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70 SchulenNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Aufhebung der Festlegung einer besonderen Schulpflicht nur für Mädchen im Land Vorarlberg hinsichtlich des Besuchs einer hauswirtschaftlichen Berufsschule; keine sachliche Rechtfertigung mehr dieser unterschiedlichen Rechtslage in Vorarlberg durch die besonderen Verhältnisse der Ausbildungssituation von Frauen in Vorarlberg; Zeitraum für die Herstellung von Rechtsgleichheit in allen Bundesländern bereits verstrichenSpruch
§28 des Schulpflichtgesetzes 1985, Anlage zur Kundmachung des Bundeskanzlers und des Bundesministers für Unterricht, Kunst und Sport vom 8. Februar 1985, BGBl. Nr. 76, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. August 1995 in Kraft.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zwei (zu B407/91 und zu B 408/91 protokollierte) Beschwerden gegen Bescheide des Landeshauptmannes von Vorarlberg anhängig, denen folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
a) Der Landeshauptmann von Vorarlberg erkannte mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid den Beschwerdeführer der zu B407/91 protokollierten Beschwerde einer Verwaltungsübertretung nach §24 Abs1 (gemeint wohl: Abs4 ) iVm §1 Abs1 des Schulpflichtgesetzes 1985, BGBl. 76, schuldig, weil er es unterlassen hatte, als Erziehungsberechtigter dafür zu sorgen, daß seine am 7.11.1972 geborene Tochter, die an näher bezeichneten Tagen dem Unterricht an der Hauswirtschaftlichen Berufsschule Hohenems unentschuldigt und ohne zwingenden Grund ferngeblieben war, obwohl sie keine mittlere oder höhere Schule besuchte und nicht zum Besuch einer anderen Berufsschule verpflichtet war, die Schulpflicht erfüllt. Unter Berufung auf §24 Abs4 des Schulpflichtgesetzes 1985 wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe, für den Fall ihrer Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe, verhängt und unter Berufung auf §64 Abs2 VStG ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens festgesetzt.
b) Der Landeshauptmann von Vorarlberg erkannte ferner mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid die Tochter des Beschwerdeführers (sie erhob die zu B408/91 protokollierte Beschwerde) einer Verwaltungsübertretung nach §24 Abs1 (gemeint wohl: Abs4) des Schulpflichtgesetzes 1985 schuldig, weil sie dadurch, daß sie an näher bezeichneten Tagen dem Unterricht an der Hauswirtschaftlichen Berufsschule Hohenems unentschuldigt und ohne zwingenden Grund ferngeblieben war, obwohl sie keine mittlere oder höhere Schule besuchte und nicht zum Besuch einer anderen Berufsschule verpflichtet war, die Pflicht zum Besuch der Hauswirtschaftlichen Berufsschule nicht erfüllte. Unter Berufung auf §24 Abs4 des Schulpflichtgesetzes 1985 wurde über die Beschwerdeführerin eine Geldstrafe, für den Fall ihrer Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe, verhängt und unter Berufung auf §64 Abs2 VStG ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens festgesetzt.
2. Mit den auf Art144 Abs1 B-VG gestützten, im wesentlichen gleichlautenden Beschwerden gegen diese Bescheide wird die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz durch Anwendung eines gegen dieses Grundrecht verstoßenden Gesetzes geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof begehrt.
3. Der Landeshauptmann von Vorarlberg hat die Verwaltungsakten vorgelegt und Äußerungen erstattet, in denen er jeweils die Abweisung der Beschwerde beantragt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat die Verfahren über die beiden Beschwerden in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 VerfGG zur gemeinsamen Beratung und Beschlußfassung verbunden und aus Anlaß dieser Beschwerdeverfahren beschlossen, von Amts wegen das Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 einzuleiten.
1.a) Das Schulpflichtgesetz 1985 ist die wiederverlautbarte Fassung des Schulpflichtgesetzes BGBl. 241/1962. Der Wortlaut des §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 stimmt mit jenem des §28 des Schulpflichtgesetzes aus dem Jahre 1962 überein.
b) §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 und die mit dieser Vorschrift in einem unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhang stehenden Vorschriften dieses Gesetzes haben folgenden Wortlaut:
"Abschnitt I
Allgemeine Schulpflicht
A. Personenkreis, Beginn und Dauer
Personenkreis
§1. (1) Für alle Kinder, die sich in Österreich dauernd aufhalten, besteht allgemeine Schulpflicht nach Maßgabe dieses Abschnittes.
...
Abschnitt II
Berufsschulpflicht
Personenkreis
§20. Für alle Lehrlinge im Sinne des Berufsausbildungsgesetzes, ..., sowie für Personen, die in einem Lehrberuf in besonderen selbständigen Ausbildungseinrichtungen gemäß §30 des Berufsausbildungsgesetzes ausgebildet werden, besteht Berufsschulpflicht nach Maßgabe dieses Abschnittes.
...
Erfüllung der Berufsschulpflicht
§22. (1) Die Berufsschulpflicht ist durch den Besuch einer dem Lehrberuf entsprechenden Berufsschule zu erfüllen.
Abschnitt III
Gemeinsame Bestimmungen
Verantwortlichkeit für die Erfüllung der Schulpflicht
und Strafbestimmungen
§24. (1) Die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten sind verpflichtet, für die Erfüllung der Schulpflicht, insbesondere für den regelmäßigen Schulbesuch und die Einhaltung der Schulordnung durch den Schüler bzw. in den Fällen der §§11, 13 und 22 Abs4 für die Ablegung der dort vorgesehenen Prüfungen zu sorgen. Minderjährige Schulpflichtige treten, sofern sie das 14. Lebensjahr vollendet haben, hinsichtlich dieser Pflichten neben die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten. Sofern es sich um volljährige Berufsschulpflichtige handelt, treffen sie diese Pflichten selbst.
...
(4) Die Nichterfüllung der in den Abs1 bis 3 angeführten Pflichten stellt eine Verwaltungsübertretung dar und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe bis 3.000 S, im Fall der Uneinbringlichkeit mit Arrest bis zu zwei Wochen zu bestrafen.
...
