der Bezug von Grundversorgungsleistungen gehen aus dem ZMR und dem GVS-Betreuungsinformationssystem hervor. Der vorgelegte Versicherungsdatenauszug belegt ihre Krankenversicherung als Asylwerberin seit XXXX 2015. Eine Erwerbstätigkeit, die angesichts ihres Alters und des Schulbesuchs ohnedies nicht anzunehmen ist, geht daraus nicht hervor. Der Schulbesuch der BF ergibt sich aus den Angaben von XXXX vor dem BVwG am XXXX.2017 und aus den zuletzt vorgelegten Unterlagen (Schulbesuchsbestätigung, Schulnachricht, Jahreszeugnis). Letzteres belegt auch den Abschluss der siebten Schulstufe ohne „Nicht Genügend“ und die positive Beurteilung im Pflichtgegenstand Deutsch. Die Unbescholtenheit der BF geht aus dem Strafregister hervor, zumal sie erst seit kurzem strafmündig ist. Es gibt keine Beweisergebnisse dafür, dass sie eine Integrationsprüfung abgelegt hat.

Die Sterbeurkunde der Mutter der BF wurde vorgelegt.

Rechtliche Beurteilung:

Über die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags der BF auf internationalen Schutz (Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheids) wurde – nach der Entscheidung des BVwG vom 05.12.2017, der Zurückweisung der Revision durch den VwGH und der Ablehnung der Behandlung der Beschwerde in Bezug auf diese Punkte durch den VfGH – bereits abschließend entschieden, sodass nur noch über die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis V. des angefochtenen Bescheids zu entscheiden ist.

Gemäß § 58 Abs 1 Z 2 AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird. Gemäß § 58 Abs 3 AsylG ist darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen. Die Fälle, in denen im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine solche „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen ist, sind § 57 Abs 1 Z 1 bis 3 AsylG taxativ aufgelistet. Der Aufenthalt der BF in Österreich war zu keiner Zeit geduldet iSd § 46a FPG, sodass der Tatbestand des § 57 Abs 1 Z 1 AsylG nicht erfüllt ist. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels dient auch nicht der Gewährleistung der Strafverfolgung oder der Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen iSd § 57 Abs 1 Z 2AsylG, zumal die BF in Österreich weder Zeuge noch Opfer strafbarer Handlungen wurde. Zwar wurde sie im Kosovo Opfer häuslicher Gewalt durch ihren Vater. Es wurde jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass die Erteilung der Aufenthaltsberechtigung zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist, zumal die BF derzeit keinen Kontakt zu ihrem Vater hat. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 Abs 1 Z 3 AsylG wäre nur dann zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich, wenn im Kosovo kein ausreichender Schutz vor derartigen Bedrohungen gewährleistet wäre. Da der Kosovo insoweit jedoch – wie schon im Zusammenhang mit der Abweisung des Antrags der BF auf internationalen Schutz dargelegt wurde – ausreichend schutzfähig und -willig ist, liegen die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG an die BF nicht vor. Der erste Satz von Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids ist daher nicht zu beanstanden.

Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG ist die Entscheidung über die vollinhaltliche Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden, wenn ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wird. Gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG ist bei Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

Da die Rückkehrentscheidung in das Privat- und Familienleben der BF eingreift, ist sie gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele (für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes und die Verteidigung der Ordnung, zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) dringend geboten ist. Dabei sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob dieser rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist, zu berücksichtigen. Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht verfügen, unzulässig wäre.

Bei einer Rückkehrentscheidung, von der (wie hier) eine Minderjährige betroffen ist, sind die besten Interessen und das Wohlergehen dieses Kindes, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen es im Heimatstaat begegnet, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs 2 Z 5 BFA-VG dabei den Fragen zu, wo das Kind geboren wurde, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld es gelebt hat, wo es die Schulbildung absolviert hat, ob es die Sprache des Heimatstaats spricht, und insbesondere, ob es sich in einem anpassungsfähigen Alter befindet (vgl. VwGH 24.09.2019, Ra 2019/20/0274). Für Kinder im Alter von sieben und elf Jahren wird dabei in der Rechtsprechung eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit angenommen (siehe VwGH 08.10.2017, Ra 2017/19/0422).

