TE Bvwg Beschluss 2021/8/30 L519 2209859-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.08.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

30.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


L519 2209859-1/15E

L519 2209858-1/10E

L519 2209863-1/12E

L519 2209865-1/11E

L519 2209867-1/10E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde des (1.) XXXX , geb. XXXX , StA Irak, der (2.) XXXX , geb. XXXX , StA Irak, der (3.) XXXX , geb. XXXX , StA Irak, des (4.) XXXX , geb. XXXX , StA Irak und des (5.) XXXX , geb. XXXX , StA Irak, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (1.) vom 22.10.2018, Zl. 1091546306-151583899, (2.) vom 22.10.2018, Zl. 1091546404-151583902, (3.) vom 22.10.2018, Zl. 1091546502-151583915, (4.) vom 22.10.2018, Zl. 1091546600-151584461, und (5.) vom 22.10.2018, Zl. 1091546709-151583937 beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde werden die angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Entscheidungen an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1) ist mit der Zweitbeschwerdeführerin (BF2) in aufrechter Ehe verheiratet, die volljährigen Drittbeschwerdeführer (BF3) und Viertbeschwerdeführer (BF4) sowie der minderjährige Fünftbeschwerdeführer (BF5) sind die leiblichen Kinder des BF1 und der BF2. Sämtliche Beschwerdeführer sind Staatsangehörige des Irak, der kurdischen Volksgruppe zugehörig und sunnitischen Glaubens.

I.2. Der BF1 und die BF2 stellten im Gefolge ihrer illegalen Einreise in das Bundesgebiet am 19.10.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes Anträge auf internationalen Schutz. Für die BF3 bis BF5 stellte der Vater als gesetzlicher Vertreter am gleichen Tag Anträge auf internationalen Schutz im Rahmen des Familienverfahrens.

I.3. Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 20.10.2015 gaben die BF1 und BF2 zusammengefasst an, dass sie einen Monat vor der Ausreise einen Drohbrief erhalten hätten. Danach hätten unbekannte Männer versucht, zwei ihrer Kinder zu entführen. Aus Angst wären der BF1 und die BF2 mit ihren Kindern geflüchtet. Für die mj. BF3 bis BF5 wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

I.4. Nach Zulassung des Verfahrens wurden die BF am 09.08.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines männlichen Dolmetschers in kurdisch-soranischer Sprache niederschriftlich einvernommen.

Dabei führte die BF2 grundsätzlich die gleichen Fluchtgründe wie der BF1 aus. So wäre es im Irak mit einer Gruppe des IS zu Problemen gekommen. Ein offensichtlich dem IS angehörender Mann namens Najat wurde vom Bruder der BF2, der Guppenleiter einer Polizeistation gewesen wäre, festgenommen. Der Bruder der BF2 war allseits als Polizist bekannt und wurde auch dem BF1 vorgeworfen, dass er für die Festnahme des Najat verantwortlich wäre. Ein Gruppenführer des IS, Khatab KURDI, wäre mit der Schwester des Najat verheiratet gewesen und hätten die BF deswegen einen Drohbrief erhalten. Im Brief wurde mitgeteilt, dass die Familie entführt und getötet und die BF2 vergewaltigt werden würde, wenn der BF1 nicht für die Freilassung des Najat sorgen würde. Aus diesem Grund bestehen berechtigte Zweifel, dass sich die BF2 nicht umfassend zu ihrem Fluchtgrund und dabei primär mit den Ausführungen zu der drohenden Vergewaltigung äußern konnte, weil bei der niederschriftlichen Einvernahme ein männlicher Dolmetscher anwesend war.

I.5. Mit im Spruch bezeichneten Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.10.2018 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurden die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak ebenso abgewiesen (Spruchpunkte II). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurden nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.).

Das Bundesamt unterließ es jedoch, über die Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß § 55 FPG mit einem (gesondert anfechtbaren) Spruchpunkt abzusprechen.

I.6. Gegen die Bescheide wurden von der seinerzeitigen rechtlichen Vertretung mit in den Akten ersichtlichen Schriftsätzen innerhalb offener Frist Beschwerden erhoben.

Darin wird moniert, dass sich das Bundesamt nicht ausreichend mit dem Vorbringen der BF auseinandergesetzt hätte. Zudem wäre die Sicherheitslage aufgrund der instabilen politischen Situation und der weitgehenden Schutzunfähigkeit staatlicher Institutionen nach wie vor prekär und sehr fragil.

I.7. Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 21.11.2018 vorgelegt und der Gerichtsabteilung L510 zugewiesen.