Übergangsbestimmungen
§28. (1) Bis zu einer anderweitigen Regelung durch Bundesgesetz besteht im Land Vorarlberg für Mädchen, die ihre allgemeine Schulpflicht erfüllt haben, die Pflicht zum Besuch der hauswirtschaftlichen Berufsschule, wenn sie keine mittlere oder höhere Schule (einschließlich der land- und forstwirtschaftlichen Fachschulen und der höheren land- und forstwirtschaftlichen Lehranstalten) besuchen und nicht zum Besuch einer anderen Berufsschule verpflichtet sind.
(2) Die hauswirtschaftliche Berufsschulpflicht beginnt mit dem der Beendigung der allgemeinen Schulpflicht folgenden Schuljahrsanfang und dauert zwei Schuljahre, längstens jedoch bis zur Erreichung des 18. Lebensjahres oder der früheren Verehelichung.
(3) Die §§22 bis 24 sind sinngemäß anzuwenden.'
c) Die die hauswirtschaftlichen Berufsschulen betreffenden Organisationsvorschriften enthält §129 des Schulorganisationsgesetzes, BGBl. 242/1962, idF der Bundesgesetze BGBl. 243/1965, 323/1975 und 365/1982. Diese im III. Hauptstück ('Übergangs- und Schlußbestimmungen') des Gesetzes enthaltene Vorschrift hat, soweit sie nicht Grundsatzbestimmungen enthält, folgenden Wortlaut:
"§129
(1) Bis zu einer anderweitigen Regelung durch Bundesgesetz gelten für hauswirtschaftliche Berufsschulen folgende Bestimmungen.
(2) Die hauswirtschaftliche Berufsschule hat die Aufgabe, Mädchen, die zum Besuch der hauswirtschaftlichen Berufsschule verpflichtet sind oder sie freiwillig besuchen, in die hauswirtschaftliche Tätigkeit einzuführen und die erworbene Allgemeinbildung zu festigen.
(3) Im Lehrplan (§6) der hauswirtschaftlichen Berufsschule sind als Pflichtgegenstände vorzusehen:
a) Religion, Deutsch, Rechnen;
b) Mädchenhandarbeit, Hauswirtschaft, Lebenskunde, Gesundheitslehre, Kinderpflege.
...
(7) Bis zu einer anderweitigen Regelung durch Bundesgesetz hat die Lehramtsausbildung für hauswirtschaftliche Berufsschulen am Pädagogischen Institut des Bundes in Vorarlberg zu erfolgen."
d) Das Pflichtschulerhaltungs-Grundsatzgesetz, BGBl. 163/1955, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. 160/1987, enthält in seinem (durch das Bundesgesetz BGBl. 87/1963 eingefügten) §5a folgende Bestimmung über die hauswirtschaftlichen Berufsschulen:
"§5a
In Ländern, in denen eine Pflicht zum Besuche einer hauswirtschaftlichen Berufsschule besteht, haben öffentliche hauswirtschaftliche Berufsschulen unter Bedachtnahme auf eine für die Schulführung erforderliche Mindestschülerzahl in solcher Zahl und an solchen Orten zu bestehen, daß alle Mädchen, die zum Besuch einer hauswirtschaftlichen Berufsschule verpflichtet sind, eine solche bei einem ihnen zumutbaren Schulweg besuchen können."
III.1.a) Der Verfassungsgerichtshof ging in dem das Gesetzesprüfungsverfahren einleitenden Beschluß davon aus, daß die Beschwerden zulässig seien. Er nahm an, daß zufolge der Übergangsvorschrift des ArtII des - mit 1. Jänner 1991 in Kraft getretenen - Bundesgesetzes, mit dem das Verwaltungsstrafgesetz geändert wird, BGBl. 358/1990, in beiden Fällen §51 VStG in der vor dem Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes in Geltung gestandenen Fassung anzuwenden, der Instanzenzug daher in beiden Fällen erschöpft sei.
b) Der Verfassungsgerichtshof nahm ferner aus folgenden Erwägungen an, daß er bei der Entscheidung über beide Beschwerden §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 anzuwenden hätte, diese Bestimmung somit präjudiziell sei:
"Die angefochtenen Bescheide berufen sich ausdrücklich (und durchaus denkmöglich) auf §24 Abs1 und 4 des Schulpflichtgesetzes 1985. §24 Abs4 erklärt die Nichterfüllung der in §24 Abs1 angeführten Pflichten zum Tatbestand einer Verwaltungsübertretung. §24 Abs1 erlegt sowohl den Eltern (bzw. sonstigen Erziehungsberechtigten) von Schulpflichtigen als auch den Schulpflichtigen, sofern sie das 14. Lebensjahr vollendet haben, Verpflichtungen auf: Für die Eltern (bzw. sonstigen Erziehungsberechtigten) von Schulpflichtigen ist dies unter anderem die Verpflichtung, für die Erfüllung der Schulpflicht durch den Schüler zu sorgen; für die Schulpflichtigen, sofern sie das 14. Lebensjahr vollendet haben, ist dies unter anderem die Erfüllung der Schulpflicht.
Soweit es sich um den Besuch der hauswirtschaftlichen Berufsschule handelt, ist die Schulpflicht in §28 des Schulpflichtgesetzes 1975 festgelegt. Der Abs3 des §28 dieses Gesetzes ordnet die sinngemäße Anwendung (auch) des §24 dieses Gesetzes an. In beiden Beschwerdefällen findet, da es jeweils um die Pflicht zum Besuch der hauswirtschaftlichen Berufsschule geht, §24 des Schulpflichtgesetzes 1985 jeweils nur zufolge dieser Anordnung des §28 Abs3 (sinngemäß) Anwendung. Es scheint somit, daß die belangte Behörde bei der Erlassung der angefochtenen Bescheide jeweils auch §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 - wenngleich ohne sich ausdrücklich darauf zu berufen - angewendet hat (s. in diesem Zusammenhang etwa VfSlg. 7461/1974; vgl. ferner etwa auch VfSlg. 7466/1974) und daß deshalb auch der Verfassungsgerichtshof diese Vorschrift bei der Entscheidung über die Beschwerden anzuwenden hätte.
Die Bestimmungen des §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 scheinen in einem untrennbaren Zusammenhang zu stehen."
2. Im Verfahren ist weder vorgebracht worden noch sonst hervorgekommen, daß die vorläufigen Annahmen des Verfassungsgerichtshofes über die Zulässigkeit der Beschwerden und über die Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung unzutreffend wären.