Die mittlerweile 14-jährige BF hält sich seit ihrem achten Lebensjahr im Bundesgebiet auf. Sie hat zwar schon vor ihrer Ausreise in ihrem Heimatstaat eine grundsätzliche Sozialisierung erfahren, aber in Österreich prägende Jahre ihrer Kindheit und Jugend verbracht, den überwiegenden Teil ihrer schulischen Ausbildung absolviert und Deutschkenntnisse erworben, die ihr zuletzt den positiven Abschluss der siebten Schulstufe (auch im Gegenstand „Deutsch“) ermöglicht haben. Insbesondere nach dem Tod ihrer Mutter wird sie hier von ihren beiden erwachsenen Halbschwestern versorgt und erzogen, von denen eine Österreicherin ist, die mit der Obsorge für die BF betraut ist, und die andere in Österreich daueraufenthaltsberechtigt ist und mit der BF in einem gemeinsamen Haushalt wohnt. Im Kosovo ist demgegenüber niemand, der die Obsorge für die BF übernehmen könnte. Eine gemeinsame Ausreise der BF mit ihrer österreichischen Obsorgeberechtigten, die mit ihrer Kernfamilie im Bundesgebiet lebt, ist nicht zumutbar. Zwar hat die BF (insbesondere nach der Abweisung ihres Antrags auf internationalen Schutz) integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalts bewusst sein mussten; diesem Umstand kommt allerdings bei Minderjährigen im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zu (vgl. VwGH 05.03.2021, Ra 2020/19/0147).

Im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen ist, dient § 138 ABGB als Orientierungsmaßstab (siehe VwGH 17.05.2021, Ra 2021/01/0150). Wichtige Kriterien sind dabei unter anderem der Schutz der körperlichen und seelischen Integrität des Kindes, die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten, die Vermeidung der Gefahr für das Kind, Übergriffe oder Gewalt selbst zu erleiden oder an wichtigen Bezugspersonen mitzuerleben sowie verlässliche Kontakte und sichere Bindungen zu beiden Elternteilen und wichtigen Bezugspersonen. Eine Übergabe der BF an ihren Vater, der Gewalt gegen sie und ihre Mutter ausgeübt hatte, würde demnach ebenso ihrem Wohl widersprechen wie ein Herausreißen aus ihrem gewohnten familiären, privaten und schulischen Umfeld, zumal sie nach der als kleines Kind erlebten häuslichen Gewalt nunmehr den Tod ihrer Mutter verkraften muss. Demgegenüber fällt die Fortsetzung des allenfalls dem Kindeswohl widersprechenden gemeinsamen Haushalts mit ihrem unter anderem wegen Aggressionsdelikten vorbestraften Halbbruder deutlich weniger ins Gewicht.

Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des*der Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dabei wiegen hier die privaten Interessen der unbescholtenen BF an einem Verbleib in Österreich schwerer als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung, auch wenn berücksichtigt wird, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt.

Da die BF weder Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat noch erwerbstätig ist, ist ihr aufgrund der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ iSd § 54 Abs 1 Z 2 AsylG zu erteilen.

In teilweiser Stattgebung der Beschwerde (soweit diese nicht bereits endgültig erledigt worden war) ist eine Rückkehrentscheidung gegen die BF gemäß § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig zu erklären und ihr gemäß § 58 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ gemäß § 54 Abs 1 Z 2 AsylG iVm § 55 Abs 2 AsylG zu erteilen. Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids ist insoweit abzuändern. Die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung der BF in den Kosovo hat als Folge dieser Entscheidung ersatzlos zu entfallen, ebenso die Spruchpunkte IV. und V. des angefochtenen Bescheids betreffend die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise und die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung.

Die Revision ist nach Art 133 Abs 4 B-VG nicht zuzulassen, weil es sich bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK um eine typische Einzelfallbeurteilung handelt, bei der sich das BVwG angesichts der Integration der minderjährigen BF, deren nahe Angehörige und Obsorgeberechtigte im Inland niedergelassen sind, im Rahmen der Rechtsprechung des VwGH bewegte und keine erheblichen, über den Einzelfall hinausreichenden Rechtsfragen zu lösen hatte.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung Deutschkenntnisse Interessenabwägung Privat- und Familienleben Rechtsanschauung des VfGH Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Unbescholtenheit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:G314.2161012.1.00

Im RIS seit

01.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.02.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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