I.8. Am 26.11.2018 wurde von der Gerichtsabteilung L510 aufgrund eines möglichen Eingriffes in die sexuelle Selbstbestimung im Falle der BF2, eine Unzuständigkeitseinrede erstattet. Der Akt wurde in weiterer Folge der Gerichtsabteilung L519 zugewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und der eingebrachten Beschwerden.

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Im Rahmen der Einvernahme zum gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz am 09.08.2018 brachte die BF2 unter anderem vor, dass ein IS-Mitglied von ihrem Bruder verhaftet worden wäre. Auch wäre ihrem Gatten diesbezüglich vorgeworfen worden, für die Verhaftung verantwortlich zu sein. Aus diesem Grund hätte die eine Gruppe des IS gedroht, die BF2 zu vergewaltigen, wenn ihr Gatte nicht für die Freilassung des Häftlings sorgen würde.

II.1.2. Die Beschwerdeführerin wurde dabei zwar von einer weiblichen Einvernahmeleitern, jedoch unter Heranziehung eines männlichen Dolmetschers, befragt. Die BF2 wurde im Rahmen der Einvernahme weder über die Möglichkeit einer Einvernahme unter Verwendung einer weiblichen Dolmetscherin belehrt, noch hat sie die Durchführung der Einvernahme unter Einbeziehung eines männlichen Dolmetschers verlangt.

II.1.3. Das Bundesamt unterließ es zudem bei den im Spruch bezeichneten Bescheiden, über die Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß § 55 FPG mit einem (gesondert anfechtbaren) Spruchpunkt abzusprechen.

II.2. Beweiswürdigung:

Der für die gegenständliche Zurückverweisung des Bundesverwaltungsgerichtes relevante Sachverhalt ergibt sich zweifelsfrei aus der Aktenlage.

II.3. Rechtliche Beurteilung

II.3.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da weder im BFA-VG noch im AsylG 2005 eine Senatsentscheidung vorgesehen ist, liegt gegenständlich somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Zu Spruchpunkt A)

II.3.2. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 leg. cit. hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet:

Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht komme nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Der Verfassungsgesetzgeber habe sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I 51, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stelle die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis stehe diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung“ der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher im Lichte der oa. Ausführungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn

1.             die Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat,

2.             die Behörde zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat

3.             konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterließ, damit diese im Sinn einer "Delegierung" dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden oder

4.             ähnlich schwerwiegende Ermittlungsmängel zu erkennen sind und
die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht - hier: das Bundesverwaltungsgericht - selbst nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

In seinem Urteil vom 14.6.2017, C-685 EU:C:2017:452 befasste sich der EuGH mit der Frage, ob nationale Bestimmungen, welche dem Verwaltungsgericht die amtswegige Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts –bei entsprechender Untätigkeit der Behörde- der in der europarechtlichen Judikatur geforderten Objektivität und Unvoreingenommenheit des Gerichts entgegenstehen. Nach seiner Ansicht können die Gerichte nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage solcher Beweise zu fördern, doch können sie nicht verpflichtet sein, anstelle der genannten Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen, die nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C-390/12, EU:C:2014:281) diese Behörden vorzubringen haben. Werden diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben. Der EuGH führte weiters aus, dass die Art. 49 und 56 AEUV, wie sie insbesondere im Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C-390/12, EU:C:2014:281), ausgelegt wurden, im Licht des Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Verfahrensregelung, nach der in Verwaltungsverfahren das Gericht, bei der Prüfung des maßgeblichen Sachverhalts die Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache von Amts wegen zu ermitteln hat, nicht entgegenstehen, sofern diese Regelung nicht zur Folge hat, dass das Gericht an die Stelle der zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zu treten hat, denen es obliegt, die Beweise vorzulegen, die erforderlich sind, damit das Gericht eine entsprechende Prüfung durchführen kann. Die Ausführungen des EuGH beziehen sich zwar auf ein Verwaltungsstrafverfahren, sie sind nach ho. Ansicht jedoch auch im gegenständlichen Fall anwendbar.

Im Lichte einer GRC-konformen Interpretation der verfassungsrechtlichen Bestimmungen, wonach das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden hat, finden diese jedenfalls dort ihre Grenze, wenn das Gericht an die Stelle der zuständigen belangten Behörde zu treten hätte, der es obliegt, dem Gericht die Beweise iSd Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts vorzulegen. Wird diese Grenze überschritten ist das Gericht ermächtigt –wenn nicht sogar verpflichtet- eine kassatorische Entscheidung iSd § 28 Abs. 3 VwGVG zu treffen.

II.3.3. Einzelfallbezogen ergibt sich hieraus Folgendes:

II.3.3.1. Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung.

Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen (§ 20 Abs 1 AsylG).