IV. 1. In dem das Gesetzesprüfungsverfahren einleitenden Beschluß hat der Verfassungsgerichtshof die gegen die Verfassungsmäßigkeit des §28 des Schulorganisationsgesetzes 1985 entstandenen Bedenken, die ihn zu diesem Beschluß bewogen haben, im wesentlichen folgendermaßen umschrieben:
"a) Bereits mit Beschluß vom 22. Juni 1974, B20/74, und mit Beschluß vom 7. Oktober 1974, B258/74, hat der Verfassungsgerichtshof von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §28 des Schulpflichtgesetzes, BGBl. 241/1962, eingeleitet. Er hatte nämlich zunächst das Bedenken, daß eine unterschiedliche Regelung der Berufsschulpflicht in Vorarlberg und im übrigen Bundesgebiet nicht als Folge eines Unterschiedes in den tatsächlichen Verhältnissen sachlich gerechtfertigt sei, und daß es ferner für die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter - zum Besuch der hauswirtschaftlichen Berufsschule waren ausnahmslos alle die Voraussetzungen des §28 Abs2 des Schulpflichtgesetzes, BGBl. 241/1962, erfüllenden Mädchen, aber eben nur Mädchen verpflichtet - keine aus entsprechenden Unterschieden in den tatsächlichen Verhältnissen ableitbare sachliche Rechtfertigung gebe.
b) In dem das Gesetzesprüfungsverfahren abschließenden Erkenntnis VfSlg. 7461/1974 gelangte der Verfassungsgerichtshof allerdings zum Ergebnis, daß die in Prüfung gezogene gesetzliche Bestimmung nicht aus den im Beschluß über die Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens aufgezeigten Gründen verfassungswidrig ist, weshalb er aussprach, daß §28 des Schulpflichtgesetzes, BGBl. 241/1962, nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird.
Diese Auffassung begründete der Verfassungsgerichtshof mit folgenden an §28 dieses Gesetzes anknüpfenden Ausführungen:
'2.2.1. Diese auf Vorarlberg beschränkte Regelung knüpft an den durch das Vorarlberger LandesG, LGBl. Nr. 88/1920, und das gleichlautende Bundesgesetz vom 7. Jänner 1929, BGBl. Nr. 74, geschaffenen Zustand an. Diese unter der Herrschaft des §42 Z. 3 Übergangsgesetz 1920 erlassenen paktierten Gesetze sahen die Errichtung von hauswirtschaftlichen Fortbildungsschulen in Vorarlberg vor, deren Zweck 'in der Wiederholung und Vertiefung des Lehrstoffes der Volksschule und in der ersten Einführung der schulentwachsenen Mädchen in den künftigen Hausfrauenberuf' bestand (§1 leg. cit.) und deren Besuch für die Dauer von zwei Jahren unter bestimmten Voraussetzungen verbindlich war (§8 leg. cit.). Die auf Grund dieser Rechtslage eingerichteten hauswirtschaftlichen Fortbildungsschulen blieben auch nach der durch die Verordnung vom 25. Juli 1939, DRGBl. I S. 1337, verfügten Einführung des Reichsschulpflichtgesetzes in Österreich - später als hauswirtschaftliche Berufsschulen - bestehen. Der durch die B-VG-Novelle BGBl. Nr. 215/1962 in Abweichung von der bisherigen Kompetenzrechtslage mit der Regelung der Schulpflicht allein betraute Bundesgesetzgeber (Art14 Abs1 B-VG) fand somit in Vorarlberg auf dem Gebiete des Berufsschulwesens andere Verhältnisse vor als in anderen Bundesländern. Der Verfassungsgerichtshof ist nun der Meinung, daß Art7 B-VG den erst durch eine Kompetenzänderung zur ausschließlichen Regelung der Materie zuständig gewordenen Bundesgesetzgeber zwar verbindet, allein durch die seinerzeitige Kompetenzrechtslage bedingte länderweise unterschiedliche Entwicklungen in Hinkunft hintanzuhalten, ihn jedoch nicht dazu zwingt, die durch die bisherige Entwicklung geschaffenen Unterschiede sofort zu beseitigen. Die Bedachtnahme auf solche ausschließlich historisch bedingten Sonderverhältnisse in einem Bundesland bedeutet nämlich innerhalb eines angemessenen, von vornherein regelmäßig gar nicht genau bestimmbaren Zeitraumes eine Anknüpfung an Unterschiede im Tatsächlichen, die in Ansehung des auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgebotes unbedenklich ist. Besonders im Hinblick auf die hier in Rede stehende Kompetenzänderung vermag sich diese Auffassung auch auf ArtVII Abs2 lita B-VG-Novelle, BGBl. Nr. 215/1962, zu stützen. Diese Bestimmung lautet:
'Soweit Rechtsvorschriften im Sinne des Abs1 auf Grund des §42 des Übergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920 in seiner jeweiligen Fassung durch übereinstimmende Gesetze des Bundes und der einzelnen Länder oder der einzelnen Länder und des Bundes erlassen worden sind, gelten folgende Bestimmungen:
a) Ist in der Angelegenheit, welche die gesetzliche Regelung betrifft, auf Grund des vorliegenden Bundesverfassungsgesetzes die Gesetzgebung Bundessache, so tritt das Landesgesetz außer Kraft. Die Geltung des mit diesem Landesgesetz übereinstimmenden Bundesgesetzes ist von dem außer Kraft tretenden Landesgesetz nicht mehr abhängig.'
Die Anordnung, daß das nach §42 Übergangsgesetz 1920 nur für ein Bundesland ergangene Bundesgesetz durch die verfügte Kompetenzänderung nicht berührt wird, wäre unverständlich, wenn dieses nach den Intentionen des Verfassungsgesetzgebers schon deswegen als mit dem Gleichheitsgebot in Widerspruch stehend qualifiziert werden sollte, weil es eine Sonderregelung für ein Bundesland trifft.
Die in Prüfung gezogene, unter der Überschrift 'Übergangsbestimmungen' getroffene Regelung gilt nur 'bis zu einer anderweitigen Regelung durch Bundesgesetz'. Der Gesetzgeber hat damit zum Ausdruck gebracht, daß er die in Ansehung der Berufsschulpflicht bestehende unterschiedliche Rechtslage in Vorarlberg einerseits und in den übrigen Bundesländern andererseits - jedenfalls soweit sie bloß historisch bedingt ist - nicht auf Dauer aufrechterhalten will. Daß er nicht gleichzeitig auch einen Zeitpunkt für die Vereinheitlichung der Rechtslage festgesetzt hat, entkleidet diese Regelung deswegen nicht ihrer Eigenschaft als Übergangsbestimmung, weil eine solche Festlegung von Entwicklungen abhängt, die im einzelnen nicht vorhersehbar sind. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende von dem dem hg. Erk. Slg. Nr. 4046/1961 zugrunde liegenden Sachverhalt.
Das vom Verfassungsgerichtshof geäußerte Bedenken, daß auch die Anknüpfung an den durch die Gesetze LGBl. Nr. 88/1920 und BGBl. Nr. 74/1929 geschaffenen Zustand die in der geprüften Gesetzesstelle getroffene Unterscheidung nicht zu rechtfertigen vermöchte, erweist sich demnach als unbegründet.
2.2.2. Gemäß §129 Abs2 Schulorganisationsgesetz, BGBl. Nr. 242/1962, hat die hauswirtschaftliche Berufsschule die Aufgabe, Mädchen, die zu ihrem Besuch verpflichtet sind oder sie freiwillig besuchen, in die hauswirtschaftliche Tätigkeit einzuführen und die erworbene Allgemeinbildung zu festigen. Die Vorarlberger Landesregierung hält diese Regelung deswegen für erforderlich, weil ohne sie die Zahl der Frauen, die lediglich über eine allgemeine Pflichtschulbildung verfügen, ungleich höher wäre als die entsprechende Zahl bei den Männern; sie hat dafür statistische Unterlagen vorgelegt, an deren Richtigkeit keine Zweifel entstanden sind.
Der Verfassungsgerichtshof verkennt nicht den bedeutsamen Wandel der Stellung der Geschlechter in der Gesellschaft, der überkommene Vorstellungen von geschlechtsspezifischen Aufgaben in zunehmendem Maße in Frage stellt. Dessenungeachtet aber ist die hauswirtschaftliche Tätigkeit eine Aufgabe, die auch heute noch überwiegend von Frauen ausgeübt wird. Wenn daher der Gesetzgeber zum Zweck der Erhöhung des Bildungsangebotes für Mädchen den Besuch einer Schule, die nach ihrer Zielsetzung auch zur Einführung in die hauswirtschaftliche Tätigkeit bestimmt ist, nicht alle, sondern nur weibliche Jugendliche verpflichtet, so ist das in Ansehung des Art7 B-VG unbedenklich. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes erweisen sich somit auch in dieser Hinsicht als unbegründet.'
c) Der Verfassungsgerichtshof vermeint im Rahmen der hier vorzunehmenden vorläufigen Beurteilung, daß jener Umstand, der die durch §28 des Schulpflichtgesetzes, BGBl. 241/1962, nur für ein einziges Bundesland getroffene bundesgesetzliche Sonderregelung und die dadurch herbeigeführte unterschiedliche Rechtslage in Vorarlberg einerseits und in den übrigen Bundesländern andererseits 'innerhalb eines angemessenen, von vornherein regelmäßig gar nicht genau bestimmbaren Zeitraumes' sachlich zu rechtfertigen vermochte, nämlich die Anknüpfung an den im Zeitpunkt der Schaffung der ausschließlichen Bundesgesetzgebungskompetenz und der darauf gestützten Erlassung dieser Sonderregelung vorgefundenen, länderweise verschiedenen Zustand, heute, also mehr als dreißig Jahre nach dem Inkrafttreten dieser Sonderregelung, hiefür keine sachliche Rechtfertigung mehr abzugeben vermag. Es hat vielmehr den Anschein, daß, da Gesetze nicht nur im Zeitpunkt ihrer Erlassung, sondern jederzeit dem - auch den Gesetzgeber bindenden - Gleichheitsgebot entsprechen müssen (so etwa VfSlg. 9524/1982, 9583/1982, 11048/1986, 11632/1988), eine Regelung, die nur als Übergangsregelung (s. dazu etwa auch die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage 732 BlgNR 9. GP, Zu §28) vor dem Gleichheitsgrundsatz zu bestehen vermag, jedenfalls nach dem Ablauf von mehr als dreißig Jahren seit ihrem Inkrafttreten nicht (mehr) dem Gleichheitsgebot entspricht. Wenngleich nämlich die Anzahl der Frauen, die nur über eine allgemeine Pflichtschulbildung verfügen, in bestimmten Regionen signifikant höher sein mag als die entsprechende Anzahl bei den Männern - es ist in dieser Beziehung etwa an Unterschiede zwischen industrialisierten und nicht industrialisierten sowie zwischen städtischen und ländlichen Gebieten zu denken - so ist doch vorläufig nicht erkennbar, daß in dieser Beziehung zwischen Vorarlberg und den übrigen Bundesländern Unterschiede bestehen, die die hier in Rede stehende, nur als Übergangsregelung verfassungskonforme Sondervorschrift weiterhin sachlich gerechtfertigt erscheinen lassen."
a) Der Verfassungsgerichtshof nahm im Beschluß über die Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens aus folgenden Erwägungen an, daß die Rechtskraft des Erkenntnisses VfSlg. 7461/1974 einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 nicht schlechthin entgegenstehe:
"Der Verfassungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß über bestimmt umschriebene Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nur einmal befunden werden kann und daß eine solche Entscheidung für die gleichen Bedenken (nach allen Seiten hin) Rechtskraft schafft (VfSlg. 12661/1991 mit Hinweisen auf Vorjudikatur).
Wenn nun der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 7461/1974 zum Ergebnis kam, die Bedachtnahme auf die in Vorarlberg auf dem Gebiet des Berufsschulwesens vorgefundenen, ausschließlich historisch bedingten, von den Gegebenheiten in den anderen Bundesländern verschiedenen Verhältnisse habe die getroffene, ausschließlich für das Gebiet des Landes Vorarlberg geltende Regelung (lediglich) für die Dauer eines angemessenen - nicht genau bestimmbaren - Zeitraumes aus der Sicht des Gleichheitsgebotes unbedenklich erscheinen lassen, steht die Rechtskraft dieser Entscheidung einer aus heutiger Sicht zu treffenden Sachentscheidung über das hier umschriebene verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Regelung nicht entgegen.
Wohl aber dürfte das Prozeßhindernis der entschiedenen Sache iS des §19 Abs3 Z2 litd VerfGG in bezug auf das zweite Bedenken vorliegen, über das im Erkenntnis VfSlg. 7461/1974 abgesprochen wurde, wobei der Verfassungsgerichtshof in dieser Hinsicht zur Auffassung gelangte, daß die vom Gesetzgeber getroffene, zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen differenzierende Regelung der Pflicht zum Besuch der hauswirtschaftlichen Berufsschule mit dem Gleichheitsgrundsatz im Einklang steht."
b) Da der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 7461/1974 die in Prüfung gezogene Regelung, soweit sie zwischen Vorarlberg und den anderen Bundesländern differenziert, (lediglich) für die Dauer eines angemessenen - nicht genau bestimmbaren - Zeitraumes als aus der Sicht des Gleichheitsgrundsatzes unbedenklich erkannte, steht nach dem Ablauf von mehr als 30 Jahren (s. dazu unter VI.) einer in dieser Beziehung aus heutiger Sicht vorzunehmenden neuerlichen Prüfung der Gleichheitskonformität dieser Regelung das Prozeßhindernis der entschiedenen Sache selbst dann nicht entgegen, wenn diese Prüfung zu keinem anderen Ergebnis führen sollte.
V. Die Bundesregierung hat im Gesetzesprüfungsverfahren von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand genommen und für den Fall der Aufhebung der in Prüfung gezogenen Gesetzesbestimmung den Antrag gestellt, der Verfassungsgerichtshof möge für das Außerkrafttreten dieser Bestimmung eine Frist von 18 Monaten bestimmen, um die allenfalls erforderlichen legistischen Vorkehrungen zu ermöglichen.
Die Vorarlberger Landesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie die Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Bestimmung verteidigt und dafür eintritt, diese nicht als verfassungswidrig aufzuheben.
Zur Begründung ihres Standpunktes führt die Vorarlberger Landesregierung in der Sache im wesentlichen folgendes aus:
"II.
Im Erkenntnis VfSlg. 7461/1974 hat der Verfassungsgerichtshof anerkannt, daß der durch die B-VG-Novelle BGBl. Nr. 215/1962 für die Gesetzgebung in den Angelegenheiten der Schulpflicht allein zuständig gewordene Bundesgesetzgeber in Vorarlberg auf dem Gebiete des Berufsschulwesens andere Verhältnisse vorgefunden hat als in den anderen Bundesländern.
Diesen Sonderverhältnissen lag eine von den anderen Bundesländern unterschiedliche Entwicklung in Vorarlberg zugrunde. Der Verfassungsgerichtshof vertrat dazu die Auffassung, daß die Bedachtnahme auf diese Sonderverhältnisse in einem Bundesland innerhalb eines angemessenen, von vornherein regelmäßig gar nicht genau bestimmbaren Zeitraumes eine Anknüpfung an Unterschiede im Tatsächlichen bedeutet und daß deshalb die Sonderregelung des §28 des Schulpflichtgesetzes dem Gleichheitsgebot entspricht. Zwar hat der Verfassungsgerichtshof diese Sonderregelung nur als Übergangsbestimmung als verfassungskonform anerkannt, er hat jedoch auch erklärt, daß der Zeitpunkt für die Vereinheitlichung der Rechtslage von Entwicklungen abhängt, die im einzelnen nicht vorhersehbar sind.
Wie unter Punkt III im Detail dargestellt wird, bestehen nach wie vor wesentliche Unterschiede zwischen Vorarlberg und anderen Bundesländern, die auch heute noch eine Beibehaltung der unterschiedlichen Rechtslage auf der Basis einer Übergangsbestimmung rechtfertigen. Es handelt sich dabei um statistisch abgesicherte, also signifikante Unterschiede, insbesondere im Bereich der Bildung, der Frauen-Beschäftigung und der Frauen-Berufstätigkeit. Diese tatsächlichen Gegebenheiten wirken sich auf die beruflichen Möglichkeiten der Frauen in Vorarlberg ganz entscheidend aus. Die bildungspolitische Aufgabe der hauswirtschaftlichen Berufsschulen ist daher auch nach dem Jahre 1974 im wesentlichen dieselbe geblieben.
Unter diesen Voraussetzungen kann die Vorarlberger Landesregierung keine ausreichenden Gründe dafür erkennen, daß von der ständigen Rechtsprechung abgewichen und über eine bereits entschiedene Sache noch einmal befunden wird. Die Gründe, die den Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 7461/1974 bewogen haben, den §28 des Schulpflichtgesetzes nicht als verfassungswidrig aufzuheben, bestehen auch heute noch.
Hinsichtlich des zweiten Bedenkens, über das im Erkenntnis VfSlg. 7461/1974 abgesprochen wurde, geht die Vorarlberger Landesregierung davon aus, daß der Verfassungsgerichtshof im Sinne seiner Ausführungen im Beschluß vom 18. Dezember 1993 und im Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung das Prozeßhindernis der entschiedenen Sache als gegeben erachtet.
III.
In den nachstehend angeführten Punkten werden jene Unterschiede zwischen Vorarlberg und anderen Bundesländern aufgezeigt, die eine Sonderregelung über die hauswirtschaftliche Berufsschulpflicht in Vorarlberg weiterhin als sachlich gerechtfertigt erscheinen lassen. Die Feststellungen stützen sich auf neueste statistische Berechnungen der Landesstelle für Statistik des Amtes der Vorarlberger Landesregierung.
In den Punkten 1 bis 6 und 13 werden noch einmal jene Unterschiede aufgelistet, auf die die Vorarlberger Landesregierung (gemeint: der Landeshauptmann von Vorarlberg) in ihrer Äußerung vom 26. September 1991, Zl. IIa-145-2, näher eingegangen ist, wobei die damals verwendeten Daten aktualisiert wurden. In den Punkten 7 bis 12 werden ergänzend dazu weitere signifikante Unterschiede dargelegt:
1. Die Industrialisierungsquote ist in Vorarlberg wesentlich höher als im Bundesdurchschnitt. Der Anteil der in der Industrie Beschäftigten an der Gesamtzahl der unselbständig Erwerbstätigen betrug in Vorarlberg im Dezember 1993 22,1 %. Im österreichischen Durchschnitt betrug dieser Wert 16,9 % (Anlage I).
2. Der Unterschied zwischen der Industrialisierungsquote der Frauen - das ist der Anteil der in der Industrie beschäftigten Frauen an der gesamten Beschäftigtenzahl der Frauen - in Vorarlberg und im österreichischen Durchschnitt ist noch wesentlich größer. Die Vorarlberger Industrialisierungsquote der Frauen betrug im Dezember 1993 16,7 %. Im österreichischen Mittel waren von allen unselbständig erwerbstätigen Frauen 9,9 % Industriebeschäftigte (Anlage II).
3. Signifikante Unterschiede zwischen Vorarlberg und dem übrigen Österreich können auch bezüglich des Anteiles der Frauen an allen Beschäftigten in der Industrie festgestellt werden. Im Dezember 1993 waren von den in der Industrie Beschäftigten in Vorarlberg 31,5 % Frauen, im österreichischen Durchschnitt waren es 25,2 % (Anlagen I und II).
4. Vergleichbare Unterlagen über das Ausbildungsniveau stehen nach wie vor nur von der Volkszählung 1981 zur Verfügung (Das Österreichische Statistische Zentralamt hat mitgeteilt, daß die Ergebnisse der Volkszählung 1991 erst in den Sommermonaten 1994 veröffentlicht werden). Im Jahre 1981 hatten von der weiblichen Vorarlberger Bevölkerung im Alter von 15 und mehr Jahren 68 % keine weiterführende Schule (Fachschule, höhere Schule, Universität) oder Lehre abgeschlossen, im österreichischen Durchschnitt waren es 62 %. Von den anderen Bundesländern war 1981 das Ausbildungsniveau der Frauen nur im Burgenland noch niedriger als in Vorarlberg (Anlage III).
5. Ein wichtiger Indikator für das Bestehen der Berufsschulpflicht von Mädchen an hauswirtschaftlichen Berufsschulen bildet das unterschiedliche Bildungsniveau der berufstätigen Frauen in Vorarlberg und in den anderen Bundesländern. Auch diese Daten stehen nur aus der Volkszählung 1981 zur Verfügung. Damals waren in Vorarlberg 59 % der berufstätigen Frauen ohne mittleren oder höheren Schulabschluß bzw. ohne Lehre, im österreichischen Mittel betrug dieser Prozentsatz 49 %. Auch dieser Wert ist nur im Burgenland noch ungünstiger als in Vorarlberg (Anlage IV).
6. Seit 1981 hat sich die Situation im Bildungsbereich verbessert. Dies gilt allerdings für alle Bundesländer. Es kann daher mit größter Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, daß die Unterschiede im Ausbildungsniveau der Vorarlberger Frauen gegenüber jenem der Frauen im übrigen Österreich nach wie vor signifikant gegeben sind.
7. Eine unzureichende schulische Ausbildung erhalten in erster Linie ausländische Staatsangehörige. In Vorarlberg ist der Anteil an einzelnen Schulformen sehr hoch. Eine umfassende Erhebung der Mädchen mit fremder Staatsangehörigkeit erfolgte im Rahmen der Schulstatistik 1993/94. An den Schulformen des Pflichtschulbereiches, die unmittelbar auf den Besuch der hauswirtschaftlichen Berufsschule vorbereiten, betragen die Ausländer-Anteile der Schülerinnen:
in Vorarlberg in Österreich
Hauptschulen 20,2 % 10,9 %
Sonderschulen 39,3 % 24,0 %
Polytechnische Lehrgänge 29,4 % 21,8 %
In allen anderen Bundesländern, ausgenommen in der Bundeshauptstadt Wien, sind diese Quoten deutlich niedriger als in Vorarlberg. Es handelt sich hiebei um einen besonders signifikanten Unterschied zwischen Vorarlberg und dem Österreich-Durchschnitt, der eine weitere schulische Ausbildung von Mädchen nach Abschluß von neun Schuljahren in Vorarlberg vordringlich erscheinen läßt. Es ist wichtig, das Ausbildungsniveau der Ausländerinnen, die die Pflichtschule beendet haben, zu verbessern (Anlage V).
8. Der Anteil der Ausländerinnen ist an den hauswirtschaftlichen Berufsschulen wesentlich größer als an allen anderen Schulformen. Im Schuljahr 1993/94 sind von den 462 Schülerinnen 136 Österreicherinnen und 326 Ausländerinnen. Dies entspricht einem Ausländer-Anteil von 71 %. Unter den Ausländerinnen dominieren die Türkinnen mit einem Anteil von über 50 % an allen Schülerinnen dieser Schulform (Anlage VII).
9. Von den unselbständig beschäftigten Frauen in Vorarlberg waren mit Stichtag 31. Dezember 1993 13 % ausländische Staatsangehörige, im gesamten Bundesgebiet betrug diese Quote 7 %. Sie war also um rund die Hälfte niedriger.
In Vorarlberg waren Ende Dezember 1993 folgende Ausländer unselbständig erwerbstätig:
Männer 13.251
Frauen 7.199
Gesamt 20.450
Im gesamten Bundesgebiet waren mit Stichtag 31. Dezember 1993 folgende Ausländer als unselbständig erwerbstätig gemeldet:
Männer 175.338
Frauen 95.737
Gesamt 271.075
Die Ausländer- und Ausländerinnenquoten Vorarlbergs waren unter allen Bundesländern mit Abstand am höchsten.
10. Bei der hauswirtschaftlichen Berufsschule handelt es sich um eine berufsbegleitende Schulform. Von den Schülerinnen der hauswirtschaftlichen Berufsschulen ist aber ein großer Teil arbeitslos. In den vergangenen vier Jahren schwankte die Arbeitslosenquote zwischen 33 % und 67 %. Für diese arbeitslosen Frauen ist es sehr sinnvoll, wenn sie nach Beendigung der Pflichtschule die Weiterbildung im Rahmen der hauswirtschaftlichen Berufsschulen erhalten, wobei zu berücksichtigen ist, daß der Lehrplan auf die gegebene Situation besonders ausgerichtet ist (Anlage VI).
Vergleichsdaten für die anderen Bundesländer können in diesem Zusammenhang nicht ermittelt werden. Es muß jedoch angenommen werden, daß sich in den meisten anderen Bundesländern die Situation von jener in Vorarlberg ganz wesentlich unterscheidet.
11. Die Schülerinnen an den hauswirtschaftlichen Berufsschulen haben zu einem großen Teil die Pflichtschule nicht erfolgreich abgeschlossen. Mit Stichtag 1. Februar 1994 wurde die Vorbildung der Schülerinnen in den ersten Klassen der hauswirtschaftlichen Berufsschulen erhoben. Von den 252 Schülerinnen der ersten Klassen haben nur 26 % einen Polytechnischen Lehrgang besucht, 44 % sind von einer vierten Hauptschulklasse übergetreten oder haben einen anderen gleichwertigen Abschluß erreicht, 11 % kommen von Sonderschulen und 19 % haben die Pflichtschule nicht erfolgreich beendet.
Vergleichbare statistische Daten aus den anderen Bundesländern stehen nicht zur Verfügung, weil hauswirtschaftliche Berufsschulen dort nicht geführt werden. Es muß jedoch festgestellt werden, daß die Situation in Vorarlberg eine weiterführende schulische Ausbildung der Mädchen besonders vordringlich erscheinen läßt. Aus den Daten kann geschlossen werden, daß die Schülerinnen während ihrer Pflichtschulzeit eine unzureichende Ausbildung erhalten haben. Die hauswirtschaftlichen Berufsschulen haben daher eine besonders große pädagogische Bedeutung. Die Auflassung dieser Schulform wäre für Frauen in Vorarlberg mit großen bildungspolitischen Nachteilen verbunden.
12. Die Schülerinnen der hauswirtschaftlichen Berufsschulen üben, soweit sie beschäftigt sind, fast ausschließlich Hilfsberufe allgemeiner Art aus, und zwar 27 % in der Textilbranche, 25 % im Gastgewerbe, 16 % in der Lebensmittelbranche, 12 % als Arztgehilfinnen u.ä., 3 % im Reinigungsdienst und 17 % in anderen Hilfsberufen. Hiebei handelt es sich durchwegs um sehr schlecht entlohnte Berufe, wobei das unzureichende Bildungsniveau von wesentlicher Bedeutung ist.
13. Es gibt eine Reihe weiterer Indikatoren, die eine unterschiedliche Regelung der Schulpflicht für die hauswirtschaftlichen Berufsschulen im Hinblick darauf, daß größere Kinderzahlen und größere Familien vermehrte Kenntnisse in der Führung der Hauswirtschaft verlangen bzw. solche Kenntnisse von erheblichem Vorteil sind, rechtfertigen. Als wichtigste sind zu nennen:
Die Geburtenziffer ist in Vorarlberg deutliche höher als im übrigen Österreich. 1993 betrug sie in Vorarlberg 14,1 Promille, in Österreich 11,8 Promille.
Die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Familie ist in Vorarlberg größer als im übrigen Bundesgebiet. Im Jahre 1992 wurden in Vorarlberg 60,6 % der Kinder in Familien mit mehr als einem Kind geboren, im österreichischen Durchschnitt aber nur 57,8 % (Die Daten für 1993 stehen noch nicht zur Verfügung).
Zusammenfassend kann die unterschiedliche Regelung der Berufsschulpflicht für Mädchen in Vorarlberg und in den übrigen Bundesländern wie folgt begründet werden:
Vorarlberg hat gemeinsam mit Oberösterreich die höchste Industrialisierungsquote aller Bundesländer.
Der Anteil der Frauen, die in der Industrie ihren Arbeitsplatz haben, an der Gesamtzahl der unselbständig erwerbstätigen Frauen ist in Vorarlberg überdurchschnittlich hoch.
Der Anteil der Frauen bei den Industrie-Beschäftigten ist in Vorarlberg unter allen Bundesländern am höchsten.
Der Anteil der Frauen, die nur eine allgemeinbildende Pflichtschule abgeschlossen haben, ist in Vorarlberg unter allen Bundesländern am zweithöchsten.
Der Anteil der Ausländerinnen an der Gesamtzahl der Schülerinnen in Hauptschulen, Sonderschulen und Polytechnischen Lehrgängen ist in Vorarlberg unter allen Bundesländern am zweithöchsten.
Der Anteil der Ausländerinnen ist an den hauswirtschaftlichen Berufsschulen deutlich höher als an allen anderen Schulformen. Es gibt in ganz Österreich keine Schulform, die in irgendeinem Bundesland einen derart hohen Ausländer-Anteil wie die hauswirtschaftlichen Berufsschulen in Vorarlberg aufweist.
Die Schülerinnen der hauswirtschaftlichen Berufsschulen sind im Schuljahr 1993/94 zu zwei Dritteln arbeitslos. Ein Vergleich mit anderen Bundesländern ist nicht möglich. Die Vorarlberg-Daten dürften sich aber signifikant von den Daten der übrigen Bundesländer unterscheiden.
Die Schülerinnen der hauswirtschaftlichen Berufsschulen haben zu 30 % die Pflichtschule nicht erfolgreich abgeschlossen oder besuchten vorher die Sonderschule. Auch diese Daten dürften sich signifikant gegenüber den übrigen Bundesländern unterscheiden.
Die Schülerinnen der hauswirtschaftlichen Berufsschulen üben fast ausschließlich minderqualifizierte Hilfsberufe aus, weil sie unzureichend ausgebildet wurden. Um ihre Berufschancen zu verbessern, ist eine weiterführende Schulpflicht wichtig.
Die Geburtenziffer ist in Vorarlberg unter allen Bundesländern am höchsten.
Die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Familie ist in Vorarlberg deutlich größer als im Bundesdurchschnitt.
IV.
Die unter Punkt III dargestellten Sonderverhältnisse in Vorarlberg zeigen deutlich auf, daß die hauswirtschaftlichen Berufsschulen in Vorarlberg eine wichtige bildungspolitische Aufgabe, die eine starke soziale Komponente aufweist, erfüllen. Die österreichische Bildungspolitik ist auf ein pluralistisches Bildungsangebot ausgerichtet, das sowohl eine Begabtenförderung als auch eine Förderung der leistungsschwachen und sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen umfaßt. Auf der Grundlage des §2 des Schulorganisationsgesetzes, der der Schule nicht nur die Aufgabe des Vermittelns von Wissen und Fähigkeiten, sondern auch der Erziehung und Persönlichkeitsentfaltung der Schüler überträgt, bieten die hauswirtschaftlichen Berufsschulen vielen Jugendlichen, die den Anforderungen einer weiterführenden Schule oder Lehrausbildung nicht gewachsen sind oder die aus familiärem Druck oder aufgrund persönlicher Schwierigkeiten gezwungen sind, mit 15 Jahren schon die Schulbildung zu beenden und oft eine minderqualifizierte Arbeit anzunehmen, eine entscheidende Starthilfe.
Im Schuljahr 1993/94 wären rund 460 Mädchen in Vorarlberg ohne weiterführende Schulausbildung geblieben, wenn die hauswirtschaftliche Berufsschulpflicht nicht bestanden hätte. Das sind etwa 10 % des entsprechenden Geburtsjahrganges. Durch eine Beseitigung dieser Berufsschulpflicht bliebe diesen Mädchen eine weiterführende Ausbildung im 16. und 17. Lebensjahr versagt. Eine Alternative zur hauswirtschaftlichen Berufsschule gibt es nicht.
Ein großer Teil der Schülerinnen der hauswirtschaftlichen Berufsschulen steht der Arbeitswelt hilflos gegenüber oder begegnet ihr mit Gleichgültigkeit. Die Arbeitslosigkeit unter den Schülerinnen ist daher hoch (vgl. Punkt III Z. 10). Aufgabe der Schule ist es in dieser Hinsicht vor allem, die Gefahren einer Randgruppenbildung und eines sekundären Analphabetismus zu vermindern.
Ein großes Problem besteht auch darin, daß viele Schülerinnen, oft bedingt durch ihr soziales Umfeld, in ihrer Persönlichkeitsbildung zurückgeblieben sind. Es wird daher in den hauswirtschaftlichen Berufsschulen der Persönlichkeitsbildung als einem Aspekt der Bildung ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Die Schulen arbeiten eng mit den in Vorarlberg bestehenden sozialen Einrichtungen, die besonders verhaltensauffällige Jugendliche betreuen, zusammen.
Weiters ist festzustellen, daß die hauswirtschaftlichen Berufsschulen als integratives Angebot einen wesentlichen Beitrag bei der Bewältigung der Gastarbeiterproblematik leisten (vgl. Punkt III Z. 7 bis 9). Die Integration in die Gesellschaft und das Berufsleben, die ein Spezifikum dieser Schule darstellt, ist für Ausländer eine existentielle Notwendigkeit. Es gelingt vielfach, das gerade bei Ausländerinnen vorhandene Bildungsdefizit aufzuholen und für die Wirtschaft geeignete Arbeitskräfte heranzubilden. Auch im Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik, die durch die kriegerischen Ereignisse im früheren Jugoslawien entstanden ist, leistet die Schule eine bedeutende Hilfe bei der Integration der jugendlichen Flüchtlinge.
Den aufgezeigten Problemfeldern entsprechend werden folgende, nur demonstrativ angeführte Lehrinhalte und Bildungsziele der hauswirtschaftlichen Berufsschule angeboten:
Hilfestellung bei den Problemen des Eintritts in das Berufsleben (z.B. arbeitsrechtliche Grundlagen, Behördengänge, Streßabbau, Umstellungsschwierigkeiten Schule/Berufsleben);
Vermittlung von Arbeitshaltungen wie Genauigkeit, Durchhaltevermögen, Verantwortung, Pünktlichkeit, Selbständigkeit;
Persönlichkeitsbildung und Hilfestellung für die spätere Familienarbeit;
Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus;
Schulung der Ausdrucksfähigkeit, Teamarbeit, bewußte Lebensführung, Hygiene, Ernährung, Gesundheitspflege, Umgangsformen, Konfliktbewältigung;
Förderung der sozial Schwachen, präventive Maßnahmen gegen soziale Ausgrenzung;
Integration ausländischer Arbeitskräfte;
Bildung in Umweltfragen.
V.
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß zwischen Vorarlberg und den anderen Bundesländern nach wie vor eine Reihe signifikanter Unterschiede bestehen, durch die die vom Verfassungsgerichtshof in Prüfung gezogene Bestimmung des §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 sachlich gerechtfertigt ist. Obwohl es sich um eine Übergangsbestimmung handelt, kann nicht davon ausgegangen werden, daß sie nach dem Ablauf von mehr als 30 Jahren seit ihrem Inkrafttreten jedenfalls nicht mehr dem Gleichheitsgebot entspricht. Der Zeitpunkt für die Vereinheitlichung der Rechtslage kann nicht von einer bestimmten Geltungsdauer dieser Sonderregelung, sondern nur vom Eintritt bestimmter Entwicklungen im Verhältnis zwischen Vorarlberg und den anderen Bundesländern abhängig sein."
VI. Das im Beschluß über die Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens dargelegte Bedenken des Verfassungsgerichtshofes gegen die Verfassungsmäßigkeit des §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 ist nicht zerstreut worden.
1. Die (nunmehr) in §28 des Schulpflichtgesetzes 1985 getroffene, nur für Vorarlberg geltende Regelung über die Pflicht zum Besuch der hauswirtschaftlichen Berufsschule knüpft an den Zustand an, der durch das Vorarlberger Landesgesetz LGBl. 88/1920 und das gleichlautende Bundesgesetz BGBl. 74/1929 geschaffen wurde. Diese "paktierten" Gesetze, die ihre Kompetenzgrundlage in §42 Z3 des Verfassungs-Übergangsgesetzes 1920 hatten, sahen in ihrem §1 die Errichtung von hauswirtschaftlichen Fortbildungsschulen in Vorarlberg vor, deren Besuch gemäß §8 dieser Gesetze unter bestimmten Voraussetzungen für die Dauer von zwei Schuljahren Pflicht war. Auch nach der Einführung des Reichsschulpflichtgesetzes vom 6. Juli 1938, DRGBl. 1938, I
S. 799 (durch die Verordnung vom 25. Juli 1939, DRGBl. 1939, I S. 1337) bestanden diese - später als hauswirtschaftliche Berufsschulen bezeichneten - Schulen weiter, wobei sich die Pflicht zu ihrem Besuch aus den §§8 bis 10 des Reichsschulpflichtgesetzes ergab.
Durch das Bundesverfassungsgesetz, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 hinsichtlich des Schulwesens geändert wird,