Unabhängig von der Frage der Glaubwürdigkeit des Vorbringens ist daher zunächst zu überprüfen, ob das Vorbringen der Beschwerdeführerin einen Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung bedeutet. Der gesetzlich verwendete Begriff der "sexuellen Selbstbestimmung" wird im Allgemeinen weit auszulegen sein. So ist dem Vorbringen einer Furcht vor einer angedrohten Vergewaltigung ein drohender Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung jedenfalls inhärent, auch wenn dies nicht ausdrücklich ins Treffen geführt wird. Auch auf andere, die persönliche Sphäre betreffende Aspekte treffen die teleologischen Erwägungen des § 20 AsylG 2005 in vergleichbarer Weise zu, etwa erlittene Diskriminierungen in Zusammenhang mit dem Geschlecht (vgl. dazu Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Kommentar zum Asyl- und Fremdenrecht, K6, K7 und K9 zu § 20 AsylG 2005, S. 845).

Die BF2 hatte in der Einvernahme vor dem Bundesamt unter anderem eine Bedrohnung mit einer möglichen Vergewaltigung als Fluchtgrund genannt. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist demnach nicht auszuschließen, dass dieses Vorbringen einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung darstellen kann bzw. könnte die BF2 Angst vor einem drohenden Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung äußern. Das Bundesverwaltungsgericht legt Wert auf die Feststellung, dass damit keine Aussage über die Glaubwürdigkeit des Vorbringens getroffen werden soll und dass das BFA zu Recht auf verschiedene Widersprüche und Unstimmigkeiten hingewiesen hat. Dies ändert aber nichts daran, dass im Verfahren zu berücksichtigen gewesen wäre, dass das Vorbringen unter § 20 AsylG 2005 zu subsumieren gewesen wäre.

Die Durchsicht des Einvernahmeprotokolls zeigt, dass bei der Einvernahme als Leiter der Amtshandlung eine weibliche Referentin des BFA fungierte und dass es sich beim Dolmetscher um einen Mann handelte. Durch die Anwesenheit einer männlichen Person ist jedenfalls dadurch der Zweck des § 20 AsylG, der Abbau von Hemmschwellen, als konterkariert anzusehen. Aus dem Protokoll geht zwar nicht hervor, dass die BF2 Einwände geltend gemacht hätte, ebenso wenig aber, dass sie über die ihr aus § 20 AsylG zustehenden Rechte informiert worden wäre.

Nach dem im (zur Vorgängerbestimmung des § 27 Abs 3 AsylG 1997 ergangenen) Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 03.12.2003, 2001/01/0402, dargelegten Zweck des § 20 AsylG 2005 soll die Einvernahme durch eine gleichgeschlechtliche (und damit im vorliegenden Fall weibliche) Organwalterin den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Da davon auszugehen ist, dass erst dadurch eine gegenüber einem männlichen Organwalter bestehende Hemmung, über das Erlebte näher zu berichten, abgebaut wird, ist ab dem Zeitpunkt, in dem sexuelle Übergriffe als Fluchtgrund geltend gemacht werden, die Notwendigkeit gegeben, die Asylwerberin durch eine Person weiblichen Geschlechts einzuvernehmen. Eine in einem solchen Fall durch einen männlichen Organwalter vorgenommene Beweiswürdigung - auch wenn sie nur die Frage beträfe, ob dem diesbezüglichen Vorbringen zumindest ein "glaubhafter Kern" zukomme - ist mit dem in § 27 Abs 3 letzter Satz AsylG aufgestellten Erfordernis daher nicht in Einklang zu bringen (VwGH 19.12.2007, 2005/20/0321 mwN; vgl. dazu auch VfGH 27.09.2012, U 688-690/12-19 mit Verweis auf die Erläuterungen zur RV 952 BlgNR XXII. GP, 45).

Dass unter Zugrundelegung der obigen Ausführungen in den von dieser Regelung erfassten Konstellationen auch die Beiziehung eines Dolmetschers gleichen Geschlechts geboten ist, versteht sich bei verständiger Würdigung dieser Vorschrift von selbst, weil nur dadurch dem normierten Zweck, nämlich den Abbau von Hemmschwellen zu fördern, adäquat Rechnung getragen werden kann (siehe auch korrespondierend dazu VfGH vom 11.12.2013, U 1914/2012; VfGH vom 12.03.2013, U 1674/12 und VfGH vom 12.06.2015, U 1099/2013ua).

Die Nichtbeachtung des § 20 Abs 1 AsylG 2005 durch die belangte Behörde macht eine ergänzende Einvernahme der BF2 unentbehrlich, zumal die von der belangten Behörde verletzte Bestimmung der ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung dient und besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich Personen enthält, welche Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung geltend machen.

Im fortgesetzten Verfahren ist dieser Verfahrensmangel vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu sanieren. Die dargelegten Umstände müssen insgesamt jedenfalls als maßgeblicher Mangel angesehen werden, welcher einer weiteren Einvernahme der Beschwerdeführerin durch eine weibliche Organwalterin unter Zuhilfenahme einer Dolmetscherin weiblichen Geschlechtes bedarf. Für das Bundesverwaltungsgericht erweist sich der vorliegende Sachverhalt daher als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen diesbezüglich unerlässlich erscheinen. Damit hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bloß ansatzweise ermittelt.

II.3.3.2. Fehlender Spruchpunkt hinsichtlich der freiwilligen Ausreise gem. § 55 FPG;

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entfaltet allein der Spruch eines Bescheides oder Erkenntnisses normative Wirkung, welche ein Ausdruck der Rechtskraft der Entscheidung ist.

Die Begründung eines Bescheides ist nicht der Rechtskraft fähig und entfaltet damit keine Bindungswirkung. Was Gegenstand eines in Rechtskraft erwachsenen Bescheides einer Behörde ist, bestimmt sich ausschließlich nach dem Inhalt des Spruches des Bescheides. Nur er erlangt rechtliche Geltung (Verbindlichkeit) und legt dadurch die Grenzen der Rechtskraft fest. Die Bescheidbegründung spielt hierfür nur insoweit eine Rolle, als (auch) sie zu der (nach den für Gesetze maßgebenden Regeln vorzunehmenden) Auslegung (Deutung), nicht aber zur Ergänzung eines in sich unklaren Spruches heranzuziehen ist (vgl. VwGH vom 28.02.2012, Zl. 2010/15/0169; vom 30.06.2017, Zl. 2013/07/0262; vom 01.03.2018, Ra 2017/16/0102, mwN).

§ 55 FPG lautet:

(1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird.

(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.

(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.

(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Abs. 1 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.

Das Bundesamt hat über die Bestimmungen einer freiwilligen Ausreise nach § 55 FPG mit einem eigenen und von den BF gesondert anfechtbaren Spruchpunkt nicht abgesprochen. Durch die darauf Bezug nehmenden Ausführungen in der Begründung ("zu Spruchpunkt VI."), kann ein fehlender Spruchpunkt nicht ersetzt werden; die Begründung eines Bescheides kann keine normative, die Behörden und die beteiligten Parteien bindende Wirkung erlangen.

Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das BVwG „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden“ wäre, ist nicht ersichtlich. Dass die Zurückverweisung den gesamten Verfahrensverlauf verlängert, ist bei der Zeit- und Kostenersparnis nicht in Rechnung zu stellen, weil ansonsten eine kassatorische Entscheidung nie in Frage käme (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG-Kommentar 2007, 3. Teilband, § 66 Rz 20).

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

II.3.3.3 Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der BF noch nicht feststeht und mangels gesondert anfechtbaren Spruchpunkten betreffend einer/keiner freiwilligen Ausreise, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des Bundesasylamtes gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.

II.3.3.4. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen, zumal aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

B) Unzulässigkeit der Revision:

Das Verwaltungsgericht hat im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist zu begründen (§ 25a Abs. 1 VwGG). Die Revision ist (mit einer hier nicht zum Tragen kommenden Ausnahme) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere, weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird (Art. 133 Abs. 4 B-VG).

Die gegenständliche Entscheidung stützt sich auf die umfangreiche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG und bewegt sich im vom VwGH eng gesetzten Rahmen der Zulässigkeit einer Zurückverweisung (vgl. dazu etwa VwGH 10.08.2018, Ra2018/20/0314). Zur Zulässigkeit einer zurückverweisenden Entscheidung bei Fehlen jeglicher Ermittlungstätigkeit der belangten Behörde etwa VwGH 30.03.2017, Ra2014/08/0050; 09.03.2016, Ra2015/08/0025 und VwGH 17.03.2016, Ra2015/11/0127 sowie grundlegend VwGH 26.06.2014, Ro2014/03/0063. Zum Vorliegen eines ungeklärten Sachverhaltes bei Einvernahmen zur Furcht vor Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung durch eine Person des anderen Geschlechts explizit VfGH 26.11.2018, E196/2018. Zur Subsumierung eines Sachverhaltes unter § 20 AsylG grundlegend VfGH 11.12.2013, U1914/2012 sowie jüngst VfGH 26.02.2019, E2425/2018 und VwGH 12.10.2016, Ra2016/18/0119.

Der Entfall der mündlichen Verhandlung ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz. Es ergeben sich auch keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage, so dass insgesamt die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht vorliegen.

Schlagworte

Einvernahme Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung sexuelle Selbstbestimmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:L519.2209859.1.00

Im RIS seit

01.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.02.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten